EU-Stresstest bestätigt Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke

Der EU-Stresstest bestätigt erneut den hohen Sicherheitsstandard der Schweizer Kernkraftwerke und die Richtigkeit der bisherigen Massnahmen aufgrund der Erkenntnisse aus Fukushima. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat aber, gestützt auf die Eingaben der Betreiber, acht weitere „offene Punkte“ identifiziert, welche die 37 Prüfpunkte aus der Fukushima-Analyse ergänzen. Klärungsbedarf sieht das ENSI bezüglich Erdbebenfestigkeit des Wohlensee-Staudamms.

„Die Gefährdungsannahmen, die dem Stresstest in der Schweiz zu Grunde gelegt wurden, sind im internationalen Vergleich streng“, hält Rosa Sardella, Leiterin des Aufsichtsbereichs Systeme und des Autorenteams für den Schweizer Länderbericht (PDF, 1.5 MB) fest. Zudem weisen die Schweizer Kernkraftwerke in der Regel Sicherheitsmargen aus, die über die geltenden gesetzlichen Anforderungen hinausgehen.

Die Überprüfung hat bestätigt, „dass die Schweizer Kernkraftwerke über ein sehr hohes Schutzniveau gegen die Auswirkungen von Erdbeben, Überflutung und andere Naturgefahren verfügen, ebenso gegen einen Ausfall der Stromversorgung und der Reaktorkühlung“, heisst es im Schweizer Länderbericht. Mit Blick auf eines der zentralen Probleme, die zur Katastrophe von Fukushima im März 2011 beigetragen haben, unterstreicht Rosa Sardella ein Ergebnis des EU-Stresstests besonders: „Eine grosse Stärke der Schweizer Kernkraftwerke sind die Notstandsysteme, also separater, gut geschützter Systeme, die insbesondere zum Schutz gegen naturbedingte und zivilisatorische externe Ereignisse dienen.“

 

EU-Stresstest bestätigt bisherige Massnahmen

„Der Bericht bestätigt auch die Massnahmen, die das ENSI nach dem Unfall im japanischen Fukushima ergriffen hat“, sagt ENSI-Direktor Hans Wanner. Die Schweizer Aufsichtsbehörde hatte mit Verfügungen vom 18. März, 1. April und 5. Mai 2011 bei den Betreibern der Kernkraftwerke Sofortmassnahmen verfügt und Ende Oktober 2011 im dritten Fukushima-Bericht auf der Grundlage einer vertieften Unfallanalyse 37 Prüfpunkte formuliert.

 

Acht „offene Punkte“ identifiziert

Ergänzend zu diesen bereits eingeleiteten Schritten hat das ENSI im Rahmen des EU-Stresstests aufgrund der Eingaben der Betreiber jetzt zusätzlich acht „offene Punkte“ identifiziert, welche zu weiteren Verbesserungsmassnahmen führen sollen. Davon betreffen drei den Erdbebenschutz, zwei das Notfallmanagement und je einer den Schutz bei Überflutung, extremen Wetterereignissen und Verlust der Stromversorgung.

Zu den „offenen Punkten“ im Bereich des Erdbebenschutzes gehört die Frage, ob in Schweizer Kernkraftwerken im Notfall eine automatische Reaktorschnellabschaltung durch Erdbebenmessgeräte eingeleitet werden kann. Ferner sollen die Schutzhülle, die den Kernreaktor umgibt, das sogenannte Containment, und der Primärkreislauf, in dem das Kühlmittel direkten Kontakt mit dem Kernbrennstoff hat, einer detaillierteren Prüfung hinsichtlich ihrer Widerstandsfähigkeit bei Erdbeben unterzogen werden.

Überdies will das ENSI bei den Kernkraftwerken Gösgen und Leibstadt Massnahmen prüfen, die die seismische Stabilität des Containment-Ventingsystems (Einrichtung zur Abfuhr eines unfallbedingten Überdrucks aus der Schutzhülle, die den Kernreaktor umgibt) verbessern würden.

Im Rahmen des Notfallmanagements will die Aufsichtsbehörde die Stromversorgung der Ventingsysteme bei schweren Unfällen überprüfen, ebenso die Frage, ob die Aufrechterhaltung der Dichtheit des Containments nach einem Ausfall der Stromversorgung (Station Blackout) eine zeitkritische Massnahme darstellt.

Drei „offene Punkte“ betreffen die möglichen Folgen von Verklausungen, also der Verstopfung von Engpässen in Flüssen wie beispielsweise Brücken, Wehranlagen und scharfe Krümmungen, Sicherheitsnachweise zu extremen Wetterereignissen sowie den Einsatz von mobilen Notstromdieseln bei einem Ausfall der Stromversorgung.

Diese fünf offenen Punkte fliessen als Prüfpunkte in den Aktionsplan aus den Lessons Learned von Fukushima vom Oktober 2011 ein. Der Aktionsplan für 2012 zu den Prüfpunkten liegt Ende Januar vor. Die Massnahmen müssen durch die Betreiber der Kernkraftwerke bis 2015 umgesetzt sein.

