Sicherheit der Schweizer Kernanlagen bei externen Überflutungen

Externe Überflutungen sind Ereignisse, gegen die sich die Schweizer Kernanlagen zu schützen haben. Um diesen Schutz zu gewährleisten, sind die Kernkraftwerkbetreiber verpflichtet, die Gefährdung regelmässig gemäss der Erfahrung und dem Stand von Wissenschaft und Technik zu überprüfen. Gegebenenfalls haben sie Massnahmen zur weiteren Erhöhung der Sicherheit zu ergreifen.

Wasserschloss, Hochwasser 2007
Wasserschloss (AG) während des Hochwassers im August 2007. (Quelle: Aargauer Departement Bau, Verkehr und Umwelt)

Externe Überflutung und deren Auswirkungen sind in der Schweiz von jeher Bestandteil der Sicherheits­analysen. Im Laufe der Zeit gab es mehrere Überprüfungen der zugrunde liegenden Überflu­tungs­annahmen, zum Beispiel im Rahmen der perio­di­schen Sicherheitsüberprüfungen. Die jüngsten Über­prüfungen erfolgten aufgrund der Rahmenbewilligungsgesuche für neue Kern­kraft­werke sowie aufgrund der aus dem Unfall in Fukushima resul­tierenden Verfügungen.

Aus der Verordnung SR 732.112.2 (Verordnung des UVEK über die Gefährdungsannahmen und die Bewertung des Schutzes gegen Störfälle in Kern­an­lagen) folgt, dass

  • das 10’000-jährliche Hochwasser (technisch: der am Standort mit einer Häufigkeit von grösser gleich 10-4 pro Jahr auftretende naturbedingte Hochwasserabfluss) sowie
  • ein allfälliger Damm- oder Wehrbruch durch ein 10’000-jährliches Erdbeben oder Hochwasser

betrachtet werden muss. Damm- und Wehrbruch durch Erdbeben werden in den Sicherheitsanalysen zu den Auswirkungen von Erdbeben betrachtet.

Bestimmung des Abflusses

Externe Überflutungen können in der Schweiz durch natürliche Hochwasserereignisse (Regen, Schneeschmelze, usw.) oder durch das Versagen wasserbaulicher Einrichtungen (Dämme, Wehre) bedingt sein. Sie werden durch die Wassermassen charakterisiert, die pro Zeit an einem bestimmten Standort abfliessen – der so genannte Abfluss.

Natürliche Hochwasser

Ziel ist es, den Abfluss des 10’000-jährlichen Hochwassers zu bestimmen, oder eines Szenarios, welches das 10’000-jährliche Hochwasser abdeckt. Dafür sind die folgenden Ansätze – oder Kombinationen davon – akzeptabel:

Datenauswertung: Die Datenauswertung berücksichtigt in erster Linie die Pegelstände, die in der Schweiz seit ca. 100 bis 200 Jahren systematisch gemessen werden. Darü­ber hinaus werden auch die aus Chroniken bekannten Flutkatastrophen in die Betrachtung einbezogen, welche bis ca. ins 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Eine solche Datenauswertung zeigt das neben­stehende Frequenzdiagramm: Jeweils für die Aare bei Brugg (rot), die Reuss bei Mellingen (blau) und die Limmat bei Baden (grün) werden die Jahres­hoch­wasser ent­­sprechend ihrer Jährlichkeit aufgetragen (dunkle Punk­te). Die heller ein­gezeichneten Punkte stellen Ab­schät­zungen der historischen Hochwasser dar. Mit dieser Fre­quenz­analyse wird ermittelt, wie häufig bestimmte Hoch­­wasser in einer gewissen Zeit auf­treten. Die einge­zei­ch­neten Linien zeigen die Extra­polation auf Abflüsse hoher Jährlichkeit. (Quelle: Rahmenbewilligungsgesuch, RBG, EKKB)

 

Bei historischen Hochwassern ist insbesondere zu beachten, dass sich aufgrund von Erosions- und Auflandungsprozessen im Flussbett sowie allfälliger Verklausungen aus den alten Pegelständen nicht immer ohne weiteres die zugehörigen Abflüsse ableiten lassen. Hinzu kommen zivili­satorische Massnahmen wie Verbauungen, Hoch­was­serschutz­mass­nahmen oder Gewässerkorrekturen, die eine Über­tragung auf die derzeitige Situation erschweren. Bei der „Steinernen Strassenbrücke“ über die Aare in Brugg sind die Voraussetzungen zur Ableitung von Abflüssen günstig, da wegen des felsigen Flussbettes die oben geschilderten Probleme keinen relevanten Einfluss haben. Allerdings ist auch hier zu betrachten, ob Verklausungen eine Rolle spielten. Die nebenstehende Abbildung zeigt die drei Hochwasser­marken von 1852, 1876 und 1881 bei dieser Brücke. (Quelle: RBG EKKB, dort referenziert auf BAFU)

Basierend auf den Messdaten und vorliegenden quantitativen Auswertungen historischer Hochwasser wird eine Gefährdungskurve durch Extrapolation ermittelt. Aus dieser Kurve kann die Intensität (Abfluss) des 10’000-jährlichen Hochwassers abgelesen werden.

