ENSI-Direktor im Interview: „Ältere Kraftwerke sind in einem sehr guten Zustand“

Vor allem die früher in Betrieb genommenen Kraftwerke Beznau I, Beznau II und Mühleberg stehen vermehrt in der Kritik. Hans Wanner, Direktor des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI, stand der Schaffhauser az Rede und Antwort zu diesem Thema. Er erklärt, wieso auch ältere Kernkraftwerke in der Schweiz sicher sind und weshalb sich ein Vergleich mit Fukushima lohnt.

„Ältere Kraftwerke sind in einem sehr guten Zustand“
Auch ältere Anlagen sind gemäss ENSI-Direktor sehr sicher. Foto: René Uhlmann

Schaffhauser az: Hans Wanner, seit der nuklearen Katastrophe von Fukushima ist ein Jahr vergangen, und auch in der Schweiz hat ein Umdenken stattgefunden. Welches sind die konkreten Auswirkungen?

Hans Wanner: Die Auswirkungen sind vor allem politischer Natur. Regierung und Parlament haben den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Das heisst, dass man keine neuen Kernkraftwerke mehr bauen will, dass man aber die bestehenden weiterlaufen lässt, solange sie sicher sind. Für uns bedeutete dies, dass wir die Arbeit für die geplanten neuen Kernkraftwerke sofort eingestellt haben. Das mit diesen Projekten beschäftigte Personal haben wir aber vollumfänglich für die Verarbeitung der Ereignisse in Fukushima gebraucht, die noch lange nicht zu Ende ist. Die Alterungsvorgänge, die in den Schweizer Kraftwerken stattfinden, werden seit zwanzig Jahren genau angeschaut. Diese Aufgabe des ENSI, die Aufsicht über die bestehenden Kraftwerke, geht genau gleich weiter.

Das ENSI kommuniziert, dass die Auswertung des Unfalls in Japan die Sicherheit der Anlagen in der Schweiz bestätigt habe. Dennoch wurden Massnahmen zur Optimierung der Sicherheit der Kraftwerke beschlossen. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein. Es ist deshalb kein Widerspruch, weil wir die Sicherheit nicht als Zustand definieren, den man erreichen kann, sondern als Prozess. Gerade in einem solchen Gebiet mit einem sehr hohen Gefährdungspotenzial muss man immer das Beste zu erreichen versuchen. Es gibt Grundanforderungen, welche die Kernkraftwerke per Gesetz erreichen müssen. Zum einen geht es dabei um Alterungsvorgänge, die Versprödung der Reaktordruckbehälter beispielsweise. Das andere ist das Design, die Auslegung der Anlage. Bei Beznau und Mühleberg stammt das Design aus den Sechzigerjahren. Damals hat man beispielsweise ein Kernkraftwerk noch nicht speziell gegen Erdbeben geschützt, und es gab keine gebunkerten Notstandssysteme für die Stromversorgung. Diese wurden in Mühleberg und Beznau schon vor längerer Zeit für hunderte Millionen Franken nachgerüstet. Solche Notstandssysteme waren es, die in Japan ganz schmerzlich gefehlt haben.

Gerade die älteren Kraftwerke stehen immer wieder im Zentrum der Kritik. Die Risse im Kernmantel in Mühleberg sind seit langem bekannt, und Beznau I ist seit kurzem das älteste Kernkraftwerk der Welt. Ein Risiko?

