„Die Überprüfung der Dampferzeuger der Kernkraftwerke Gösgen und Beznau bedingt keine vorläufige Ausserbetriebnahme“

Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat Anfang Dezember 2016 die Überprüfung der Dampferzeuger in den Kernkraftwerken Gösgen und Beznau gefordert. Georg Schwarz, stellvertretender ENSI-Direktor und Leiter des Aufsichtsbereichs Kernkraftwerke, erläutert im Interview Hintergründe und Zusammenhänge.

 

Georg Schwarz
Dr. Georg Schwarz

Im vergangenen Sommer mussten die Betreiber der Schweizer Kernkraftwerke die Herstellungsdokumente der geschmiedeten Stahlkomponenten ihrer Anlagen bezüglich möglicher Fälschungen überprüfen. Jetzt hat das ENSI von den Kernkraftwerken Beznau und Gösgen verlangt, dass sie die Komponenten ihre Dampferzeuger auf erhöhte Kohlenstoffwerte und mögliche Auswirkungen auf die Materialzähigkeit untersuchen. Dazu sollen zunächst erneut die Herstellerdokumente geprüft werden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Angelegenheiten?

Georg Schwarz: Nein. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Themen, die nicht zu vermischen sind.

Können Sie das etwas näher erklären?

Bezüglich Fälschungen konnten wir schon im vergangenen August Entwarnung geben. Alle Anlagen in der Schweiz, die Bauteile der französischen Schmiede Creusot Forge im Einsatz hatten oder haben, konnten bestätigen, dass in den entsprechenden Herstellungsunterlagen keine Hinweise auf Fälschungen gefunden wurden.

Aber?

Parallel dazu, aber unabhängig von der Fälschungsthematik, gab es aus Frankreich Informationen über mögliche Materialprobleme bei den Dampferzeugen der Druckwasserreaktoren. In einer Reihe von Reaktoren wiesen die geschmiedeten Stahlteile der Dampferzeuger erhöhte Kohlenstoffanteile auf. Am 18. Oktober 2016 hat die französische Aufsichtsbehörde ASN schliesslich die Betreiberin der französischen Kernkraftwerke EDF angewiesen, die Dampferzeuger von zwölf Reaktoren genauer unter die Lupe zu nehmen und nachzuweisen, dass diese trotz erhöhtem Kohlestoffanteil über die notwendige Materialzähigkeit verfügen. Dies hat das ENSI veranlasst, die Dampferzeuger der Schweizer Kernkraftwerke Beznau und Gösgen jetzt ebenfalls überprüfen zu lassen.

Und was ist mit den anderen beiden Kernkraftwerken in der Schweiz?

Leibstadt und Mühleberg sind Siedewasserreaktoren. Sie haben keine Dampferzeuger und sind deshalb nicht betroffen.

Um was geht es dann in der Prüfung der Unterlagen?

Die Prüfung der Herstellerunterlagen ist ein erster Schritt und dient als Grundlage für die Überprüfung der Dampferzeuger. Dabei geht es aber eben nicht um die Suche nach möglichen Fälschungen, sondern um Grundlageninformationen zur Qualität des Materials der Dampferzeuger.

Kann man denn diesen Unterlagen überhaupt noch trauen?

Ja. Bei den Abklärungen im Sommer wurden keine Hinweise auf Fälschungen gefunden.

Bei den jetzt vom ENSI angeordneten Überprüfungen der Dampferzeuger in Gösgen und Beznau werden wohl auch die Erkenntnisse aus den entsprechenden Untersuchungen in Frankreich berücksichtigt. Was ist der aktuelle Stand in Frankreich?

In Frankreich sind die Untersuchungen weitgehend abgeschlossen und es hat sich gezeigt, dass auch die Dampferzeuger mit einem erhöhten Kohlestoffanteil robust genug sind und kein Risiko darstellen. Die Reaktoren die für die Untersuchungen vom Netz genommen wurden, sind inzwischen entweder wieder am Netz oder werden im Laufe des Januars 2017 wieder Strom liefern. (Details siehe Chronologie unten).