 

 

Niederschlagsszenarien: Für Standorte an Flüssen mit grossen Einzugsgebieten werden Nieder­schlags­szenarien Einzugsgebiete von Flüssen in der Schweizmit verschiedenen regionalen Schwerpunkten gebildet. Keinem dieser Szenarien liegen konkrete Niederschlagsmengen zugrunde. Sie basieren vielmehr auf Überlegungen, welche Einzugsgebiete stärker oder schwächer von einem grossräumigen Niederschlagsereignis betroffen sein können. So werden beispiels­weise für die bedeutendsten Nebenflüsse sepa­rate Hoch­was­ser­abflüsse verschiedener Jähr­lich­keit ermittelt und beim Zusammenfluss über­lagert, um Rück­schlüsse auf Hochwasser hoher Jähr­lich­keit zu ziehen. Die nebenstehende Abbil­dung zeigt das Einzugs­gebiet der Aare, wie es für den Standort Beznau relevant ist. Die wichtigsten Nebenflüsse Reuss und Limmat sind farblich hervorgehoben. Hier lässt sich zum Beispiel ein Szenario West (Aare: 10’000-, Reuss: 10’000-, Limmat: 1’000-jährliches Hochwasser) und ein Szenario Ost (Aare: 1’000-, Reuss: 10’000-, Limmat: 10’000-jährliches Hochwasser) bilden. (Quelle: RBG EKKB)

Hydrologische Modellierung: Eine weitere Möglichkeit besteht in der hydrologischen Modellierung eines Einzugsgebietes unter Verwendung eines als abdeckend angenommenen Blockregens. Abdeckend bedeutet in diesem Fall, dass der Blockregen einem Niederschlagsereignis entsprechen soll, dessen Wiederkehrperiode klar über 10’000 Jahre beträgt. Die Zeitdauer des Blockregens ist entsprechend der Charakteristik des Einzugsgebiets zu wählen. Dem so ermittelten Hochwasserszenario kann allerdings keine Jährlichkeit zugeordnet werden. Es kann lediglich festgehalten werden, dass die Eintretenshäufigkeit kleiner als 10-4 pro Jahr ist.

Versagen wasserbaulicher Einrichtungen

Für die Sicherheit von Stauanlagen ist das Bundesamt für Energie (BFE) zuständig. Entsprechend der Richtlinie „Sicherheit der Stauanlagen“ muss nachgewiesen sein, dass bei einem so genannten Sicherheitshochwasser ein totaler oder partieller Damm- bzw. Wehrbruch ausgeschlossen ist. Wenn der Abfluss des für ein Kernkraftwerk zu betrachtenden 10’000-jährlichen Hochwassers geringer ist als der Abfluss des Sicherheitshochwassers einer Stauanlage, so ist ein Bruch dieser Stauanlage aufgrund von Hochwasser nicht zu unterstellen. Ein zufälliges Versagen von wasserbaulichen Einrichtungen (Damm-/Wehrbrüche) unabhängig von Erdbeben und Hochwasser wird zusätzlich betrachtet.

Um zu bestimmen, welche Auswirkungen ein Versagen haben kann, werden in erster Linie die im Einzugsgebiet des Kernkraftwerkstandortes liegenden Talsperren und Wehre betrachtet. Allenfalls sind auch flussabwärts liegende Talsperren und Wehre oder solche an flussabwärts liegenden Zuflüssen zu berücksichtigen. Als abdeckendes Szenario für den Nachweis der Störfallbeherrschung wird der plötzliche („instantane“) und vollständige Verlust der Stauhaltung angenommen. Dies ist abdeckend, da in Wirklichkeit die Wassermassen abhängig von Talsperrentyp (Staumauer, Damm) und Bauweise nicht zwingend vollständig und instantan freigesetzt werden.

Bestimmung von Wasserständen

Mit Überflutungsmodellen werden schliesslich die am Standort resultierenden Überflutungshöhen, Fliessgeschwindigkeiten und Schubspannungen berechnet. Um die Modelle zu überprüfen, können beispielsweise Luftbilder früherer Hochwasser mit den entsprechenden Simulationsresultaten verglichen werden.