Wir überprüfen diese Anlagen laufend und wissen deshalb, dass sie einen hohen Sicherheitsstandard haben. Für ihr Alter sogar ei­nen sehr hohen, weil sie seit Ende der Achtzigerjahre massiv nachgerüstet wurden, und weil die meisten Anlagenteile, die man ersetzen kann, ersetzt wurden. Das Restrisiko kann man berechnen: Am Ende dieser Rechnung steht die Kernschadenshäufigkeit. Durch Nachrüstungen konnte diese Zahl in Beznau und Mühleberg seit der Inbetriebnahme um mehr als einen Faktor 100 gesenkt werden. Im Gesetz ist ein Höchstwert von statistisch maximal einer Kernschmelze pro 10’000 Jahre festgeschrieben. Beznau und Mühleberg unterschreiten diese Zahl, sind also sicherer, als es die gesetzliche Mindestanforderung vorschreibt. Man muss aber sagen, dass der Standard unserer neueren Kraftwerke, Gösgen und Leibstadt, von den älteren auch mit allen Nachrüstungen nicht erreicht werden kann. Und neu gebaute Kraftwerke wären nochmals eine Grössenordnung sicherer als Gösgen und Leibstadt.

Das Restrisiko würde also kleiner, wenn man die älteren Kraftwerke abschalten würde …

… und durch neue ersetzen, wenn Sie den Strom brauchen wollen (lacht). Ja, je neuer ein Kraftwerk ist, desto sicherer ist es grundsätzlich.

Die alten Anlagen sind relativ klein. Mühleberg beispielsweise trägt nur rund fünf Prozent zum Strommix bei. Es wäre also verschmerzbar, es ohne Ersatz stillzulegen.

Das wäre ein politischer Entscheid. Wir als Sicherheitsbehörde überprüfen nur, ob die Kraftwerke die gesetzlichen Anforderungen einhalten, die übrigens im internationalen Vergleich streng sind.

Welche Massnahmen werden aufgrund der Auswertung der Ereignisse von Fukushima in Schweizer Kernkraftwerken ergriffen?

Wie in Japan ist in Mühleberg und Beznau das Kühlbecken, in dem die abgebrannten Brennelemente lagern, nicht gegen externe Einflüsse wie Erdbeben geschützt, weil man der Auffassung war, dass man, falls die Kühlung unterbrochen wird, rechtzeitig mit Notfallschutzmassnahmen, mit Feuerwehrschläuchen beispielsweise, Wasser in diese Becken spritzen kann. In Fukushima hat das aber nicht geklappt. Deshalb haben wir Beznau und Mühleberg verpflichtet, diese Kühlung speziell gegen externe Einflüsse zu schützen. So gewinnt man aus grossen Unfällen wie in Fukushima, aber auch aus kleinen Zwischenfällen, die in der Schweiz oder anderswo stattfinden, Erkenntnisse, die man umsetzen kann, um die Sicherheit zu verbessern. Ende März müssen die Kern­kraftwerke zudem den Nachweis erbringen, dass sie die Situation nach einem Erdbeben oder einer Kombination aus einem Dammbruch und einem Erdbeben beherrschen, ohne dass es zu einer massiven Freisetzung von Radioaktivität kommt.

Man hat das Gefühl, dass jetzt auf einmal eine Welle von Verbesserungen stattfindet. Heisst das, dass unsere Kraftwerke vorher nicht sicher waren?

Nein, sie waren auch vorher sicher. Wie gesagt: Es gibt Grundanforderungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Kernkraftwerk sicher betrieben werden kann. Die Sicherheit ist aber ein Prozess. Es muss erlaubt sein, sie auf Grund neuer Erkenntnisse weiter zu verbessern, ohne dass man kritisiert wird, vorher nicht genug gemacht zu haben. Das ist ein wichtiger Punkt.

Wagen Sie eine Prognose: Wann gehen in der Schweiz die ersten Kernkraftwerke vom Netz?

Das ist schwer zu sagen. Die Politik setzt ja keine Fristen, sondern erlaubt den Betrieb einer Anlage, so lange sie sicher ist. Diesen Punkt hat das ENSI zu beurteilen. Die Sicherheit eines Kernkraftwerkes ist nur indirekt eine Frage des Alters, sie ist auch davon abhängig, was der Betreiber investiert. Wenn er einen Sicherheitsnachweis nicht mehr erbringen kann, weil wir die Anforderungen hochschrauben, muss er gegebenenfalls abschalten und sich entscheiden, ob er die nötigen Investitionen tätigen oder das Kraftwerk stilllegen will.

