„Ein Hüllrohrschaden stellt keine Gefahr für Mensch und Umwelt dar“

Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat dem Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) die Freigabe zum Wiederanfahren mit Auflagen erteilt. Die Bedingungen, unter denen es im KKL zu den Dryouts gekommen ist, sind bekannt. Das KKL hat Gegenmassnahmen ergriffen. Somit ist der Betrieb sicher. Im Interview erklärt Ralph Schulz, Leiter des Fachbereichs Sicherheitsanalysen, die Hintergründe.

Ralph Schulz
Ralph Schulz

Hat wegen des Phänomens Dryout in Leibstadt je eine Gefahr für Mensch und Umwelt bestanden?

Nein. Ein Hüllrohrschaden stellt keine Gefahr für Mensch und Umwelt dar. Brennstabschäden sind ein bekanntes Phänomen. Dryout ist nur eine der Ursachen, die zu einem Brennstabschaden führen kann. Die Hüllrohre der Brennstäbe bilden die erste von mehreren Barrieren, die die Umwelt vor dem radioaktiven Brennstoff und dessen Spaltprodukten schützen. Die Dryouts führen zu einer beschleunigten Oxidation der Hüllrohre und schwächen sie dadurch. Selbstverständlich sollen die Barrieren nicht geschwächt werden. Deshalb sind Dryouts im Normalbetrieb nicht zulässig. Bei den Dryouts im KKL kam es nur einmal zu einem echten Hüllrohrschaden, nämlich 2014. In allen übrigen Fällen kam es lediglich zu Schwächungen der Wanddicke oder zu Verfärbungen.

Kann der Reaktor aufgrund des Dryouts ausser Kontrolle geraten?

Dryouts führen entgegen der Behauptung einiger KKW-Kritiker nicht dazu, dass die Leistung des Reaktors unkontrolliert ansteigt und deshalb ein Sicherheitsproblem entsteht. Sollte es zu einem Brennstabschaden kommen, kann dieser leicht festgestellt und die Anlage sicher abgefahren werden. Üblicherweise wird ein KKW jedoch nicht bei einem Brennstabschaden abgefahren, da dessen Auswirkungen marginal sind. Brennstabschäden sind zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Im KKL zum Beispiel befinden sich rund 62‘000 Brennstäbe im Kern.

Sie haben heute dem Kernkraftwerk Leibstadt die Freigabe zum Wiederanfahren erteilt. Heisst das, dass Sie die Ursache für die Oxidation der Brennstäbe kennen?

Wir kennen die Bedingungen, unter denen ein Dryout im KKL auftritt. Davon ausgehend konnte das KKL den Reaktor und seine Betriebsweise so auslegen, dass diese Bedingungen gezielt ausgeschlossen werden. Das KKL hat unter anderem mit einer systematischen Untersuchung von über 200 Brennelementen eine Ursachenanalyse durchgeführt. Es ist allgemein bekannt, dass Leistung, Bauart und Position der Brennelemente sowie der Kerndurchsatz – also die Menge an Wasser pro Zeiteinheit, die durch den Kern gepumpt wird – eine entscheidende Rolle bei Dryoutphänomenen spielen. Die umfangreichen Abklärungen haben nun konkrete Werte für diese Parameter geliefert. Weitere mögliche Ursachen für den Dryout, wie zum Beispiel Fertigungsfehler, wurden vorgängig eindeutig ausgeschlossen.

Das KKL muss aber die Ursachenanalyse weiterführen. Heisst das, dass es noch Unbekannte gibt?

Bei vielen technischen Anwendungen spielen sich physikalische Einzelphänomene ab, die nur unvollständig verstanden sind und daher mathematisch auch nur begrenzt beschrieben werden können. Das gilt zum Beispiel für jede turbulente Strömung oder jeden Wärmeübergang. Dennoch sind die ablaufenden Prozesse häufig auch ohne Berücksichtigung der physikalischen Detailvorgänge summarisch gut erklärbar und auch technisch sicher nutzbar, weil sie ausreichend untersucht sind. So sind auch die detaillierten physikalischen Mechanismen, die im KKL zum Dryout führten, noch nicht bekannt. Die bisherigen Erkenntnisse sind weitgehend empirisch. Wir haben deshalb vom KKL weitere Untersuchungen gefordert, um die physikalischen Detailvorgänge, welche unter bestimmten Randbedingungen zu lokalen Kühlungsdefiziten führten, besser zu verstehen und die bislang gewonnenen Erkenntnisse weiter abzusichern.

Schon 2015 wurden Massnahmen ergriffen, die ein Dryout verhindern sollten. In der Jahresrevision 2016 zeigte sich dann aber, dass diese nicht gewirkt haben.

