Die KEV-Revision macht keine Abstriche bei der Sicherheit der Bevölkerung

Die Vernehmlassung des Bundesrates zur Teilrevision der Kernenergieverordnung wird begleitet von Vorwürfen der KKW-Kritiker, welche die Aufsicht des ENSI betreffen. Das ENSI als für die Überwachung der Sicherheit der Kernkraftwerke zuständige Behörde hält fest: Die Revision führt zu keinen Abstrichen bei der Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke. Und: Das Kernkraftwerk Beznau beherrscht auch ein schweres Erdbeben, das statistisch einmal alle 10‘000 Jahre zu erwarten ist.

Angestossen hat die Revision der Kernenergieverordnung die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit KNS im Jahr 2012. Sie hat damals darauf hingewiesen, dass die Schweizer Praxis im internationalen Vergleich zwar streng sei und ein gutes Sicherheitsniveau gewährleiste, in rechtlicher Hinsicht jedoch Klärungsbedarf bestehe.

Der Bundesrat verfolgt jetzt mit der Teilrevision der Kernenergieverordnung (KEV) das Ziel, die Störfallanalyse und die vorläufige Ausserbetriebnahme von Kernkraftwerken unmissverständlich zu regeln. „Die bisherige Praxis des ENSI bei den Störfallanalysen von Kernkraftwerken“, schreibt der Bundesrat in seiner Medienmitteilung zur Eröffnung der Vernehmlassung, „entspricht der Neuregelung. Diese ist zudem konform mit den internationalen Vorgaben.“

Sicherheit gewährleistet

Die Sicherheitsvorgaben für Kernkraftwerke bleiben mit der Revision unverändert. Nach wie vor müssen die Betreiber der Kernkraftwerke nachweisen, dass sie bei einem Erdbeben, das statistisch alle 1000 Jahre zu erwarten ist, einen Dosiswert von 1 Millisievert (mSv) einhalten. Für Erdbeben, die statistisch alle 10‘000 Jahre zu erwarten sind, sind 100 mSv einzuhalten.

Falls der Dosiswert von 100 mSv überschritten ist, muss das betreffende Werk vorübergehend vom Netz genommen und nachgerüstet werden. Liegt der Dosiswert bei einem Erdbeben, das statistisch alle 1000 Jahre zu erwarten ist, zwischen 1 mSv und 100 mSv, wird dem Betreiber eine Frist für die Nachrüstung vorgegeben. Erfolgt die erforderliche Nachrüstung nicht, kann das UVEK die Betriebsbewilligung entziehen.

Beschwerde gegen bewährte Praxis

Gegen die Anwendung der geltenden Verordnungsbestimmungen wurde 2017 eine Beschwerde eingereicht. Würde das Gericht der Argumentation der Beschwerdeführer zustimmen, müssten alle schweizerischen Kernkraftwerke ausser Betrieb genommen werden.

Im Zentrum der Diskussion steht die Beherrschung eines Erdbebens, das statistisch einmal alle 10’000 Jahre zu erwarten ist. Heute ist für ein solches Erdbeben nachzuweisen, dass ein Dosiswert von 100 mSv eingehalten wird. Die Beschwerdeführer verlangen neu, dass dieser Dosiswert um das Hundertfache gesenkt wird und dass die Kernkraftwerke nachweisen müssen, dass sie auch bei einem solch schweren und seltenen Erdbeben nicht mehr als 1 mSv an radioaktiver Strahlung freisetzen. Zudem fordern die Beschwerdeführer, dass ein Erdbeben, das statistisch einmal in einer Million Jahre zu erwarten ist, mit einem Dosiswert von 100 mSv beherrscht werden müsse. Dies hätte zur Folge, dass alle Schweizer Kernkraftwerke ausser Betrieb genommen werden müssten, weil keines eine solche Forderung erfüllen könnte.

