ENSI nimmt Stellung zu Kritik von Markus Kühni an Hochwassernachweis

Nach dem Unfall von Fukushima verlangte das ENSI von den Betreibern der Kernkraftwerke in der Schweiz, dass sie den Nachweis für die Beherrschung eines 10’000-jährlichen Hochwassers erneut erbringen müssen. Diese ENSI-Forderung haben die Betreiber erfüllt. Doch Ende September wurde dem ENSI von Markus Kühni vorgeworfen, dass der Nachweis unter Verletzung des nationalen und internationalen Regelwerks nicht erbracht sei. Das ENSI nimmt nun Stellung zur Kritik.

Im Schreiben vom 26. September 2011 an den ENSI-Rat wirft Markus Kühni dem ENSI inhaltlich vor, in seiner Verfügung vom 1. April 2011 unter Verletzung des schweizerischen und internationalen Regelwerkes die beiden folgenden Randbedingungen für den Nachweis der Beherrschung des 10’000-jährlichen Hochwassers vorgegeben zu haben:

  • Interne Notfallschutzmassnahmen können nur kreditiert werden, wenn sie vorbereitet sind, genügend grosse Zeitfenster zur Durchführung vorhanden sind und die dafür erforderlichen Hilfsmittel auch nach einem 10‘000-jährlichen Hochwasser zur Verfügung stehen.
  • Der Nachweis ist basierend auf den für die Rahmenbewilligungsgesuche neu bestimmten Hochwassergefährdungen (unter Berücksichtigung der ENSI-Forderungen aus den entsprechenden Gutachten) zu führen.

Markus Kühni folgert daraus, dass der aufgrund der Ausserbetriebnahmeverordnung geforderte Nachweis nicht erbracht sei und deshalb unverzüglich die Ausserbetriebnahme zu verfügen sei.

Zu den beiden kritisierten Vorgaben hat die Geschäftsleitung des ENSI zu Handen des ENSI-Rats wie folgt Stellung genommen:

1. Kreditierung von vorbereiteten, internen Notfallschutzmassnahmen

M. Kühni wirft dem ENSI vor, mit der Kreditierung von vorbereiteten, internen Notfallschutzmassnahmen für den Nachweis der Beherrschung des 10’000-jährlichen Hochwassers das Konzept der gestaffelten Sicherheitsvorsorge verletzt zu haben. Auslegungsstörfälle müssten allein mit den dafür vorgesehenen, fest eingebauten Sicherheitssystemen beherrscht werden. Mit der Kreditierung von vorbereiteten, internen Notfallschutzmassnahmen würden Massnahmen, welche ausschliesslich für die Linderung von Unfällen vorgesehen seien, als Massnahmen zur Verhinderung von Unfällen akzeptiert.

Der geltend gemachte Grundsatz, wonach Auslegungsstörfälle allein mit fest eingebauten Sicherheitssystemen zu beherrschen sind, kann aus dem Regelwerk der IAEA abgeleitet werden. Der Grundsatz gilt jedoch in seiner strikten Form auch im Regelwerk der IAEA nur für Neuanlagen und muss selbst dort nicht auf das gesamte Spektrum der Auslegungsstörfälle angewendet werden.

Bei Auslegungsstörfällen ist zu unterscheiden zwischen schnell ablaufenden Störfällen wie beispielsweise Verlust von Reaktorkühlmittel oder Störungen der Wärmeabfuhr, die ein rasches automatisiertes Eingreifen von (fest installierten) Sicherheitssystemen erfordern und Störfällen wie beispielsweise der Überflutungsfall, bei denen sich das Schadensbild über längere Zeiträume entwickelt.

Bei den sich langsam entwickelnden Störfällen, insbesondere wenn nicht genau vorhergesagt werden kann, wie sich der Störfall im Detail entwickelt, ist es auch international zulässig (siehe z.B. KTA 2207 oder auch Kapitel 3.3.1 des deutschen Zwischenberichtes zum EU-Stresstest) und zweckmässig, mobile Einrichtungen wie z.B. Feuerwehr- oder Lenzpumpen zur Störfallbeherrschung heranzuziehen.

