Serie Lucens: Die Geburtsstunde des Versuchsatomkraftwerks

In den 1950er Jahren verfolgten in der Schweiz zwei Industriegruppen sowie die Elektrizitätswirtschaft Projekte für den Bau eines Schweizer Kernkraftwerks. Der Bund führte die drei Vorhaben schliesslich in einem nationalen Projekt zusammen: dem Versuchsatomkraftwerk Lucens (VAKL).

Das VAKL galt als Vorstufe für ein in der Schweiz entwickeltes Leistungskraftwerk mit 100-250 MW elektrischer Leistung. Solche Kraftwerke und ihre Nachfolger mit bis zu 600 MW Leistung, so damals die Hoffnung, würden ab den frühen 1970er Jahren den wachsenden Strombedarf des Landes decken, nachdem der Ausbau der Wasserkraft an seine Grenzen stiess.

Im Mai 1962 fällte die Nationale Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik (NGA), die Bauherrin, den Bauentscheid für das VAKL. In den folgenden fünf Jahren wurde die Versuchsanlage zwei Kilometer südwestlich von Lucens am linken Ufer der Broye, die auch das Kühlwasser für den Kernreaktor liefern sollte, errichtet.

Ein 100 Meter langer Zugangsstollen führte zu drei unterirdischen Kavernen für Reaktor, Turbine und Brennstäbe-Lager. Systemlieferant für den Reaktor war Therm-Atom, ein Zusammenschluss diverser Unternehmen der Schweizer Maschinenindustrie. Therm-Atom bildete zusammen mit drei Ingenieurfirmen die Arbeitsgemeinschaft Lucens (AGL), die von der NGA mit der Projektierung, Bauleitung und Erprobung des VAKL betraut wurde.

 

Lucens: Die Geburtstunde des Versuchsatomkraftwerks
Am 1. Juli 1962 erfolgte der Spatenstich zum Bau des VAKL. (Bild: Keystone)
Lucens: Die Geburtstunde des Versuchsatomkraftwerks
Wasserkraftwerke dienten der Inspiration für die unterirdische Konstruktion. (Bild: Keystone)
Lucens: Die Geburtstunde des Versuchsatomkraftwerks
Eingang des 100-Meter-Stollens in die Kaverne. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)
Lucens: Die Geburtstunde des Versuchsatomkraftwerks
Das VAKL wurde logischerweise von innen nach aussen gebaut. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

 

Verstärkte Felskaverne dient als Containment

Technisch gesehen war der VAKL-Reaktor eine Weiterentwicklung des „Diorit“-Reaktors, der 1960 am Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR) in Würenlingen (AG) in Betrieb genommen worden war. Der Lucens-Reaktor nutzte leicht angereichertes Uranmetall als Brennstoff, schweres Wasser als Moderator und Kohlendioxid als Kühlmittel. Die Brennelemente waren nach dem Vorbild englischer und französischer Gas-Graphit-Reaktoren konstruiert: die Stäbe aus Uranmetall steckten in Hüllrohren aus einer Magnesiumlegierung.

Jedes Brennelement war in einem eigenen Druckrohr untergebracht. Diese Konstruktion erlaubte eine kompakte Bauweise des Reaktors mit einem vergleichsweise kleinen Containment. Als Containment diente eine ungefähr 60 Zentimeter dicke Wand aus Aluminium, Asphalt und Beton, mit der die Reaktorkaverne ausgekleidet war.

Die 1960 gegründete Eidgenössische Kommission für die Sicherheit der Atomanlagen (KSA) war die erste Aufsichtsbehörde des Bundes für Kernanlagen und damit eine Vorgängerin des heutigen ENSI. Die KSA begleitete von Beginn weg den Bewilligungsprozess für das VAKL, der sich von Juni 1962 bis Mai 1965 in vier Teilschritten vollzog. Das Versuchskraftwerk in Lucens war für die Sicherheitsbehörde des Bundes eine Herausforderung, denn für den Aufbau des Reaktorkerns und die Gestaltung des unterirdischen Containments gab es nur wenig Erfahrungen, auf die sie hätte zurückgreifen können.

Für ihre Gutachten griff die KSA auf das Fachwissen externer Experten – beispielsweise aus der Bau- und Leittechnik – zurück. Diese Kenntnisse sollten fortan in die Praxis umgesetzt werden.

 

Lucens war eine technische Herausforderung. Bevor das komplexe Projekt daher in die Testphase gehen konnte, bedurfte es einiger Voraussetzungen.

Das ist der zweite von zehn Teilen zur Geschichte des Versuchsatomkraftwerks Lucens. Zum dritten Teil.