Die Massnahme, den Abstand zur kritischen Siedeübergangsleistung für das Betriebsjahr 2015/16 zu erhöhen, wurde aufgrund des bislang benutzten Rechenmodells ergriffen. Dieses Modell wird weltweit in vielen Siedewasserreaktoren verwendet. Wie sich nun gezeigt hat, deckt es aber anscheinend doch nicht alle Einzelphänomene ab. Dank der umfassenden Analysen der vergangenen Monate kennt der Betreiber aber nun die wichtigsten Parameter, die im Zusammenhang mit dem Dryout eine Rolle spielen und kann dies in der Auslegung und dem Betrieb des Reaktors berücksichtigen.

Sie erwähnten den Kerndurchsatz. Handelt es sich hier um ein Problem der Kühltechnologie?

Nein. Die Kühltechnologie eines Siedewasserreaktors ist erprobt und bewährt. Das sieht man auch in baugleichen Anlagen. Die Ursache für den Dryout liegt im Zusammenspiel von Kerndurchsatz, Leistung und den Auslegungsmerkmalen der Anlage sowie des Brennelements.

Hatte es zu wenig Wasser im Reaktordruckbehälter, dass die Brennstäbe austrocknen konnten?

Nein. Der Füllstand war zu jeder Zeit korrekt, das heisst der Wasserstand war immer weit über der Oberkante der Brennstäbe. Lokal haben sich allerdings Bedingungen ergeben, bei denen der normalerweise vorhandene Wasserfilm auf einigen Brennstäben zumindest zeitweise verloren ging und die Wärme direkt an den Dampf abgegeben wurde. Dies führte zu einer deutlichen Temperaturerhöhung beim Hüllrohr.

Es hat bisher 2014 einen Fall gegeben, in dem der Dryout bei einem Brennstab soweit fortgeschritten war, dass radioaktive Stoffe in das Kühlmittel austraten. Was passiert genau, wenn das Hüllrohr durchkorrodiert ist?

Sollte es zu einem Hüllrohrschaden kommen, stellt dies noch keine Gefahr für Mensch und Umwelt dar. Das Loch im schadhaften Brennstab 2014 war 3 bis 4 Millimeter gross. Zuerst treten radioaktive Spaltgase aus und gelangen in das Reaktorkühlmittel. Wird der Reaktor weiter betrieben, dann kann das Kühlmittel radioaktive Stoffe aus dem Brennstab auswaschen. Dadurch wird der Primärkreislauf kontaminiert. Dies führt aber nicht zu einer nennenswerten Freisetzung an die Umwelt, da das Kühlmittel im Betrieb immer in einem geschlossenen Kreislauf bleibt. Grundsätzlich sind die zusätzlichen radioaktiven Stoffe im Kühlmittel unerwünscht, stellen aber keine Gefahr dar. Durch die permanente Kontrolle der Radioaktivität im Kühlmittel kann das KKL einen allfälligen Brennstabschaden sofort feststellen. Es gibt radiologische Grenzwerte für die zulässige Aktivität im Kühlmittel, bei deren Erreichen die Anlage abgefahren werden muss. Diese Grenzwerte wurden 2014 bei weitem nicht erreicht. Wir haben die Freigabe mit Auflagen verbunden, die der Überwachung dienen. Sollte trotz aller Vorsichtsmassnahmen erneut ein Brennstabschaden auftreten, ist das Kernkraftwerk umgehend abzustellen, unabhängig davon, ob der erwähnte Grenzwert erreicht wird.

Wie gross war der Anteil des Reaktorkerns, der von Korrosion betroffen war?

Der Reaktorkern des Kernkraftwerks Leibstadt umfasst 648 Brennelemente mit insgesamt rund 62‘000 Brennstäben. Insgesamt waren von den im Betriebsjahr 2015/16 eingesetzten Brennelementen, 30 Brennstäbe in 13 Brennelementen derart vom Dryout betroffen, dass die Brennstäbe ersetzt werden mussten. Das sind rund 0,05 Prozent der Brennstäbe im Kern.

Befinden sich jetzt noch oxidierte Brennstäbe im Reaktor?

Oxidation an Brennstab-Hüllrohren ist ein völlig normaler Prozess. Dieser Mechanismus ist durch die Auslegung der Brennstäbe abgedeckt. Im Rahmen von visuellen Inspektionen und Mess-Prüfungen wird die Einhaltung der Grenzwerte regelmässig überprüft. Bei den Brennelementen, die Brennstäbe mit stärkeren Oxidationsspuren aufwiesen, aber sonst noch eingesetzt werden können, wurden diese Brennstäbe durch Zirkoniumstäbe ohne Uran ersetzt.

