“Die Bevölkerung hat ein Anrecht auf aktuelle Informationen über die Erdbebensicherheit”
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat als eine der Reaktionen auf das Reaktorunglück in Fukushima von den Schweizer Kernkraftwerken einen neuen Nachweis zur Beherrschung des 10‘000-jährlichen Erdbebens gefordert. Grundlage dafür war ein Zwischenbericht aus dem PEGASOS Refinement Projekt, welches voraussichtlich Ende 2012 abgeschlossen wird. Im Interview erklärt ENSI-Direktor Hans Wanner, weshalb das ENSI entgegen der Ansicht von KNS-Präsident Bruno Covelli mit den Nachweisen nicht zuwarten wollte, bis die Schlussresultate dieses Projekts vorliegen.
Warum hat das ENSI unmittelbar nach Fukushima einen neuen Nachweis zur Beherrschung des 10’000-jährlichen Erdbebens gefordert?
Hans Wanner: Gemäss der schweizerischen Gesetzgebung zur Kernenergie sind die Kernkraftwerksbetreiber bei einem schweren Ereignis in einer Kernanlage im In- oder Ausland verpflichtet, die Auslegung ihrer Anlage zu überprüfen. Dass da nach dem Ereignis in Fukushima Erdbeben und Überflutung dazugehörten, ist selbstverständlich. Wir haben als Aufsichtsbehörde von den Betreibern deshalb verlangt, dass die entsprechenden Nachweise auf der Basis der aktuell zur Verfügung stehenden Erkenntnisse geführt werden muss.
KNS-Präsident Covelli kritisiert diese Forderung an die Kraftwerke als „zu schnell“. Es wäre besser gewesen, erst den Abschluss des PEGASOS Refinement Projekts PRP abzuwarten, welches neue wissenschaftliche Daten zur Erdbebengefährdung in der Schweiz liefern wird.
Unabhängig von der gesetzlichen Verpflichtung für die technische Überprüfung waren und sind wir der Meinung, dass Bevölkerung und Politik nach dem Schock von Fukushima ein Anrecht hatten, so rasch wie möglich zu wissen, wie es aktuell um die Erdbebensicherheit der Kernkraftwerke in der Schweiz steht. Ob nicht ein Werk aufgrund neuer Erkenntnisse aus Fukushima kurzfristig vom Netz genommen werden muss.
Man habe noch gar nicht über eine „saubere wissenschaftliche Basis“ für den Erdbebennachweis verfügt, kritisiert Herr Covelli.
Tatsächlich ist das PEGASOS Refinement Projekt (PRP) noch nicht abgeschlossen und seine Fertigstellung war im Frühjahr 2011 noch nicht klar absehbar. Da wir aber zum damaligen Zeitpunkt wussten, dass erste Teilergebnisse im PRP vorlagen, die von renommierten, unabhängigen Wissenschaftlern erarbeitet wurden, haben wir uns entschlossen, von den Kraftwerksbetreibern eine Zwischenprüfung zu verlangen.
Die Erdbebengefährdung wurde also von den Betreibern selbst bestimmt?
Ja, so will es das Gesetz. In der Schweiz sind die Betreiber der Kernkraftwerke für die Sicherheit ihrer Anlagen verantwortlich. Es gehört deshalb auch zu ihren Aufgaben, die Erdbebengefährdung zu analysieren. PEGASOS und das PRP sind ja Arbeiten, welche die Betreiber bei führenden Wissenschaftlern in Auftrag gegeben haben, um der Forderung des ENSI nach neuen Grundlagen zur Einschätzung der Erdbebengefährdung nachzukommen. Swissnuclear, die federführende Organisation der Betreiber für das PRP, hat den Zwischenbericht, wie vom ENSI verlangt, erstellt. Gemäss Verfügung diente dieser Zwischenbericht den Kernkraftwerken als Grundlage für die neuen Nachweise.
Und diese im Zwischenbericht ausgewiesenen Gefährdungsannahmen waren strenger als die bisher geltenden?