 

ENSI erlässt Verfügungen

Die Überprüfungen der Betreiber im Rahmen des EU-Stresstest haben aber auch unterstrichen, dass die Sicherheitsmargen in vereinzelten Bereichen relativ knapp bemessen sind. Das hat gemäss der bewährten Schweizer Aufsichtspraxis Konsequenzen: „Dort, wo die Margen knapp oder die Informationen nicht ausreichend sind“, sagt Hans Wanner, „besteht Klärungsbedarf.“ Das ENSI will deshalb nicht abwarten, bis die EU-Sachverständigen den Schweizer Länderbericht (PDF, 1.5 MB) überprüft haben und voraussichtlich im Juni 2012 ihre Empfehlungen präsentieren.

Das ENSI hat deshalb konkrete Verfügungen zur Klärung von drei offenen Punkten erlassen:

1. Alle Schweizer Kernkraftwerke müssen die seismsiche Robustheit der Isolation des Reaktor-Containments neu überprüfen und dem ENSI die Ergebnisse bis am 30. September 2012 einreichen.

2. Über die Systeme der Containmentdruckentlastung kann bei Bedarf der Überdruck im Containment gefiltert abgebaut werden. Es hat sich bei diesen Systemen gezeigt, dass sie teilweise eine geringere Erdbebenfestigkeit aufweisen als die zugehörigen Containments. Das ENSI fordert deshalb die Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt auf, die Erdbebenfestigkeit der Containmentdruckentlastung zu überprüfen und die Ergebnisse der Überprüfung dem ENSI bis zum 30. September 2012 einzureichen. Bis 31. Dezember 2012 sind Massnahmen zur Verbesserungen der Erdbebenfestigkeit des Containment-Druckentlastungsystems vorzuschlagen.

3. Eine weitere Forderung betrifft die Verklausung: die mögliche Verstopfung von Engpässen in Flüssen beispielsweise bei Brücken oder Wehranlagen. Die Kernkraftwerke Gösgen und Mühleberg müssen bis 30. September 2012 Engstellen identifizieren, die bei einer vollständigen Verklausung möglicherweise einen relevanten Einfluss auf die Überflutungssituation ihrer Anlagen haben können. Diese müssen sie im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Anlagensicherheit bewerten.

 

Zusätzliche Angaben zur Erdbebenfestigkeit

Zusätzlichen Klärungsbedarf sieht das ENSI bezüglich Erdbebenfestigkeit des Wohlensee-Staudamms. Das Kernkraftwerk Mühleberg wurde am 1. April 2011 mit einer Verfügung aufgefordert bis zum 30. November 2011 die Erdbebenfestigkeitsnachweise für die Ausrüstungen einzureichen, die für die Beherrschung des 10‘000-jährlichen Erdbebens relevant sind. Dazu zählt auch der Wohlensee-Staudamm. Für diesen wurden keine überarbeiteten Standsicherheitsnachweise eingereicht. Das ENSI verlangt, dass diese bis zum 31. Januar.2012 nachgereicht werden.

Weiter muss das Kernkraftwerk Mühleberg dem ENSI bis 31. Januar 2012 zusätzliche Angaben zur Erdbebenfestigkeit der Reaktorschnellabschaltung liefern.

 

Länderbericht wird von internationalen Experten geprüft

Der EU-Stresstest ist die Antwort der europäischen Staaten mit eigenen Kernkraftwerken auf den Reaktorunfall von Fukushima nach dem Tsunami vom 11. März 2011. Am 1. Juni 2011 hatte das ENSI in einer Verfügung die Betreiber der Schweizer Kernkraftwerke aufgefordert, am EU-Stresstest teilzunehmen. Inhalt und Zeitrahmen hatte die EU-Kommission am 25. Mai 2011 in einer Spezifikation verabschiedet. Geprüft werden sollten folgende Aspekte:

  • Erdbeben
  • Überflutung
  • Extreme Wetterbedingungen
  • Verlust der Stromversorgung und der ultimativen Wärmesenke
  • Notfallmanagement

Die Betreiber haben ihre Berichte innerhalb der Frist bis zum 31. Oktober 2011 beim ENSI eingereicht. Das ENSI hat die Berichte geprüft, zum Länderbericht verarbeitet und fristgerecht am 31. Dezember 2011 der EU-Kommission zugestellt.

Die nationalen Schlussberichte des EU-Stresstests werden nun einer Sachverständigenprüfung unterzogen, dem so genannten Peer-Review-Prozess, an der Experten anderer Mitgliedstaaten und ein Vertreter der EU-Kommission teilnehmen. Die Europäische Kommission wird dem Europäischen Rat bei seiner Tagung Ende Juni 2012 die Endergebnisse vorlegen.

 

Überprüfungen gehen weiter

Mit dem EU-Stresstest ist die Nachbearbeitung der Folgen von Fukushima in der Schweiz noch nicht abgeschlossen. Bis Ende März 2012 müssen die Betreiber Nachweise zur Beherrschung des 10‘000-jährlichen Erdbebens und zur Kombination von Erdbeben und erdbebenbedingtem Versagen der Stauanlagen im Einflussbereich des Kernkraftwerks erbringen. Diesen Sicherheitsnachweisen werden strengere Gefährdungsannahmen als beim EU-Stresstest unterstellt.

Das ENSI wird die Nachweise der Werke überprüfen. Resultate sind bis Ende Juni zu erwarten. „Sollten die Nachweise ergeben, dass die Sicherheit der Bevölkerung gefährdet ist, wird das ENSI das betroffene Kernkraftwerk ausser Betrieb nehmen lassen, sofern dies die Betreiber nicht schon gemacht haben“, hält Hans Wanner fest.