Referenzszenarien für Notfallschutzplanung überprüft

Die Schweizer Notfallschutzpartner verfügen über neue Grundlagen, um die Massnahmen bei einem Störfall in einem Kernkraftwerk planen zu können. Eine breit zusammengesetzte Arbeitsgruppe hat im Auftrag des Bundesrates die bestehenden Referenzszenarien überprüft. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat dazu drei neue Szenarien erarbeitet, die Unfälle wie in Fukushima und Tschernobyl abdecken.

ausbreitung_ensi_IDA_NOMEXDie Auswirkungen eines Reaktorunfalls sind nicht nur von der Menge der freigesetzten Radioaktivität abhängig, sondern auch stark von der Wetterlage. Deshalb hat die Arbeitsgruppe mehrere Szenarien betrachtet und jeweils verschiedene, repräsentative Wetterlagen untersucht.

„Referenzszenarien sollen der realistischen Vorbereitung des Notfallschutzes dienen“, erklärt Georges Piller, Leiter des Fachbereichs Strahlenschutz.

Die Arbeitsgruppe hat daher entschieden, sich auf die Notfallschutzmassnahmen zu konzentrieren und zu untersuchen, welche Massnahmen besser vorzubereiten sind.

„Mit einem Set von Szenarien kann gewährleistet werden, dass sich der Notfallschutz auf eine Bandbreite von Auswirkungen einstellt“, betont Georges Piller.

ENSI hat Szenarien mit schwerwiegenden Auswirkungen analysiert

Das ENSI hatte als Entscheidungsgrundlage für die Arbeitsgruppe eine Palette von Kernschadensszenarien mit ungefilterter Freisetzung analysiert, die wesentlich über das Szenario A2 hinausgehen, das bisher für die Notfallschutzplanung angenommen wurde. Zudem wurden kurze und lange Freisetzungszeiten betrachtet.

Szenarien

Bisherige Referenzszenarien des ENSI

A1 Störfälle ohne Kernschaden; INES ≥2

A2 Störfälle mit Kernschaden und mit gefilterter Freisetzung; INES 4 (bisherige Planungsgrundlage)

A3 Störfälle mit Kernschaden und mit ungefilterter Freisetzung; INES 6

Neue Szenarien für IDA NOMEX

A4 Zehnfache Freisetzung von Halogen- und Aerosolaktivität gegenüber dem Szenario A3; INES 7

A5 Hundertfache Freisetzung von Halogen- und Aerosolaktivität gegenüber dem Szenario A3; INES 7

A6 Tausendfache Freisetzung von Halogen- und Aerosolaktivität gegenüber dem Szenario A3; INES 7

Die Arbeitsgruppe kam unter anderem zum Schluss, dass die drei bisherigen ENSI-Szenarien A1 bis A3 den Risiken in Schweizer Kernanlagen weitgehend gerecht werden. Der Einbezug von Szenarien mit schwerwiegenderen Auswirkungen ist aus Sicht der Arbeitsgruppe jedoch sinnvoll für die Planung von Notfallschutzmassnahmen.

Die Arbeitsgruppe kam zu folgenden Schlüssen

  • Ein zweckmässiger Notfallschutz gründet auf einem massnahmenbasierten Ansatz.
  • Die möglichen Massnahmen unterscheiden sich auch bei schweren Szenarien und ungünstiger Wetterlage – abgesehen von der räumlichen Ausdehnung – kaum.
  • Unfälle in ausländischen Kernanlagen können nicht 1:1 auf schweizerische Verhältnisse übertragen werden, insbesondere dank regelmässigen Nachrüstungen. Aus jedem Katastrophenverlauf lassen sich dennoch Rückschlüsse ziehen.
  • Die drei bisherigen Szenarien werden aufgrund probabilistischer Analysen den Risiken in Schweizer Kernanlagen gemäss ENSI weitgehend gerecht. Der Einbezug von Szenarien mit schwerwiegenderen Auswirkungen ist sinnvoll für die Planung von Notfallschutzmassnahmen.
  • Ausbreitungsrechnungen zeigen, dass bei ungünstigen Annahmen auch in der Zone 3 Notfallschutzmassnahmen erforderlich werden können. Dies betrifft beispielsweise die Einnahme von Jodtabletten und die Alarmierung. In einer späteren Phase kann bei Feststellung von Hotspots auch eine Evakuierung der dortigen Bevölkerung notwendig sein.
  • Die zeitliche Dauer der Freisetzung einer radioaktiven Wolke ist heute mit 1 bis 2 Stunden zu kurz bemessen. Bei Szenarien mit ungefilterter Freisetzung ist von einer Freisetzungsdauer von bis zu 48 Stunden auszugehen.
  • Die Umsetzung des operativen Notfallschutzes für den KKW-Störfall ist weitgehend den Kantonen überlassen. Die Qualität der Vorsorge zeigt ein heterogenes Bild.
Der Bundesrat hatte im Rahmen des Berichts der interdepartementalen Arbeitsgruppe zur Überprüfung der Notfallschutzmassnahmen bei Extremereignissen in der Schweiz IDA NOMEX den Auftrag erteilt, die Referenzszenarien anhand des aktuellen Wissensstandes über die Sicherheitstechnik und die Standortbedingungen der schweizerischen Kernkraftwerke zu überprüfen. Das ENSI hatte für die Überprüfung im Jahr 2012 eine breit zusammengesetzte Arbeitsgruppe einberufen.

Zusammensetzung der Arbeitsgruppe

Die Arbeitsgruppe setzte sich aus Vertreterinnen und Vertretern folgender Organisationen zusammen:

  • Standortkantone (Aargau, Bern, Solothurn)
  • Zone 2-Kantone (Basel-Landschaft, Fribourg/Freiburg, Luzern, Neuenburg, Waadt, Zürich),
  • Zone 3-Kantone (vertreten durch Präsident KPABC)
  • Regierungspräsidium Freiburg i. Breisgau
  • Umweltministerium Baden-Württemberg
  • Bundesamt für Gesundheit BAG
  • Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
  • Bundesamt für Verkehr BAV (Koordination des Verkehrswesens im Ereignisfall KOVE)
  • Bundesamt für Energie BFE
  • Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL
  • Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz
  • Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI
  • Kernkraftwerke

Ende Mai hat das ENSI den Arbeitsgruppenbericht dem Bundesstab ABCN präsentiert. Dieser hat ihn zustimmend zur Kenntnis genommen, den Abschluss der IDA NOMEX Massnahme 14 beschlossen und die weiterführenden Arbeiten in Auftrag gegeben.

Überprüfung des Zonenkonzepts demnächst abgeschlossen

Die Analysen der Arbeitsgruppe haben gezeigt, dass bereits für das Szenario A2 bei ungünstigen Annahmen auch in der Zone 3 Notfallschutzmassnahmen erforderlich werden können. Die Konsequenzen auf das Zonenkonzept müssen im Rahmen der IDA NOMEX-Massnahme 18 zur Überprüfung des Zonenkonzepts behandelt werden. Derzeit läuft die Vernehmlassung des entsprechenden Arbeitsgruppenberichts.