Ja. Die bisherigen, aus den 1970er Jahren stammenden Gefährdungsannahmen waren tiefer. Mit dem Zwischenbericht wurden praktisch alle Parameter weiter verschärft. Jedes Werk hatte detaillierte, strengere Vorgaben zu erfüllen.
Die Werke haben die neuen Erdbebennachweise Ende März fristgerecht eingereicht. Können Sie schon etwas zu den Ergebnissen sagen?
Zurzeit werden die Eingaben der Werke von unseren Spezialisten geprüft. Dass die Betreiber ihre Nachweise eingereicht haben, ist aber schon eine erste Aussage: Das heisst nämlich, dass die Betreiber überzeugt sind, diesen Nachweis erbracht zu haben. Hätten sie Zweifel, hätten sie ihr Werk abstellen müssen. Sollten wir als Aufsichtsbehörde bei der Überprüfung der Eingaben feststellen, dass sich die Werke geirrt haben, würden wir veranlassen, dass das entsprechende Kernkraftwerk sofort vom Netz genommen wird. Bei einer vorsätzlichen Falschangabe macht sich der Betreiber auch strafbar. Sollte das ENSI bei seiner Überprüfung in den nächsten drei Monaten auf einen gravierenden Irrtum stossen, mit dem ein Ausserbetriebnahmekriterium erfüllt ist, wird das Kraftwerk sofort vom Netz genommen.
KNS-Präsident Covelli fordert, dass das PRP jetzt so rasch wie möglich abgeschlossen werden soll.
Ich bin dankbar, dass KNS-Präsident Bruno Covelli diese Forderung stellt, denn auch wir sind daran interessiert, dass das Projekt sobald wie möglich abgeschlossen werden kann. Tatsächliche gehen wir heute davon aus, dass dies bis Ende dieses Jahres der Fall sein wird. Allerdings sollten wir nicht allzu viel zeitlichen Druck ausüben. Die beteiligten Wissenschaftler und Experten haben das Recht und die Pflicht, solange an der Bereinigung der Differenzen zu arbeiten, bis sie sich geeinigt haben. Alle müssen daran interessiert sein, dass dieser Prozess den Regeln der Wissenschaft entsprechend abgeschlossen wird, so dass wir über eine neue, wissenschaftlich belastbare Basis für die neuen Erdbebengefährdungsannahmen verfügen.
Wenn der Schlussbericht des PRP vorliegt: Was geschieht dann?
Das ENSI hat die PRP Studie begleitend überprüft und wird nach Vorliegen des Schlussberichtes eine abschliessende Bewertung vornehmen. Falls das ENSI die Resultate von PRP akzeptiert, wird es auf dieser Basis neue Gefährdungsannahmen festlegen und auf dieser Grundlage den definitiven Erdbebennachweis von den Betreibern einfordern.
Ist das zumutbar? Oder wäre es eben nicht doch richtig gewesen, zuzuwarten wie das die KNS „logisch“ gefunden hätte, um den beträchtlichen Aufwand nicht doppelt machen zu müssen?
Definitiv nein. Der Aufwand ist aus Sicht des ENSI angemessen. Diese Zwischenprüfungen mit gegenüber früher strengeren Vorgaben haben auf alle Fälle viel gebracht. Der Aufwand für die Zwischenprüfung wird dann den Werken auch bei den neuen Nachweisen, die sie voraussichtlich nächstes Jahr erarbeiten müssen, zu Gute kommen.
Und wo steht die Schweiz mit den neuen Erdbebendaten im internationalen Vergleich?
Schon die Erdbebengefährdungsannahmen, auf denen die früheren Nachweise der Schweizer Kernkraftwerke beruhten, waren im Vergleich zum Ausland streng. Mit PEGASOS und PRP geht die Schweiz noch weiter voran und nimmt definitiv einen internationalen Spitzenplatz ein. Es ist die erste und bisher einzige Studie dieser Art in Europa.