Folgende Aspekte können einen wichtigen Einfluss auf die Ergebnisse haben:

  • Bei Wasserkraftwerken müssen in Anlehnung an Dokument /1/ die Turbinen als nicht betriebsbereit angenommen werden. Dadurch muss mehr Wasserdurch die Entlastungsorgane (Wehrfelder usw.) abfliessen, was allenfalls zu einem grösseren Rückstau führt.
  • Treibgut und Geschiebe können bei Hindernissen im Fliessgewässerquerschnitt zu Verklausungen (reduzierter Fliessgewässerquerschnitt durch
    Diese beiden Abbildungen zeigen exemplarisch den Vergleich zwischen den Berechnungsergebnissen (Bild rechts) und den Luftauf­nahmen beim Hochwasser von 2007 unterhalb des Wehrs Winznau/Aare. (Quelle RBG KKN)

    angeschwemmtes Treibgut) führen. Dies zieht einen Rückstau des Flusswassers nach sich. Bricht die Verklausung auf, kann eine Flutwelle entstehen, die sich dem Hochwasser überlagert. Verklausungen von Wehren werden analog zu den Regelungen für die Sicherheit von Stauanlagen dadurch im Modell abgebildet, dass das leistungsfähigste Entlastungsorgan als nicht verfügbar betrachtet wird. Je nach lokalen Gegebenheiten sind allenfalls zusätzliche Entlastungsorgane (z.B. Grundablass) als verklaust anzunehmen. Eine totale Verklausung ist im Rahmen des EU-Stresstests als Sensitivitätsstudie zu betrachten.

  • Die resultierende Überflutungshöhe kann durch Auflandungs- oder Erosionsprozesse der Flusssohlen beeinflusst werden. Diese Prozesse sind deshalb speziell zu untersuchen.
  • Bei Starkregen und Hochwasser besteht die Gefahr von Hangrutschungen. Diese können zu Flutwellen oder Aufstauungen mit Rückwirkungen auf den KKW-Standort führen. Gefährdete Bereiche sind zu identifizieren und mögliche Auswirkungen bei der Hochwasseranalyse zu berücksichtigen.

Mögliche Auswirkungen auf die Anlagen

Folgende Auswirkungen auf die Anlagen sind insbesondere zu untersuchen:

  • Eindringen von Wasser in Bauwerke (auch durch einen Grundwasseranstieg möglich) und daraus resultierende Überflutung sicherheitstechnisch wichtiger Ausrüstungen,
  • Trockenfallen (z.B. durch Bruch des stromabwärts liegenden Wehres/Dammes) oder Verstopfen von Wasserfassungen,
  • Verlust der Standfestigkeit von Bauwerken (Auftrieb, Erosion),
  • Einschränkungen der Zugänglichkeit,
  • Ausfall der externen Stromversorgung,
  • Staudruck und Anprall von Treibgut.

Massnahmen des ENSI

Im Zusammenhang mit den (inzwischen sistierten) Rahmenbewilligungsgesuchen für neue Kernkraftwerke hatten die Gesuchsteller neue Hochwasseranalysen durchgeführt. Die Resultate wiesen darauf hin, dass die Hoch­wasser­ge­fährdung bei den bestehenden Kernkraftwerken Beznau und Gösgen möglicherweise höher ist als ursprünglich angenommen. Das ENSI verlangte deshalb von den Betreibern dieser Kernkraftwerke, dass die Hochwassergefährdung der beiden Werke erneut überprüft wird. Im Rahmen dieser Untersuchungen wurde die Sicherheit der Anlagen gegen Hochwasser bestätigt; es wurden aber auch bereits Verbesserungen vorgenommen.

Infolge des Unfalls in Fukushima verlangte das ENSI im April des Jahres 2011 von allen Schweizer Kernkraftwerkbetreibern, die Hoch­wasser­gefähr­dung erneut zu analysieren. Insbesondere mussten die Betreiber nachweisen, dass sie ein extremes Hochwasser, wie es durchschnittlich alle 10’000 Jahre einmal vorkommen kann, beherrschen. Mit den entsprechenden Studien haben sie in der Folge belegt, dass alle Schweizer Kernkraftwerke in einen sicheren Zustand überführt werden können und die geltenden radiologischen Grenzwerte von allen Werken deutlich eingehalten werden – selbst wenn gleichzeitig die externe Stromversorgung ausfällt.

Bis zum 31. März 2012 haben alle KKW-Betreiber nachzuweisen, dass

  • bei einem 10’000-jährlichen Erdbeben eine unkontrollierte Wasserabgabe aus den die Kernkraftwerke potenziell gefährdenden Stauanlagen deterministisch ausgeschlossen werden kann, oder
  • die Kombination aus Erdbeben und unkontrolliertem Wasserabfluss aus den Stauanlagen im Einflussbereich der Kernkraftwerke deterministisch beherrscht wird. In diesem zweiten Fall ist zu unterstellen, dass die Stauanlagen instantan und vollständig versagen, die von der Flutwelle betroffenen Kühlwasserfassungen ausfallen und keine externe Stromversorgung verfügbar ist (Dokument /2/).

Referenzen:

/1/ Basisdokument zum Nachweis der Hochwassersicherheit, Juni 2008, BFE

/2/ ENSI-Brief „Verfügung: Vorgehensvorgaben zur Überprüfung der Auslegung bezüglich Erdbeben und Überflutung“, 1. April 2011