In Frankreich mussten die Werke für die Untersuchungen vom Netz. Warum Gösgen und Beznau nicht?

Auch in Frankreich wurden die Kernkraftwerke nicht sofort abgestellt. In der Schweiz sehen wir aus sicherheitstechnischer Sicht keinen Anlass, die beiden betroffenen Anlagen kurzfristig vom Netz zu nehmen. Die Überprüfungen am Dampferzeuger können während einem ordentlichen Revisionsstillstand durchgeführt werden.

Können Sie das näher erläutern?

Erste Überprüfungen im vergangenen Sommer hatten in Frankreich ergeben, dass Dampferzeuger in 18 der 58 französischen Reaktoren genauer untersucht werden mussten. Für 6 Reaktoren konnten diese Untersuchungen relativ schnell abgeschlossen werden, sodass im Herbst 2016 noch 12 Reaktoren übrig blieben. Die ASN gab dem Betreiber der französischen Kernkraftwerke EDF eine Frist von drei Monaten, um die geforderten Messungen und Berechnungen an den Dampferzeugern in den übrig gebliebenen Reaktoren durchzuführen. Um diese Arbeiten ausführen zu können, muss ein Reaktor stillstehen. Sieben der betroffenen Reaktoren, die bereits im ordentlichen Revisionsstillstand waren, haben deshalb entschieden, das Wiederanfahren zu verschieben, fünf Reaktoren wurde zunächst weiterbetrieben. Drei davon sind im Laufe des Jahres 2016 vom Netz gegangen, um die geforderten Messungen durchzuführen. Die letzten zwei werden das im Januar 2017 tun.

Angesichts der Entwicklung in Frankreich: Warum müssen Beznau und Gösgen die Untersuchungen überhaupt noch ausführen?

Der Dampferzeuger ist eine wichtige Komponente des Primärkreislaufs. Es ist aus sicherheitstechnischer Sicht angebracht, zu überprüfen wie sich die Situation in den Schweizer Reaktoren darstellt und inwiefern die Resultate in Frankreich mit entsprechenden Untersuchungen an den Dampferzeugern in den Schweizer Anlagen übereinstimmen.

Was müssen die Kernkraftwerke Gösgen und Beznau konkret prüfen?

In einem ersten Schritt müssen wie gesagt die Herstellungsunterlagen geprüft werden. Daraus ergeben sich Angaben bezüglich der betroffenen Bauteile, Hersteller, Herstellungszeitraum, Material, angewendete Bauvorschrift und Regelwerke, Abweichungen während der Herstellung, Angaben zum Schmiedeverfahren, durchgeführte Abnahmeprüfungen und Prüfanforderungen. Gestützt auf diese Unterlagen ist in einem zweiten Schritt ist ein Konzept für die weitere Sicherheitsbewertung abzuleiten.

Welches Resultat erwarten Sie vom ersten Schritt, der Prüfung der Unterlagen?

Ziel der vertieften Überprüfung der Herstellungsunterlagen ist es, rasch einen ersten Überblick über die Herstellung der Dampferzeuger zu erhalten. Daraus lassen sich erste Erkenntnisse gewinnen und weitere Überprüfungen ableiten.

Wann wird der zweite Schritt der zerstörungsfreien Prüfungen durchgeführt werden?

Das hängt von den Konzepten ab. Allfällige Überprüfungen an den Dampferzeugern selbst werden in den regulären Revisionsstillständen der Kraftwerke durchgeführt.

Steht diese Überprüfung der Dampferzeuger auch im Zusammenhang mit den Befunden in den Reaktordruckbehältern, die 2013 in den belgischen Anlagen Doel 2 und Tihange 3 und 2015 in Beznau 1 gefunden wurden?

Nein. Die Befunde in den Reaktordruckbehältern haben nichts mit den Überprüfungen der Dampferzeuger zu tun. Auslöser für die Überprüfung der Dampferzeuger waren wie gesagt Informationen aus Frankreich, dass der Stahl der Dampferzeuger stellenweise einen zu hohen Kohlenstoffanteil aufweisen könnte.

