Artikelserie Tschernobyl: Kritik an der Information der Schweizer Bevölkerung
Nachdem erste Meldungen zum Unfall in den Schweizer Medien erschienen waren, wurden die Experten der Behörden aufgrund der Öffentlichkeitsarbeit stark beansprucht. Sie erledigten diese Aufgabe neben ihrer fachlichen Arbeit. Ein Sorgentelefon wurde eingerichtet, um Fragen aus der Bevölkerung zu beantworten.
Als am 28. April 1986, zwei Tage nach dem Unfall, erste Informationen in den Medien auftauchten, waren diese noch sehr vage. In den ersten Berichten, die von der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass übernommen wurden, hiess es lediglich, dass einer der Reaktoren in Tschernobyl beschädigt worden sei. Über Zeitpunkt und Ausmass schwieg sich die Nachrichtenagentur aus. Auch in den folgenden Tagen informierten die sowjetischen Behörden und Medien nur sehr zurückhaltend über das Ereignis in der Ukraine, die damals zur Sowjetunion gehörte.
Dies wurde von den westlichen Staaten stark kritisiert. Am 30. April 1986 überreichte Staatssekretär Edouard Brunner dem sowjetischen Botschafter in der Schweiz, Iwanowitsch Ippolitow eine offizielle Erklärung, in der die Schweizer Landesregierung ihr Erstaunen und Bedauern zum Ausdruck brachte, dass die sowjetischen Behörden vier Tage verstreichen liessen, ehe sie die interessierte internationale Öffentlichkeit informierten.
Bundesrat verlangt Transparenz
In der Schweiz sollte die Bevölkerung von Anfang an so transparent wie möglich informiert werden. Bundespräsident Alphons Egli beauftragte die Einsatzgruppe der Nationalen Notfallorganisation, die Bevölkerung sachlich zu informieren. Überlegungen zu den wirtschaftlichen Folgen des Unfalls mussten dabei nicht berücksichtigt werden.
In regelmässigen Pressmitteilungen informierten die Behörden über die radiologische Lage in den verschiedenen Regionen, die Messungen und die Kontamination der Nahrungsmittel. Die Information der Behörden diente schliesslich auch dazu, die Empfehlungen zur Reduktion der Strahlendosis bekannt zu geben.
Einsatz von Experten
Bundespräsident Alphons Egli informierte zusammen mit dem Präsidenten der Kommission zur Überwachung der Radioaktivität die Presse bei verschiedenen Lagebeurteilungen. Die Experten der Behörden standen zudem den Schweizer Medien Red und Antwort. Eine Herausforderung war es, Fakten zu dieser ausserordentlichen Situation darzulegen, ohne die Bevölkerung unnötig zu verunsichern.
Videointerview zur Krisenkommunikation
Bernard Michaud, ehemaliger Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit, hat die Detektion der radioaktiven Wolke als Leiter der Sektion Strahlenschutz erlebt. Er erklärt in diesem Video, wie die Krisenkommunikation geführt wurde.
Ernst Elmer, stellvertretender Chef der Sektion Strahlenschutz beim Bundesamt für Gesundheit BAG, erklärte in der Zeitung Corriere del Ticino vom 7. Mai 1986 die Informationsstrategie: „Wir wollten auf jeden Fall von Anfang an die Öffentlichkeit beruhigen. Es konnte zwar eine gewisse Verunsicherung entstehen, beispielsweise wenn der Strahlenpegel anhand verschiedener Messparameter angegeben wurde. (…) Das Einzige was zählt, ist der Bevölkerung eine korrekte, sachliche und ausgewogene Information zu liefern.“
Frühe Kritik an der Informationspolitik
Es zeigte sich schnell, dass die Kapazitäten fehlten, um alle Fragen zu beantworten. Am 7. Mai 1986 schrieb der Tages-Anzeiger: „Das Bundesamt für Gesundheit in Bern und die Nationale Alarmzentrale sind zum Teil von Anfragen besorgter Eltern völlig überschwemmt worden. Die Fachleute wurden in den letzten Tagen während Stunden von ihrer Arbeit abgehalten, weil sie Fragen beantworten mussten, wie zum Beispiel: „Darf man Spargeln aus Frankreich essen.“ Ein Sorgentelefon wurde eingerichtet. Die besorgten Bürger konnten diese Stelle kontaktieren, um Antworten zu erhalten. Gemäss verschiedener Medienberichte war diese Stelle ebenfalls ausgelastet.
Es wurde damals klar, dass die von den Experten benutzten verschiedenen Einheiten für die Messung der Radioaktivität für Verwirrung sorgten. Die Zeitung Der Bund schrieb dazu in seiner Ausgabe vom 7. Mai 1986: „Gerade bei einer kaum fassbaren Bedrohung, wie der Verstrahlung durch radioaktive Stoffe, müssen die Fachleute, wenn sie Daten bekanntgeben, diese auch verständlich kommentieren.“
Tschernobyl war ein „Lehrblätz“
Selbstkritisch gab sich rund zwei Wochen nach dem Unfall auch Bundespräsident Alphons Egli. In einem Interview mit dem Sonntagsblick sagte er: „Tschernobyl war für uns ein ‚Lehrblätz‘.“ Bei einem zweiten derartigen Unfall würde die Landesregierung das Sorgentelefon für die Bevölkerung früher und zugänglicher einrichten. Er gestand im Interview zudem, dass er als Bundespräsident am Fernsehen eine Ansprache habe halten wollen. Als er die anderen Regierungsmitglieder und den Bundeskanzler um Rat gefragt habe, hätten jene, die er erreicht habe ihm aber vehement davon abgeraten, da man eine Panik in der Bevölkerung befürchtet habe.
Auch Ulrich Imobersteg, Nachfolger von Otto Huber als Präsident der Kommission für AC-Schutz, bezeichnete ein Jahr nach dem Unfall in Tschernobyl die Information gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung als schlecht. Grund sei das Fehlen einer Informationszentrale gewesen, die dafür gesorgt hätte, dass alle Fachleute, die durch Medien und Private um Informationen angegangen wurden, denselben Wissensstand hatten. So sei es zu scheinbar widersprüchlichen und damit verwirrenden Aussagen gekommen.
In seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage hielt der Bundesrat 2002 zur Informationspolitik der Schweiz nach dem Unfall in Tschernobyl fest: „Im Gegensatz zu Frankreich hat die Schweiz das Ausmass der Verseuchung im Jahre 1986 nicht heruntergespielt, und in allen betroffenen Regionen wurden Vorsichtsmassnahmen getroffen.“
Mit Inkrafttreten des Strahlenschutzgesetzes im Jahre 1994 wurden die Rollen bei der Information geklärt: Die Einsatzorganisation musste nun die Öffentlichkeit bei einem Ereignisfall informieren. Die Botschaft zum Strahlenschutzgesetzes hielt diesbezüglich fest: „Die Information der Bevölkerung und der Medien obliegt nun in allen Fällen der Informationszentrale der Bundeskanzlei, die auch für die detaillierte Information der Kantone verantwortlich ist. Damit kann einer im Zusammenhang mit der Katastrophe von Tschernobyl vielfach geäusserten Forderung nach rascher und einheitlicher Information Rechnung getragen werden.“
Das ist der fünfte von sechzehn Teilen zur Geschichte des Unfalls Tschernobyl.