Können Sie ausschliessen, dass es bis zur nächsten Jahresrevision wieder Dryouts geben wird?

Da wir die Randbedingungen, die zu den Dryouts führten, und die ergriffenen Massnahmen nun kennen, sind wir überzeugt, dass ein erneutes Auftreten ausgeschlossen werden kann. Bei der nächsten Revision muss das KKL dennoch umfassend kontrollieren, ob es erneut zu lokalen Kühlungsdefiziten gekommen ist.

Das Kernkraftwerk Leibstadt hatte Ende der 1990er-Jahre bereits einmal Probleme mit Brennstabschäden. Besteht ein Zusammenhang mit dem aktuellen Vorkommnis?

Nein. Die Mechanismen, die zu den Brennstabschäden geführt haben, sind unterschiedlich. Die damals vorgefundene erhöhte Korrosion befand sich in dem Bereich, in dem die Brennstäbe von den Abstandhaltern überdeckt sind. Es handelte sich beim Fehlermechanismus um sogenannte Schattenkorrosion, die auf eine ungünstige Kombination von Hüllrohr- und Abstandhaltermaterial zurückzuführen war. Durch stetige Weiterentwicklung der Materialzusammensetzung ist dieser Fehlermechanismus im KKL seither nicht wieder aufgetreten.

Das KKL hat seit Betriebsaufnahme 1984 die Leistung mehrfach erhöht. Besteht ein Zusammenhang zwischen den Dryouts und diesen Leistungserhöhungen?

Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die das Auftreten von Dryout beeinflussen. Die Reaktorleistung gehört sicherlich dazu. Es wäre aber unzulässig und zu vereinfachend, den Dryout nur auf die erhöhte Leistung zurückzuführen. Die letzte Leistungserhöhung erfolgte im Jahr 2002. Die umfangreichen Inspektionen 2016 haben gezeigt, dass die Dryouts erst im Zyklus 28 – also erst 2012/13 – aufgetreten sind. Dazwischen war die Betriebserfahrung mit dem Reaktorkern positiv.

Haben Sie externe Experten – beispielsweise die Expertengruppe Reaktorsicherheit ERS – beigezogen?

Das ENSI verfügt mit der Sektion Reaktorkern über eine ausgewiesene Fachkompetenz  im Bereich der Reaktor- und Brennstofftechnik. Für spezifische Fragen haben wir Experten vom TÜV Süd, dem Paul Scherrer Institut und der Sten Lundberg Consulting beigezogen. Die Expertengruppe Reaktorsicherheit wurde von uns eingesetzt, um sich primär mit langfristigen strategischen Sicherheitsfragen zu befassen. Bei den Befunden an den Brennelementen geht es um operatives Tagesgeschäft.

Verschiedene Medien haben dem ENSI vorgeworfen, die Probleme mit den Brennstäben im Kernkraftwerk bis zum vergangenen Dezember verheimlicht zu haben.

Das ENSI informiert die Öffentlichkeit laufend über den Zustand der Schweizer KKW. So hat das ENSI auch in den Aufsichtsberichten 2014 und 2015 über die Befunde an den Brennelementen berichtet. Zudem haben wir in unserem Webartikel zum Aufsichtsbericht 2014 darauf hingewiesen. Verantwortlich für die Sicherheit und den sicheren Betrieb eines KKW ist gemäss Gesetzgeber der Bewilligungsinhaber. Das KKL hat die Öffentlichkeit wiederholt und zeitnah über die Befunde an den Brennstäben während der Jahresrevision 2016 informiert. Das ENSI seinerseits hat die Öffentlichkeit informiert, nachdem die Vorkommnisbearbeitung abgeschlossen war. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es von Seiten der Aufsichtsbehörde keine Entscheide oder Handlungen, die es zu kommunizieren gab und die die Informationen des Betreibers ergänzt hätten.

Das Kernkraftwerk Leibstadt hat bereits im Herbst 2016 kommuniziert, dass es Mitte Februar 2017 wieder anfahren will. Zudem sind die Stauseen offenbar so leer wie noch nie. Hatte dies Einfluss auf Ihre Entscheidung?

Nein. Im Zentrum der Arbeit des ENSI steht der Schutz von Mensch und Umwelt vor den Gefahren der friedlichen Nutzung der Kernenergie. In der Schweiz dürfen Kernkraftwerke nur betrieben werden, wenn sie die Anforderungen des Gesetzgebers erfüllen. Ausschliesslich daran orientiert sich das ENSI.