ENSI kann im Notfall Ausbreitung radioaktiver Stoffe berechnen
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ist für den Ereignisfall gerüstet. Unter anderem ist das ENSI in der Lage, die Ausbreitung von radioaktiven Stoffen nach einem Austritt aus einem Kernkraftwerk in der Schweiz zu simulieren. Diese Ausbreitungsrechnungen werden bei einem schwerwiegenden Störfall in einem Kernkraftwerk eingesetzt, falls mit einer Gefährdung der Bevölkerung gerechnet werden muss.
Mit Hilfe der Ausbreitungsrechnung können einerseits die zuständigen Notfallorgane (insbesondere das ENSI und die Nationale Alarmzentrale NAZ) voraussagen, in welche Richtung sich eine radioaktive Wolke nach dem Austritt aus einem KKW bewegt.
Andererseits soll bei einem Austritt berechnet werden, wann welche Gebiete von einer radioaktiven Wolke erreicht werden. Damit können die Messorgane und Einsatzkräfte gezielt eingesetzt und die Bevölkerung rechtzeitig alarmiert werden, damit sich diese vorsorglich schützen kann.
In der Vorphase, das heisst vor Beginn einer Freisetzung von Radioaktivität, kann nicht auf Radioaktivitätsmessungen in der Umgebung zurückgegriffen werden. Die Gefährdung muss vielmehr mit Hilfe von Modellrechnungen auf Grund der aktuellen Situation in der Anlage und der Wetterbedingungen abgeschätzt werden.
Ausbreitungsrechnungen an Schweizer Verhältnisse angepasst
Bei einem Unfall mit der Gefahr, dass Radioaktivität in die Umgebung austreten könnte, setzt das ENSI das komplexe Modell zur atmosphärischen Ausbreitungsrechnung ADPIC (Atmospheric Diffusion Particle-In-Cell Model) ein. ADPIC berücksichtigt die Topographie und die lokalen Windverhältnisse.
ADPIC erlaubt die direkte Verwendung von 3D-Windfeldern aus dem COSMO2-Modell. Dieses Modell liefert Vorhersagen in höherer räumlicher Auflösung, bis zu 24 Stunden im Voraus. Bei der Verwendung von COSMO2 werden die 3D-Winddaten mit einem einheitlichen Windfeldmodell auf die vom Ausbreitungsmodell benötigten Auflösungen heruntergerechnet.
Das von Lawrence Livermore National Laboratory entwickelte Ausbreitungsmodell ADPIC wurde 1990 bis 1995 im Rahmen einer Modell-Evaluation ausgewählt. Die Evaluation erfolgte auf Grund von Tracer-Experimenten im Raum Gösgen. Dabei wurde die Luft mit einem Stoff angereichert, um die Verfrachtungen messen zu können. Für einen operationellen Einsatz des Modells in der Schweiz waren umfangreiche Anpassungen notwendig, insbesondere bezüglich Online-Meteodaten-Erfassung, dreidimensionale Windfelddaten und Visualisierung der Ergebnisse.
Diagnose und Prognose
Das Ausbreitungsmodell ADPIC ermöglicht im Ereignisfall aufgrund aktueller meteorologischer Daten eine realistische Beurteilung der radiologischen Gefährdung der Bevölkerung. Bei diagnostischen Berechnungen – der Ermittlung einer bereits erfolgten Ausbreitung – werden als Input die gemessenen Daten der operationellen Stationen der MeteoSchweiz verwendet.
Bei prognostischen Berechnungen, also der Vorhersage, wird das Prognosemodell COSMO2 der MeteoSchweiz eingesetzt. ADPIC ist für diagnostische und prognostische Berechnungen für alle Kernanlagen operationell:
- Routinemässige Berechnungen mit einer Einheitsquelle (1 Bq/s Cs-137) werden automatisch rund um die Uhr im Stundentakt und für drei verschiedene Freisetzungshöhen durchgeführt.
- Im Ereignisfall und bei Notfall-Übungen sind störfallspezifische Berechnungen spätestens innerhalb einer Stunde nach der Einsatzbereitschaft der ENSI-Notfallorganisation zu erwarten.
Der Hauptzweck der Routineberechnungen ist die Sicherstellung der dauernden Verfügbarkeit des Systems und die Überwachung der aktuellen Ausbreitungssituation (Prognosen für die nächsten sechs Stunden). Zudem können Routineberechnungen im Ereignisfall für eine erste Beurteilung verwendet werden.
Der Hauptzweck der störfallspezifischen Berechnungen in der Vor- und Wolkenphase ist die Beurteilung der Gefährdung der Bevölkerung in der Umgebung des Kernkraftwerks bei einer bereits erfolgten oder späteren Freisetzung von radioaktiven Stoffen. Die Berechnungen dienen als Grundlage, um das möglicherweise gefährdete Gebiet einzugrenzen und über weitere eventuell notwendige Messungen sowie Massnahmen zum Schutze der Bevölkerung entscheiden zu können.
Weiterentwicklung der Modelle
Das gegenwärtig vom ENSI für die Ausbreitungsrechnungen eingesetzte Programm ADPIC hat im Jahr 2011 seine letzte Ausbaustufe erreicht. ADPIC entspricht dem Stand von Wissenschaft und Technik und wird international anerkannt. Um dem hohen Qualitätsanspruch auch in Zukunft genügen zu können, ist die laufende Weiterentwicklung des Ausbreitungsrechensystems unerlässlich.
Daher hat das ENSI im Januar 2011 das Projekt RADUK (Radiologische Ausbreitungsrechnungen in der Umgebung von Kernanlagen) gestartet, welches die Ablösung und den Ersatz von ADPIC durch ein modernes System verfolgt. Mit Unterstützung der Partnerorganisationen MeteoSchweiz, Nationale Alarmzentrale (NAZ) und weiteren Institutionen im Ausland soll bis Anfang 2015 die europäische Plattform JRODOS in Kombination mit dem Ausbreitungsrechenprogramm LASAT beim ENSI eingeführt werden. Damit sind die Weichen für die nachhaltige Weiterführung eines wichtigen Notfallinstruments gestellt.
Das neue System bietet vor allem eine grössere Reichweite bei den Simulationen und Synergien mit der NAZ, Meteoschweiz und der EU. Hinzu kommen ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis und eine moderne Bedien- und Visualisierungsoberfläche.
Beispiel einer Ausbreitungsrechnung: