Der Mensch trifft die Entscheidungen

Das ENSI hat sich bei seinen Analysen der Katastrophe in den Kernkraftwerken Fukushima von Beginn an nicht nur mit den technischen Unfallursachen und dem technischen Unfallhergang auseinandergesetzt. Für uns waren in der Analyse zwei zentrale Faktoren zur Beherrschung eines Unfalls ebenso wichtig: der Mensch und die Organisation.

Denn es ist der Mensch, eingebunden in Organisationen, der in einer derartigen Krisensituation die massgeblichen Entscheide zu treffen hat. Ob ein Unfall, wenn er denn passiert, „beherrscht“ werden kann (wenn er also nicht zu einer Kontamination der Umwelt oder einer Exposition der Bevölkerung führt), hängt nicht zuletzt vom „Faktor Mensch“ ab und davon, wie diesem in den jeweiligen Organisationen Rechnung getragen wird.

Dieser bedeutsame Aspekt des Fukushima-Unfalls wurde unseres Wissens bisher von internationalen Organisationen noch wenig beleuchtet.

Unsere Analyse ist nicht in der Absicht verfasst, Kritik an den japanischen Behörden und am Personal in den Kernkraftwerken Fukushima zu üben. Im Gegenteil: Wir haben grossen Respekt vor dem, was die Menschen vor Ort in Fukushima in diesen schier endlosen Tagen und Wochen geleistet haben – unter unvorstellbaren physischen und psychischen Bedingungen.

Die Mitarbeiter mussten kurzfristig Entscheide treffen, von denen sie wussten, dass sie von lebenswichtiger Bedeutung für sie selbst und für die Bevölkerung ausserhalb des Werks sind. Dabei verfügten sie häufig gar nicht über die nötigen Informationen zum aktuellen Zustand der Anlage, weil die wichtigsten Kontrollinstrumente ausgefallen waren.

Gleichzeitig standen sie wahrscheinlich unter Schock, waren in grosser Sorge um ihre Familien draussen in der vom Tsunami verwüsteten Küstenregion. Sie waren übermüdet, hungrig und fühlten sich möglicherweise allein gelassen.

Dass in einer Situation, wie sie in Fukushima nach der Katastrophe herrschte, Fehler passieren, ist unvermeidlich. Entscheidend ist, dass wir daraus lernen, dass wir verstehen, warum, wann und wie solche Fehler entstehen, um diese auf ein Minimum zu reduzieren. Wir müssen verstehen, wie die Menschen und Organisationen in Fukushima während und nach dem Unfall funktioniert haben. Wir müssen daraus die richtigen Schlüsse für unser Notfallmanagement ziehen und entsprechende Massnahmen, z. B. im Bereich Training, psychologische Betreuung und Organisation, umsetzen. Und wir müssen insbesondere auch anstreben, dass die involvierten Organisationen resilient sind, das heisst, dass sie in der Lage sind, auch unter unerwarteten Bedingungen, die Kontrolle aufrecht zu erhalten.

Eine der zentralen Fragen, mit denen wir uns darüber hinaus beschäftigen müssen, betrifft die Sicherheitskultur generell. Fragen nach den zwischenmenschlichen und institutionellen Mechanismen, die in Japan dazu geführt haben, dass man die – im Nachhinein so offensichtlich erscheinenden – Mängel in der Auslegung der Kernkraftwerksanlagen und der Aufsicht nicht schon lange vor der Katastrophe erkannt hat.

Warum wurden die Anlagen in Fukushima nicht besser gegen Tsunamis geschützt, obwohl hätte bekannt sein können bzw. müssen, dass in der Vergangenheit in Japan sehr hohe Tsunamis grosse Zerstörung angerichtet hatten? Warum wurden internationale Empfehlungen zur Verbesserung der Sicherheit in Japan nicht oder nur zögerlich beachtet? Warum wurden Nachrüstungen der Kernkraftwerke, wie sie zum Beispiel in der Schweiz umgesetzt wurden, in Japan nicht realisiert?

Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Die Antworten dürfen sich nicht in einfachen Schuldzuweisungen erschöpfen und sie dürfen nicht zur Distanzierung von den japanischen Betreibern und Behörden instrumentalisiert werden. Wir alle – Betreiber, Behörden, politische Instanzen aller Länder, welche die Kernenergie nutzen – sind in der Pflicht, uns dieselben Fragen immer wieder und insbesondere jetzt, nach Fukushima, zu stellen.

Die Schlussfolgerung ist klar: Es braucht die grundsätzliche Bereitschaft aller Akteure, sich bezüglich der Sicherheit von Kernanlagen kontinuierlich verbessern zu wollen, d. h., auch die Bereitschaft, von Erfahrungen anderer Organisationen zu lernen. Und auch sich selbst immer wieder infrage zu stellen.

Denn Sicherheit ist kein Zustand. Sicherheit ist ein Prozess.