KNS-Präsident Covelli: „Keine beliebig hohen Sicherheitsniveaus ohne Bezug zur Realität“
Rund ein Jahr nach dem Reaktorunglück in Fukushima hat die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit KNS einen Bericht zu den Folgemassnahmen in der Schweiz publiziert. Im Interview hält Kommissionspräsident Bruno Covelli fest, dass das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI richtig, klar und deutlich gehandelt hat, sich jedoch in einzelnen Punkten mehr Zeit hätte lassen sollen. Er hält zudem fest, dass die Forderungen nach Sicherheit realitätsbezogen sein müssen.
Herr Dr. Covelli, die KNS hat ein Jahr nach dem Reaktorunglück in Fukushima einen Bericht zu den Folgemassnahmen publiziert. Zu welchem Schluss kommt die KNS?
Bruno Covelli: Es gibt keinen endgültig zusammenfassenden Schluss. Wir machen im Bericht sieben Empfehlungen. Das ist unser Schluss.
Für die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke sind in erster Linie die Betreiber zuständig. Wie beurteilen Sie im Speziellen deren Reaktion?
Die Reaktion ist natürlich sehr ruhig gewesen. Sie haben die Aufträge des ENSI ohne grosses Murren entgegengenommen, weil die ersten Verfügungen mehr oder weniger Aspekte betrafen, die sie bereits in vorherigen Studien abgeklärt hatten. Ein paar Dinge tun ihnen sicher weh. Daran arbeiten sie jetzt.
Darf es wehtun?
Diese Frage stellt sich so nicht. Wenn es sicherheitsgerichtet ist, und wenn die notwendigen Sanktionen für die Sicherheit verhältnismässig zur Sicherheit sind, dann soll es wehtun. Aber man kann natürlich nicht jederzeit beliebig hohe Sicherheitsniveaus fordern, die gar keinen Bezug mehr zur Realität haben.
Im Bericht wird auch die Arbeit des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats beurteilt. Zu welchem Schluss sind Sie dabei gekommen?
Grundsätzlich hat das ENSI von den Verfügungen her richtig gehandelt. Wir sind teilweise der Ansicht – gerade bei den ersten zwei, drei Verfügungen -, dass etwas schnell gehandelt wurde, noch bevor man ganz klar gewusst hat, was in Fukushima eigentlich abläuft. Aber grundsätzlich ist das ENSI in der richtigen Richtung gewesen und hat klar und deutlich gehandelt.
Sie haben das Vorgehen beurteilt. Welches Fazit ziehen Sie ein Jahr später bei den Resultaten?
Wir haben alle Verfügungen angeschaut. Bei den meisten Beurteilungen sind wir mit dem ENSI einverstanden. Bei gewissen Nachweisen sind wir der Meinung, dass sie vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen wären, da man die Erkenntnisse schon hatte. Zu gewissen Aspekten geben wir zusätzliche Empfehlungen ab. Ein globales Urteil möchte ich nicht abgeben. Grundsätzlich hat das ENSI aber richtig gehandelt.
Das ENSI kommt nach zahlreichen Überprüfungen zum Schluss, dass die Schweizer Kernkraftwerke sicher sind. Teilen Sie diese Beurteilung?
Wenn das ENSI nicht zu diesem Schluss gekommen wäre, dann wäre die Aufsicht vorher mangelhaft gewesen. Und wenn die KNS nicht überzeugt wäre, dass die Kernkraftwerke sicher sind, dann hätte sie sich schon lange melden müssen. Fukushima kann nicht der Auslöser sein, um festzustellen, ob die Schweizer Kernkraftwerke sicher sind oder nicht. Das wäre der falsche Ansatz.
Trotzdem stellt sich in der Bevölkerung nach einem solchen Ereignis die Frage: Und wie sieht es bei mir zu Hause aus? Ist es denn bei mir zu Hause sicher?
Mit Blick auf das Reaktorunglück von Fukushima muss ich die Frage stellen: Wären die Schweizer Kernkraftwerke für vergleichbare Unfälle gerüstet? Diese Frage hat man jedes Mal, wenn grössere Unfälle passiert sind, beantworten müssen. Ich bin mir jedoch gewohnt gewesen, dass man diese Fragen in aller Ruhe beantwortet hat. Früher hat die Aufsichtsbehörde innerhalb eines Jahres eine Stellungnahme abgegeben und hat geprüft, ob es Zusatzmassnahmen bei den Betreibern benötigt. Nun ist das einfach schneller gegangen.
Aber beim Erdbeben hatten die Betreiber beispielsweise ein Jahr Zeit, um den Nachweis zu erbringen.