Reaktordruckbehälter und Dampferzeuger

Reaktordruckbehälter und Dampferzeuger sind verschiedene Komponenten.

Reaktordruckbehälter

Im Reaktordruckbehälter befinden sich die Brennstäbe. Mit der Wärme, die durch die Kettenreaktion erzeugt wird, wird das Kühlmittel aufgeheizt.

Dampferzeuger

In Druckwasserreaktoren erfolgt die Dampfproduktion im Dampferzeuger, wo das heisse Wasser aus dem Primärkreislauf die Wärmeenergie an das Wasser des Sekundärkreislaufes übergibt.

Heisst das, die Untersuchungen an den Dampferzeuger haben keinen Einfluss auf den Entscheid, ob Beznau 1 nach Abschluss der Untersuchungen zu den Befunden im Reaktordruckbehälter wieder anfahren kann?

So ist es, sie haben keinen Einfluss.

Vom Reaktordeckel in Flamanville zu den Dampferzeugern in der Schweiz: eine Chronologie

Ausgehend von Befunden im französischen Kernkraftwerk Flamanville sind in Frankreich und in der Schweiz verschiedene Abklärungen ausgelöst worden. Diese betreffen Fälschungen in den Herstellungsunterlagen der Schmiede Le Creusot und die Materialeigenschaften der Dampferzeuger.

Aspekt „Befunde im Reaktordruckbehälter in Flamanville“
Am 7. April 2015 hat die französische Aufsichtsbehörde ASN die Öffentlichkeit darüber informiert, dass im Reaktordeckel und –boden des französischen Kernkraftwerks Flamanville 3, das derzeit in Bau ist, Zonen mit erhöhtem Kohlenstoffgehalt festgestellt worden sind.
Aspekt „Fälschungen in Le Creusot Forge“ Aspekt „Kohlenstoffgehalt in Dampferzeuger-Komponenten“
2015 Am 4. August 2015 schrieb ASN-Präsident Pierre-Franck Chevet in einem offenen Brief, dass AREVA entschieden habe, die Herstellungspraxis der vergangenen Jahre in der Schmiede Le Creusot durch eine unabhängige Stelle überprüfen zu lassen. Diese Prüfungen waren bereits im April 2015 auf Anstoss der ASN gestartet worden.
2016 Am 19. Januar 2016 informiert die ASN darüber, dass es im Rahmen eines Hearings am 8. Dezember 2015 der AREVA die Anforderungen für die Überprüfung mitgeteilt habe. Demnach sollte die Überprüfung nicht nur bis 2010, sondern bis mindestens 2004 zurückreichen, da in diesem Jahr die ersten Teile für den EPR von Flammanville geschmiedet worden sind.

Am 3. Mai 2016 informierte die ASN erstmals die Öffentlichkeit über Ergebnisse dieser Überprüfung. Es sei festgestellt worden sei, dass bei 400 Komponenten, die seit 1965 in Le Creusot hergestellt worden waren, Unregelmässigkeiten in der Herstellungsdokumentation vorlägen. Diese umfassten sowohl Inkohärenzen in den Unterlagen mit Daten über die Herstellung oder Prüfungen als auch Fälschungen (Abänderung von Mess- und Abnahmeprotokollen)Von den 400 betroffenen Komponenten seien rund 50 in französischen Kernkraftwerken im Einsatz.

Am 6. Juni 2016 forderte das ENSI die Kernkraftwerke in der Schweiz auf, Informationen einzuholen und diese darauf zu prüfen, ob Bauteile der Schmiede Creusot Forge mit allfällig fehlerhafter Herstellungsdokumentation im Einsatz waren oder sind.

Am 16. Juni 2016 konnte die ASN erstmals jene Kernkraftwerke in Frankreich benennen, bei denen Komponenten im Primärkreislauf von Unregelmässigkeiten betroffen sind. Für weitere Untersuchungen nahm die Betreiberin EDF den Reaktor Fessenheim 2 Mitte Juni 2016 vom Netz.

