Artikelserie Tschernobyl: Die Schweiz zieht die Lehren für ihre Notfallorganisation

Spürhelikopter der Armee ergänzten die Messorganisation (Bild: Luftwaffe)
Spürhelikopter der Armee ergänzten die Messorganisation (Bild: Luftwaffe)

Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl hat der Bundesrat für die Abklärung der Gefährdung der Bevölkerung eine neue Einsatzorganisation geschaffen, die bei erhöhter Radioaktivität aktiv wird. Bei einem Unfall in einem Kernkraftwerk müsste sie insbesondere die verschiedenen Messequipen und -systeme koordinieren. Dazu zählen die Messnetze zur Überwachung der Radioaktivität, Spürhelikopter und Messwagen.

Bereits vor dem Unfall in Tschernobyl war die Überarbeitung der Strahlenschutzgesetzgebung gestartet worden. Man liess auch die Erkenntnisse aus dem Unfall in die laufende Überarbeitung einfliessen. Die darauf basierende Verordnung vom 15. April 1987 über die Einsatzorganisation bei erhöhter Radioaktivität legte fest, dass der Bundesrat den Aufbau und die Struktur der Einsatzorganisation regeln sollte.

Struktur der Einsatzorganisation

Ein leitender Ausschuss Radioaktivität LAR sollte die gesamte Einsatzorganisation führen. Diese umfasste zudem einen Stab Gesundheitsschutz bei erhöhter Radioaktivität (GERA) sowie weitere Stellen und Mittel.

Zu diesen Stellen gehörten beispielsweise die Alarmorganisation Zürich – die so genannte Alarmstelle des Bundes bei der Schweizerischen Meteorologischen Anstalt (ARMA), die Sektion Überwachungszentrale (SUWZ) und ihr Pikett, Armeestabsteil Nationale Alarmzentrale (Astt NAZ).

Der Stab GERA sollte vor allem die gesundheitlichen und strahlenbiologischen Probleme behandeln.

Ergänzung der Messsysteme

Die Erfahrungen aus Tschernobyl hatten gezeigt, dass insbesondere in der ersten Phase (ca. 2 Tage), bis die Probenahmeorganisation und die entsprechenden Labors eingerichtet sind, die Messwagen eine wesentliche Aufgabe zu übernehmen haben.

Die Messwagen mussten in der ersten Phase eine wesentliche Aufgabe übernehmen (Quelle: Labor Spiez)
Die Messwagen mussten in der ersten Phase eine wesentliche Aufgabe übernehmen (Quelle: Labor Spiez)

Es wurde nach dem Unfall festgestellt, dass die Einsatzorganisation in der Schweiz kurzfristig auf vier Messwagen zurückgreifen konnte. Diese gehörten

  • zum Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung EIR,
  • zur Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen HSK,
  • zum Labor der Kommission zur Überwachung der Radioaktivität KUeR und
  • zum Institut de radiophysique appliquée IRA in Lausanne.

Je ein Messwagen befand sich in Freiburg und Lausanne, zwei in Würenlingen. Sie waren innerhalb von rund einer Stunde einsatzbereit.

Die Messequipen des AC-Schutzdienstes und die Spürhelikopter der Armee ergänzten diese Messorganisation.

Um die Kapazitäten der Messequipen bei einem Unfall in der Schweiz zu verstärken, forderte die ehemalige Aufsichtsbehörde HSK 1988 die Betreiber auf, die Bereitstellung von je einer Messequipe einer nicht betroffenen Anlage abzuklären. Diese Messwagen können heute durch die Notfallorganisation eingesetzt werden.

Nadam-Messnetz
Nadam-Messnetz

Messnetze

Ein schweizweites automatisches Messnetz zur Überwachung der Radioaktivität wurde installiert. Zum Zeitpunkt des Unfalls befand sich das Netz für automatische Dosisalarmierung und -messung NADAM noch im Aufbau. Elf Sonden waren in Betrieb. Sechs Frühwarnposten überwachten dauernd die Radioaktivität in der Luft. Beim Erreichen von festgelegten Alarmschwellen wurde die Nationale Alarmzentrale NAZ automatisch informiert. Heute umfasst das NADAM-Messnetz 66 fest installierte Sonden. Sie übermitteln alle 10 Minuten den aktuellen Messwert an die NAZ.

Seit dem Frühling 1994 betreibt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI das Messnetz zur automatischen Dosisleistungsüberwachung in der Umgebung der Kernkraftwerke MADUK. Die ganzjährig rund um die Uhr erhobenen Messwerte dienen der Beweissicherung für die Behörden und gegenüber der Öffentlichkeit. Ebenso ermöglicht es das Erkennen von Betriebsstörungen und Unfällen, da Erhöhungen gegenüber den natürlichen Dosiswerten im ENSI automatisch angezeigt werden.

Bei einem Störfall unterstützt MADUK die Notfallorganisation bei der Bestimmung des betroffenen Gebietes, der Einschätzung der möglichen Massnahmen und durch den schnellen Datenaustausch mit Behörden. Die Daten sind öffentlich.

Videointerview zu den institutionellen Änderungen in der Schweiz (Untertitel auf Deutsch)

Bernard Michaud, ehemaliger Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit, hat die Detektion der radioaktiven Wolke als Leiter der Sektion Strahlenschutz erlebt. Er kommentiert in diesem Video die institutionellen Änderungen in der Schweiz nach dem Unfall.


Das ist der elfte von sechzehn Teilen zur Geschichte des Unfalls Tschernobyl.