Auch in der Schweiz sind solche Notfallschutzmassnahmen gemäss der Richtlinie ENSI-A01 bezüglich der Anforderungen an die deterministische Störfallanalyse zulässig. Kapitel 4.4.4 Bst. b besagt bezüglich Auslegungsstörfällen, dass sicherheitsrelevante Handlungen des Betriebspersonals nach dem auslösenden Ereignis berücksichtigt werden können, falls ausreichend Zeit für die Diagnose und die Ausführung der Handlungen zur Verfügung steht.

Die Auffassung des ENSI wird auch durch die diesbezüglichen Anforderungen der IAEA bestätigt. Abschnitt 5.28 der IAEA Safety Requirements NS-R-1 „Safety of Nuclear Power Plants: Design“ hält bezüglich Auslegungsstörfällen fest:

5.28. Where prompt and reliable action is necessary in response to a PIE [1], provision shall be made to initiate the necessary actions of safety systems automatically, in order to prevent progression to a more severe condition that may threaten the next barrier. Where prompt action is not necessary, manual initiation of systems or other operator actions may be permitted, provided that the need for the action be revealed in sufficient time and that adequate procedures (such as administrative, operational and emergency procedures) be defined to ensure the reliability of such actions.

Damit stellt das ENSI fest, dass sowohl das schweizerische Regelwerk als auch die Anforderungen der IAEA vollumfänglich eingehalten sind. Auch das international anerkannte Prinzip der gestaffelten Sicherheitsvorsorge ‑ vom ENSI seit jeher berücksichtigt ‑ ist mit der Vorgehensweise zur Nachweisführung gegen Hochwasser eingehalten: Nicht jede Notfallschutzmassnahme dient der Linderung von Kernschmelzunfällen. Es gibt viele Notfallschutzmassnahmen, die der Verhinderung von Unfällen dienen und nur solche präventive Notfallschutzmassnahmen stehen im vorliegenden Fall zur Diskussion. Die Kreditierung einer präventiven Notfallschutzmassnahme beim Störfallnachweis stellt keine Verletzung des Konzepts der gestaffelten Sicherheitsvorsorge dar.

Das ENSI hat deshalb in seiner Verfügung vom 1. April 2011 gestützt auf Art. 82 KEV die Kreditierung derartiger Notfallschutzmassnahmen mit Einschränkungen zugelassen. Trotzdem sind die für den Ausserbetriebnahmenachweis gestellten Randbedingungen aufgrund der Erkenntnisse von Fukushima insgesamt gesehen verschärft worden (siehe Teil 2).

Alle schweizerischen Kernkraftwerke haben nachgewiesen, dass sie das 10’000-jährliche Hochwasser auch unter den verschärften Randbedingungen beherrschen. Das Kernkraftwerk Mühleberg musste dafür unter anderem die Kühlwasserfassungen in der Aare nachrüsten, so dass nun diverse fest eingebaute Systeme sowie weitere Massnahmen mit mobilen Mitteln zur Beherrschung des 10’000-jährlichen Hochwassers zur Verfügung stehen. Zudem hat das ENSI diese Situation nur für eine befristete Zeit akzeptiert. Bereits am 5. Mai 2011 hatte das ENSI gestützt auf Art. 22 Abs. 2 Bst. g KEG für das Kernkraftwerk Mühleberg die Nachrüstung einer zusätzlichen erdbeben-, überflutungs- und verstopfungssicheren Kühlmittelversorgung für das Notstandsystem gefordert.

Die geltenden Grenzwerte werden von allen Anlagen deutlich eingehalten. Es besteht deshalb keine gesetzliche Grundlage, bei einem der vier schweizerischen Kernkraftwerke die vorläufige Ausserbetriebnahme anzuordnen.

2. Hochwassergefährdung gemäss Rahmenbewilligungsgesuchen

M. Kühni wirft dem ENSI zudem vor, zu geringe und nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechende Gefährdungsannahmen für den Nachweis der Beherrschung des 10’000-jährlichen Hochwassers vorgegeben zu haben. Ferner seien die Lehren aus Fukushima bei der Festlegung der Gefährdungsannahmen nicht berücksichtigt worden.