Heisst das, ein Kraftwerk läuft theoretisch ewig, wenn der Betreiber jeweils bereit ist, genügend Geld in die Hand zu nehmen?

Es gibt natürlich die Alterungsvorgänge wie Materialermüdung oder die Versprödung des Reaktordruckbehälters, den wohl kein Betreiber jemals ersetzen würde, weil der Aufwand zu gross wäre. Diese Alterungsvorgänge erreichen irgendwann einen Grenzwert, der gesetzlich festgeschrieben ist.

Seit Fukushima kann man die Folgen einer Kernschmelze besser abschätzen. Wie würden diese aussehen, wenn in der Schweiz etwas passiert?

Eine Kernschmelze muss auf jeden Fall vermieden werden. Ein Ereignis wie in Fukushima finde ich absolut inakzeptabel, das darf einfach nicht passieren. Die Anlage war schlicht nicht geschützt gegen eine relativ häufige Naturgefahr, die Tsunamis. Jetzt zur Schweiz: Null Risiko gibt es auch bei uns nie. Die Sicherheitsmassnahmen sind gestaffelt: Zuerst gibt es das Design der Anlage, das in Japan nicht sicher genug war. Es muss vor externen Einwirkungen wie Erdbeben geschützt sein. Dafür müssen die Betreiber in der Schweiz jetzt einen neuen Nachweis erbringen. Wenn die Auslegung im Extremfall nicht ausreicht, gibt es weitere Sicher­heitsvorkehrungen wie Notstromanlagen und eine alternative Wasserquelle zur Kühlung. Eine solche muss Mühleberg jetzt noch installieren. Wenn auf technischer Ebene alle Stricke reissen, kommen die Notfallschutzmassnahmen zum Zug. Das hat in Japan nicht funktioniert, weil man zu wenig vorbereitet war. In der Schweiz haben wir eine deutlich bessere Ausgangslage, die Massnahmen werden regelmässig mit dem Personal geübt. In diesem Punkt ist die Schweiz europaweit ein Vorbild.

Sie gehen also davon aus, dass eine Kernschmelze in der Schweiz weniger grosse Auswirkungen hätte als in Japan?

Ja, eben weil wir so gut vorbereitet sind. Auch wenn die Notfallschutzmassnahmen im Werk im Extremfall nicht genügen, gibt es noch die Massnahmen ausserhalb, bei denen die verschiedenen Behörden gut zusammenarbeiten müssen. Das wurde in der Schweiz bisher vielleicht etwas unterschätzt. Deshalb wird jetzt in einem gross angelegten Projekt überprüft, ob die gesetzlichen Grundlagen und die organisatorischen Massnahmen ausreichen.

In Japan hat vieles nicht funktioniert, die Kommunikation war schlecht und der Betreiberfirma Tepco wird Schlamperei vorgeworfen. Was spricht dafür, dass es in der Schweiz anders laufen würde?

Die Kultur.

Was heisst das?

Japan hat eine ganz andere Kultur. Ich kenne Japan, ich war mehrmals dort und habe an Projekten mitgearbeitet. Für einen Japaner ist es äusserst wichtig, dass er sein Gesicht nicht verliert. Das Problem an dieser Kultur ist, dass man keine Fehler eingestehen kann. Seit Tschernobyl versucht man weltweit, eine bessere Fehlerkultur zu implementieren. Das heisst: Wenn ich einen Fehler mache, den niemand bemerkt, muss ich ihn meinem Vorgesetzten melden, damit auch andere daraus lernen können. Deshalb darf man Fehler nicht bestrafen, weil sie sonst nicht mehr gemeldet werden.

 

(Quelle: Schaffhauser az, Ausgabe vom 8. März 2012)