Am 19. Juli 2016 informierte die ASN, dass sie die Zulassung für einen Dampferzeuger im KKW Fessenheim 2 aussetze. Als Grund nannte sie Fälschungen in den Herstellungsunterlagen. Der 2008 hergestellte Dampferzeugerboden sei nicht konform mit dem Dossier, das der ASN eingereicht worden sei, und nicht gemäss den geltenden Regeln geschmiedet worden.

Am 17. August 2016 informierte das ENSI die Öffentlichkeit, dass alle Anlagen in der Schweiz, die Bauteile der Schmiede Creusot Forge im Einsatz hatten oder haben, bestätigen konnten, dass diese Komponenten nicht von Fälschungen in den Herstellungsunterlagen betroffen sind.

Am 23. September 2016 veröffentlichte die ASN erstmals eine Liste der gefundenen Unregelmässigkeiten und Fälschungen in den Herstellungsdokumenten. Gleichzeitig teilte die französische Aufsichtsbehörde mit, dass bei 21 der 23 gefundenen Fälle die Sicherheit nicht beeinträchtigt war. In zwei Fällen wurden weitere Untersuchungen angekündigt, nämlich in Gravelines 5 und Fessenheim 2, die zu diesem Zeitpunkt beide stillstanden.

Am 23. Juni 2016 teilte die ASN erstmals öffentlich mit, dass Böden von Dampferzeugern von Zonen mit zu hohem Kohlenstoffanteil aufweisen könnten. Im Fokus standen 18 Reaktoren – 16 mit 900 MWe- und 2 mit 1450 MWe-Leistung. Nicht betroffen waren 18 Reaktoren mit 900 MWe-, 2 mit 1450 MWe- und alle 20 mit 1300 MWe-Leistung. Die Aufsichtsbehörde hat die Betreiberin EDF aufgefordert, die Dampferzeuger aus Le Creusot Forge und der japanischen Schmiede JCFC mittels zerstörungsfreier Prüfung bezüglich Kohlenstoffkonzentration und mit Ultraschall auf mögliche Risse zu überprüfen.

Am 18. Oktober 2016 ordnete die ASN die genauere Überprüfung der Dampferzeuger bezüglich Kohlenstoffgehalt im Material in 12 Reaktoren an. Sieben der betroffenen Reaktoren befanden sich zu diesem Zeitpunkt für die ordentliche Revision bereits im Stillstand. Fünf weitere Kernkraftwerke erhielten eine Frist von drei Monaten.

Am 26. Oktober 2016 teilte die ASN mit, dass sie im Rahmen eines parlamentarischen Hearings darüber informiert habe, dass es sich bestätigt habe, dass in den Dampferzeugern von 12 Reaktoren, die durch JCFC hergestellt wurden, der Kohlenstoffgehalt erhöht sei.

Am 5. Dezember 2016 teilte die ASN mit, dass die von der Betreiberin EDF geforderten Unterlagen grundsätzlich akzeptiert worden seien. Weiter forderte sie Berichte zu kompensatorischen Massnahmen und weiteren mittelfristigen Tests. Für vier Anlagen forderte sie zusätzliche Berechnungen. Sobald diese von der ASN geprüft seien, könnten die zehn 900 MWe-Kraftwerke wieder anfahren. Gemäss ASN habe EDF angekündigt, die Unterlagen zu den beiden Anlagen mit 1450 MWe-Leistung demnächst einzureichen.

Am 9. Dezember 2016 forderte das ENSI die Druckwasserreaktoren in der Schweiz – Gösgen und Beznau – auf, ihre Dampferzeuger in einem zweistufigen Verfahren zu prüfen.

Gemäss Angaben der Réseau de Transport d’Electricité RTE (Stand 3. Januar 2017) sind 4 der 12 vertieft untersuchten Reaktoren bis Ende 2016 wieder angefahren. Die verbleibenden 8 Reaktoren planen im Laufe des Januars 2017 wieder anzufahren.