Artikelserie Tschernobyl: Das Dilemma des Schutzes der Schweizer Bevölkerung

Der Basler Kantonschemiker Martin Schüpbach mit einem Oberflächenkontaminationsgerät bei der Überprüfung von Kopfsalat nach radioaktiver Bestrahlung. (KEYSTONE/Str/1990)
Der Basler Kantonschemiker Martin Schüpbach mit einem Oberflächenkontaminationsgerät bei der Überprüfung von Kopfsalat nach radioaktiver Bestrahlung. (KEYSTONE/Str/1990)

Am. 30. April 1986 registrierten Messstationen in der Schweiz erstmals radioaktive Stoffe aus Tschernobyl. Bereits vor diesem Zeitpunkt war eine Messorganisation bereit, um die Kontamination von Lebensmitteln und Futter zu überwachen. Bis im Frühling 1987 wurden etwa 20‘000 Proben auf Radioaktivität hin untersucht. Die Behörden erliessen Empfehlungen, um die Strahlendosis der Bevölkerung in der Schweizer zu reduzieren.

Als am 28. April 1986 erste Informationen über den Unfall in Tschernobyl im Westen bekannt wurden, war noch unklar, ob die Schweiz von den Freisetzungen auch betroffen sein würde. Noch am 29. April 1986 rechnete man bei der Schweizerischen Meteorologischen Anstalt offenbar nicht mit einem unmittelbar bevorstehenden Eintreffen verseuchter Luftmassen, wie die Neue Zürcher Zeitung im Mai 1986 berichtete. Doch bereits einen Tag später belegten die Messwerte der Stationen in der Schweiz das Gegenteil.

Bereits am 29. April 1986 trat nach dem Unfall von Tschernobyl die für solche Fälle vorbereitete Alarmorganisation mit der damaligen Sektion Überwachungszentrale SUWZ des Bundesamts für Gesundheitswesens (heute die Nationale Alarmzentrale NAZ im Bundesamt für Bevölkerungsschutz) in Zürich in Funktion und wurde durch militärisches Personal verstärkt.

In aller Eile wurde zudem der Armeestabsteil zum Aktivdienst aufgeboten. Während rund sieben Wochen blieben Teile des Stabes im Einsatz und sorgten für die wissenschaftliche Analyse der Messergebnisse, für die Anordnung von Verhaltensmassnahmen und für eine laufende Information der betroffenen Bevölkerung.

Videointerview zu den Massnahmen in der Schweiz

Bernard Michaud, ehemaliger Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit, hat die Detektion der radioaktiven Wolke als Leiter der Sektion Strahlenschutz erlebt. Er kommentiert in diesem Video die Schutzmassnahmen in der Schweiz.


Luftproben wurden mit Sammelgeräten entnommen. Hier ein modernes Bild eines EKUR-Höhenluftfilters am F-5E Tiger II (Quelle: Luftwaffe)
Luftproben wurden mit Sammelgeräten entnommen. Hier ein modernes Bild eines EKUR-Höhenluftfilters am F-5E Tiger II (Quelle: Luftwaffe)

Noch am gleichen Tag begann man in spezialisierten Labors mit der Auswertung von Proben. Die SUWZ wertete laufend alle Informationen und Messergebnisse aus und erstellte Dosisprognosen.

Ein Netz von Laboratorien des Bundes, der Kantone und der Hochschulen im ganzen Land analysierte bis im Frühjahr 1987 rund 20‘000 Proben aller Art (Luft, Niederschläge, Boden, Gras, Pflanzen, Lebensmittel, Importwaren, usw.) auf Radioaktivität.

Auch aus höheren Luftschichten wurden Proben genommen. Dazu wurden Filter ausgewertet, die zuvor an Militärflugzeugen montiert worden waren und auf einer Höhe von 5000 Metern Proben sammelten.

Empfehlungen der Kommission für AC-Schutz

Bei Einsatzbeginn kam die Kommission für AC-Schutz zum Schluss, dass das Dosis-Massnahmen-Konzept anzuwenden sei. Entsprechend wurde trotz der im Allgemeinen bescheidenen Erwartungsdosen von den zuständigen Bundesstellen im Sinne des ALARA-Grundsatzes für alle Bewohner des Landes eine Reihe von Empfehlungen erlassen.

Dosis-Massnahmen-Konzept

Das Dosis-Massnahmenkonzept (DMK) bildet die Grundlage für die Anordnung von Schutzmassnahmen mit dem Ziel, das gesundheitliche Risiko der Bevölkerung bei einem Ereignis mit erhöhter Radioaktivität möglichst klein zu halten.

ALARA-Grundsatz

Der ALARA-Grundsatz ist eine Leitidee des Strahlenschutzes. In englischer Sprache heisst dieses Prinzip as low as reasonably achievable, kurz ALARA (So tief, wie mit vernünftigem Aufwand möglich). Es handelt sich um ein Optimierungsprinzip der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP. Nach diesem Prinzip soll die Strahlenbelastung so niedrig wie vernünftigerweise möglich gehalten werden.

Diese beinhalteten den Verzicht auf den Verzehr von Frischmilch und Frischgemüse für schwangere Frauen, stillende Mütter und Kleinkinder bis Mitte Mai 1986. Salate und Gemüse sollten zudem gründlich gewaschen werden. Für die gleiche Zeitperiode wurde empfohlen, auf den Gebrauch von Zisternenwasser sowie bis im August 1986 auf den Konsum von Schafmilch und Schafkäse aus dem Tessin und den Bündner Südtälern zu verzichten.

Die Einhaltung der Empfehlungen führte denn auch vor allem bei Kleinkindern zu einer Reduktion der Dosis durch Jod-131. Nebst den Empfehlungen sprachen die Schweizer Behörden ein einziges Verbot aus: Vom 3. September 1986 bis am 9. Juli 1988 war die Fischerei auf der schweizerischen Seite des Luganersees untersagt.

Im ersten Jahr nach dem Unfall lag die durchschnittliche Strahlendosis der Schweizer Bevölkerung durch die radioaktive Wolke aus Tschernobyl bei 0,2 Millisievert (mSv). Das entspricht etwa 4 Prozent der mittleren Strahlendosis aus natürlichen und medizinischen Quellen der Bevölkerung in der Schweiz (5,5 mSv).

International unterschiedliches Vorgehen

Der Schutz der Bevölkerung wurde in Westeuropa unterschiedlich gehandhabt. Serge Prêtre, ehemaliger Leiter des Strahlenschutzes der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen HSK, erklärte in einem Interview 2006 mit der französischen Zeitung Le Figaro:

„In der Schweiz haben wir beurteilt, dass die Lage nicht ausreichend gefährlich war, um Verbote zu erlassen. Man hat so unterschiedliche Situationen beobachtet, dass dies retrospektiv eine tragikomische Seite hat. In Deutschland haben die baden-württembergischen Behörden die Zerstörung der Spinatäcker verlangt. In der Schweiz haben wir empfohlen, frische Spinate gut zu waschen.“

Im Rahmen einer Tagung im Oktober 1986 zogen die Verantwortlichen eine positive Bilanz. Das Dosis-Massnahmen-Konzept habe sich bewährt. Otto Huber, Präsident der Kommission für AC-Schutz, und Werner Zeller vom Bundesamt für Gesundheitswesen hielten gemäss einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung NZZ aber auch fest, dass es oft schwierig gewesen sei, weil keine Massnahmen zu treffen genauso verantwortungsvoll sei, wie etwas zu tun.

Das ist der vierte von sechzehn Teilen zur Geschichte des Unfalls Tschernobyl.