Das ENSI hat die Randbedingungen für den Nachweis der Beherrschung des 10’000-jährlichen Hochwassers am 1. April 2011 definiert. Sie wurden aufgrund der Lehren aus Fukushima gegenüber der bisherigen Praxis in mehrfacher Hinsicht verschärft:

  • Der Nachweiszeitraum wurde auf drei Tage ausgedehnt. Für diese drei Tage war der Ausfall der externen Stromversorgung zu unterstellen.
  • Während des gesamten Nachweiszeitraumes durften keine externen Notfallschutzmassnahmen berücksichtigt werden.
  • Die Verstopfungssicherheit der Flusswasser-Einlaufbauwerke musste explizit mit deterministischen Methoden nachgewiesen werden.

Der Unfallablauf von Fukushima gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Abflussmengen
oder Pegelstände für schweizerische Hochwasserereignisse falsch bestimmt wurden. Aus der Tatsache, dass die Gefährdung durch Tsunamis in Japan falsch eingeschätzt wurde, kann nicht geschlossen werden, dass die schweizerischen Hochwassergefährdungsannahmen ebenfalls fehlerhaft sind.

In der Schweiz wurden die Abflussmengen der 10’000-jährlichen Hochwässer und die zugehörigen Pegelstände im Zusammenhang mit den Rahmenbewilligungsgesuchen für neue Kernkraftwerke an den Standorten Beznau, Gösgen und Mühleberg im Jahr 2008 nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik neu bestimmt und vom ENSI im Jahr 2010 geprüft und akzeptiert. Die in den Gesuchen verwendeten Daten waren die aktuellsten verfügbaren und geprüften Gefährdungsdaten, als das ENSI nach den Ereignissen in Fukushima die Randbedingungen für die Nachweisführung am 1. April 2011 definierte. Daten und Methoden entsprechen dem Stand von Wissenschaft und Technik.

Die von M. Kühni herangezogene Studie von C. Pfister und O. Wetter zum Hochwasser von 1480 [2] ist erst seit dem 20. August 2011 als Vorabdruck verfügbar. Darin wird eine Schätzung des Abflusses bei Basel angegeben, die Studie liefert jedoch keine Schätzung des Spitzenabflusses der Aare bei Bern oder am Standort des KKM. Wie in der Studie von C. Pfister und O. Wetter richtigerweise vermerkt ist, müssen für eine verlässliche Abschätzung dieser Werte erst weitere klimageschichtlich-hydrologische Untersuchungen durchgeführt werden. Um den Abfluss des Hochwassers von 1480 beim KKM grob abzuschätzen, müsste der Rhein-Abfluss bei Basel (6000-6400 m3/s) um die Summe der Abflüsse der bedeutendsten Nebenflüsse von Rhein und Aare reduziert werden.

Aus der Studie von C. Pfister und O. Wetter geht hervor, dass die weiter stromabwärts von KKM einmündenden Nebenflüsse Emme und Reuss bei besagtem Ereignis Hochwasser führten und dem Ereignis etliche heisse Tage vorausgingen, welche die Schneeschmelze in jenem schneereichen Jahr erst richtig in Gang brachten. Ein bedeutender Teil des bei Basel beobachteten Abflusses stammte deshalb aus Quellen unterhalb des KKM-Standortes. Vor diesem Hintergrund ist es aus Sicht des ENSI plausibel, dass der beim Hochwassernachweis von KKM unterstellte Abfluss beim Ereignis von 1480 deutlich nicht erreicht wurde geschweige denn um das Anderthalbfache überschritten wurde.

Zurzeit liegen keine belastbaren neuen Erkenntnisse vor, aufgrund derer die am 1. April 2011 für KKM vorgegebenen Gefährdungsannahmen grundsätzlich in Frage zu stellen wären. Unabhängig davon unterstützt das ENSI Bemühungen, vertiefte Abklärungen zu historischen Hochwässern durchzuführen. Es beabsichtigt, auch selber Forschungsprojekte zum Thema zu finanzieren. Wenn sich aufgrund neuer Erkenntnisse zeigt, dass die Gefährdungsannahmen revidiert werden müssen, wird das ENSI entsprechende Massnahmen anordnen.


[1] Postulated Initiating Event

[2] C. Pfister und O. Wetter, „Das Jahrtausendhochwasser von 1480 an Aare und Rhein“, Berner Zeitschrift für Geschichte Nr. 04/11