Erdbeben ist eine spezielle Sache, weil das PEGASOS-Refinement-Projekt noch nicht abgeschlossen ist. Wir haben uns in der KNS diesem Thema speziell angenommen und mit externen Experten das ganze Vorgehen diskutiert. Wir stützen in dieser Sache die Meinung der ehemaligen Eidgenössischen Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen. Es ist absolut nötig und dringend, dass man die Refinement-Studie abschliesst, damit die Kernkraftwerke und das ENSI über eine gesicherte Auslegungsbasis für Erdbeben verfügen.
Ist für Sie PEGASOS als Vorgehen zur Bestimmung der Erdbebenwerte nach wie vor der richtige Weg?
Ja. PEGASOS ist an und für sich ein guter Ansatz. Aber es ist wissenschaftlich noch so viel offen, dass es schwierig ist, starke Forderungen zu stellen, die bis zum Abschalten einer Anlage führen könnten. Das ist die Kritik am ENSI, dass sie hier zu schnell Forderungen gestellt hat ohne eine saubere wissenschaftliche Basis.
Also hätte das ENSI Ihrer Ansicht nach das Ende des PEGASOS-Refinement-Projekts abwarten und erst dann die Nachweise einfordern sollen?
Das wäre für uns logisch gewesen. Man hätte vielleicht mehr Druck aufsetzen können, damit die Refinement-Studie schneller abgeschlossen wird. Das wäre für uns der bessere Weg gewesen. Es hat keinen Zeitdruck für den Erdbeben-Nachweis gegeben. Das ENSI hat sich den Zeitdruck dafür selber gegeben.
Bei einem SSHAC Level 4-Prozess zur Bestimmung der Erdbebenwerte ist es offenbar sehr heikel, Druck aufzusetzen, weil sonst die Fachleute abspringen.
Das haben wir nicht beachtet, weil das nicht unser Thema ist. Wenn man schon eine ausserordentliche Studie macht wie die PEGASOS-Studie, dann sollte man im Prinzip auch die Resultate der Nachstudie, die Klarheit über die Ausbreitungsmodelle und weitere offenen Fragen verschaffen soll, abwarten. Das hätte für uns eigentlich zwingend dazu gehört, wenn man mit PEGASOS weiter arbeiten will.
Hätte man Ihrer Ansicht nach mit dem Hochwasser-Nachweis ebenfalls warten sollen, bis man die historischen Werte genauer ausgewertet hätte?
Wenn man im Hochwasser weiterkommen will, dann sollte man nicht nur die mathematischen Verfahren und die Daten, die schon vorhanden sind, verbessern, sondern man sollte mit alternativen Methoden probieren, noch präziser zu werden. Die einzige Methode, die sich im Moment anbietet, ist die historische Datenanalyse, wie sie für Basel bereits durchgeführt worden ist. Das lässt sich nicht von heute auf morgen realisieren, sondern muss gezielt und überlegt gemacht werden. Das braucht Zeit. Das ist eine Sisyphus-Arbeit.
Hat man also aus Sicht der KNS von den Betreibern zu einem Zeitpunkt Nachweise verlangt, als es noch keinen Sinn machte? Hätte man besser gewartet, bis neue Grundlagen vorliegen?
Beim Hochwasser haben wir nicht sehr viel dagegen gehabt. Es hat vielleicht auch bessere Erkenntnisse gegeben. Für uns wäre aber der massgebliche Schritt für neue Erkenntnisse bezüglich Hochwasser, zusätzlich andere Methoden anzuwenden. Das Hochwasser ist vom ENSI nicht schlecht angepackt worden. Wir geben einfach eine Empfehlung für den nächsten Schritt ab.
Das ENSI hat den KNS-Bericht mit Interesse aufgenommen und wird die Erkenntnisse daraus in die Aufsichtsarbeit einfliessen lassen. Wie wird sich die KNS in den nächsten Monaten und Jahren in den Prozess für die Sicherheit der Schweizer Kernanlagen einbringen?
Gemäss unserer Verordnung. Wir picken spezielle Themen heraus und schauen diese näher an. Es sei denn, es passiere wieder etwas. In den kommenden Monaten wollen wir, wenn wir Zeit haben, das PEGASOS-Refinement-Projekt genauer anschauen, weil das etwas Akutes wird. Weiter verfolgen wir das Thema Wasserstoff seit Jahren. Das werden wir sicher näher anschauen, denn dort sehen wir noch Handlungsbedarf.
Im Bericht greifen Sie auch das Thema Know-how-Erhalt auf. Durch die politischen Entscheide hat der nukleare Bereich an Attraktivität verloren. Ist die KNS besorgt?
Ja, sehr besorgt. Für den sicheren Betrieb der Kernanlagen ist es eines der wichtigsten Themen, dass man weiterhin die Qualität der Betreiber und die Qualität der Aufsichtsbehörde aufrechterhalten kann. Wir haben in einer Empfehlung ja auch gesagt, dass mit geeigneten Mitteln diese Fähigkeit dauerhaft sichergestellt werden soll.