Der Milchmann und die 26 Forderungen

Die morgendliche Fahrt ins Büro kann alles andere als eintönig sein: Im Radio läuft gerade die Sendung „Morgenstund hat Gold im Mund“. Ich werde hellhörig, als im alltäglichen Zuhörer-Spiel neben dem Stichwort „Bahnstreik“ plötzlich auch der Begriff „ENSI“ zur Auswahl steht. Dass das ENSI in den Medien ein Thema ist, daran haben wir uns seit Fukushima gewöhnt. Aber im Unterhaltungsteil von Radio SRF 1?

ENSI_Kommentar_HansWanner_Muehleberg_2013Der Hörer am Telefon, Milchmann Walter Thönen aus Frutigen, entscheidet sich für eine Wissensfrage im Zusammenhang mit dem ENSI, das er kennt: „Das ist doch die Aufsichtskommission“ – „Das ENSI sagt“, erläutert der Moderator die Frage, „das AKW Mühleberg erfülle die Sicherheitsbestimmungen bis zum Betriebsende 2019, stellt aber noch 26 Forderungen, welche die Betreiberin erfüllen muss.“

Der Moderator stellt aber nicht die für mich logische Frage „Warum? Wie kann das Werk sicher sein, wenn noch so viele Forderungen zu erfüllen sind?“, sondern bloss: „Wer ist diese Betreiberin?“

Mich hätte viel mehr Wunder genommen, was der Milchmann auf die Warum-Frage geantwortet hätte. Und so habe ich die Telefonnummer des Ladens „Chäs-Eggä“ von Herrn Thönen herausgesucht und ihn angerufen. Als ich ihn erreichte, kam er eben von seiner mehrstündigen Tour über die Bauernhöfe im Raum Frutigen zurück, wo er täglich unter anderem Milch und Milchprodukte austrägt.

Die Warum-Frage hätte ihm Schwierigkeiten bereitet, gesteht er. „Irgendwie unlogisch“ findet es Herr Thönen, dass das ENSI einerseits sagt, das Atomkraftwerk Mühleberg könne bis zur endgültigen Ausserbetriebnahme 2019 sicher betrieben werden, andererseits aber 26 weitere Verbesserungsmassnahmen fordert. Wenn das Kraftwerk tatsächlich sicher sei, dann brauche es doch keine zusätzlichen Massnahmen. Mit dieser Meinung steht er nicht allein. Wir haben in den vergangenen Tagen zur Kenntnis genommen, dass unsere erneuten Forderungen an Mühleberg auch bei verschiedenen Exponenten aus Politik und Medien auf Unverständnis gestossen sind.

Einige unterstellen, dies sei ein Beleg dafür, dass Mühleberg eben doch nicht sicher sei; andere finden, es sei übertrieben, wenn das ENSI die BKW jetzt mit weiteren Forderungen „plage“, obwohl das Kraftwerk doch sicher sei und sowieso 2019 abgeschaltet werde.

Offenbar ist es uns noch immer nicht genügend gelungen, allen das Prinzip der Schweizer Nuklearsicherheit verständlich zu machen.

Hätte das ENSI begründete Zweifel an der Sicherheit eines Kraftwerks, hätte es schon längst dafür gesorgt, dass die Anlage ausser Betrieb genommen worden wäre. Die Kriterien, welche definieren, was „sicher“ ist, stehen im Gesetz.

Lassen Sie mich hier noch einmal unterstreichen: Zurzeit halten alle Schweizer Kraftwerke die auch im internationalen Vergleich sehr strengen gesetzlichen Vorgaben ein. Und zwar nicht einfach nur die Minimalkriterien. Sie verfügen alle über substanzielle zusätzliche Margen.

Und um diese Margen geht es: Die 26 Forderungen, die wir dem Kraftwerk Mühleberg gestellt haben, dienen eben nicht dem (Wieder-)Herstellen der Sicherheit, sondern der Schaffung von zusätzlicher Sicherheit, der Vergrösserung oder zumindest der Wahrung der Marge. Und weil wir im Margenbereich sind, können wir es auch verantworten, den Betreibern die nötigen Fristen zur Umsetzung der zusätzlichen Massnahmen einzuräumen.

Am Ende unseres Telefongesprächs habe ich den Eindruck, dass Herr Thönen meine Erklärungen verstanden hat: Der Entscheid, Mühleberg 2019 vom Netz zu nehmen, entbindet die BKW nicht von der gesetzlichen Pflicht, weiter in die Sicherheit zu investieren. Tatsächlich haben wir auch keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die BKW diese Verpflichtung ernst nimmt und nicht vorhat, Mühleberg „auszufahren“.

Von dem sehr angenehmen Telefongespräch bleibt mir vor allem ein Eindruck haften: Walter Thönen vom „Chäs-Eggä“ nimmt die Entwicklung der Thematik rund um den Atomausstieg zwar weiterhin aufmerksam zur Kenntnis, aber mit einer gesunden Unaufgeregtheit. Dies ist auch ein Zeichen des Vertrauens.

Und der Umstand, dass das ENSI inzwischen ein Thema in einer Unterhaltungsendung ist, zeigt, dass wir bald drei Jahre nach Fukushima wieder zu einer gewissen Normalität in der Frage der friedlichen Nutzung der Atomenergie zurückgekehrt sind. Das Stichwort AKW führt auch in der breiten Schweizer Bevölkerung nicht mehr zu einer Aufwallung der Emotionen oder gar zu lähmenden Ängsten.

Das ist gut so. Aber mein Gespräch mit dem „Milchmann von Frutigen“ hat mir auch deutlich gezeigt, dass es wichtig bleibt, allen Interessierten immer aufs Neue verständlich zu machen, wie und warum wir unsere Entscheide fällen. Vor allem werden wir alles unternehmen, dass alle Kernkraftwerke in der Schweiz bis zum letzten Betriebstag sicher betrieben werden und keine Gefahr für die Schweizer Bevölkerung darstellen.

Übrigens: Herr Thönen wusste selbstverständlich auch die Antwort auf die Frage zum Kernkraftwerk Mühleberg: „Die BKW“.

Ich wünsche allen frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr.

 

Hans Wanner
Direktor ENSI