Die Beschwerdeführer verlangen, dass ein Kernkraftwerk vorläufig ausser Betrieb genommen werden muss, wenn bei einem Erdbeben, das statistisch alle 10‘000 Jahre zu erwarten ist, nicht nachgewiesen werden kann, dass eine Dosis von 1 mSv eingehalten wird. Eine Dosis von 1 mSv entspricht rund einem Fünftel der Strahlendosis von 5,5 mSv, welche die schweizerische Bevölkerung durchschnittlich jedes Jahr aufnimmt. Es ist unverhältnismässig, ein Kernkraftwerk wegen einer zusätzlichen hypothetischen Dosis von 1 mSv, die mit einer geringen Häufigkeit eintritt, ausser Betrieb zu nehmen.

Diese Beschwerde, schreibt der Bundesrat in seinem Erläuterungsbericht zur Vernehmlassung der Revision, habe aufgezeigt, dass der Wortlaut von Art. 8 KEV über die deterministische Störfallanalyse und von Art. 44 KEV über die vorläufige Ausserbetriebnahme von Kernkraftwerken sowie von zwei gestützt darauf erlassenen Verordnungen des UVEK tatsächlich „unklar formuliert ist“. In dieser Frage müsse deshalb „umgehend wieder Rechtssicherheit hergestellt werden.“ Und: „Die bisherige Praxis soll nun auf Verordnungsstufe klar und eindeutig abgebildet werden.“

Bewältigung eines schweren Erdbebens

Störfälle werden im Schweizer Regelwerk abhängig von ihrer Häufigkeit jeweils einer Störfallkategorie zugeordnet. Die Diskussion dreht sich hauptsächlich darum, ob das Erdbeben, das statistisch alle 10‘000 Jahre zu erwarten ist, zur Störfallkategorie 2 oder zur Störfallkategorie 3 gehört. Für die Störfallkategorie 2 gilt der Grenzwert von 1 mSv. Für die Störfallkategorie 3 sind es 100 mSv. Das Erdbeben, das statistisch alle 10‘000 Jahre zu erwarten ist, liegt genau auf der Grenze zwischen den beiden Störfallkategorien.

Mit der Revision wird im Artikel 8 der KEV jetzt unmissverständlich festgelegt, dass dieses Erdbeben wie auch die übrigen Naturereignisse mit der gleichen Häufigkeit, zur Störfallkategorie 3 gehören und damit ein Dosiswert von 100 mSv für die Nachweisführung gilt. Als Nachweisbeben für die Störfallkategorie 2 wird gemäss bestehender Praxis das Erdbeben, das statistisch alle 1000 Jahre zu erwarten ist, festgelegt. Für dieses Erdbeben gilt wie bisher ein Nachweiswert von 1 mSv.

Vorläufige Ausserbetriebnahme bei 100 mSv

Ein Ausserbetriebnahmekriterium von 100 mSv darf keinesfalls mit einer Bestrahlung der breiten Bevölkerung mit 100 mSv gleichgesetzt werden. Es handelt sich vielmehr um eine berechnete Dosis für eine einzelne fiktive Person, die der Strahlung am stärksten ausgesetzt ist. Mit 100 mSv wird diejenige Dosis als Ausserbetriebnahmekriterium festgelegt, ab der erste Beeinträchtigungen der Gesundheit statistisch nachgewiesen werden können. Gemäss dem Krebsbericht 2015 des Bundesamtes für Statistik liegt die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer Person im Laufe des Lebens zu einem gewissen Zeitpunkt Krebs diagnostiziert wird, für Männer bei 47.2 Prozent und für Frauen bei 37.6 Prozent. Diese Wahrscheinlichkeiten werden durch eine Bestrahlung mit einer Dosis von 100 mSv um ein halbes Prozent auf 47.7 Prozent für Männer und 38.1 Prozent für Frauen erhöht.

Der Dosiswert von 100 mSv entspricht dem Referenzwert für Notfälle gemäss der International Commission on Radiological Protection (ICRP). Zum Vergleich: In den USA gilt ein Wert von 250 mSv. In Deutschland sind es 50 mSv. Wobei anzumerken ist, dass – anders als in der Schweiz – in diesen beiden Ländern bei einer Überschreitung dieser Grenzwerte im Regelwerk keine automatische Ausserbetriebnahme vorgeschrieben ist.

Beznau ist erdbebensicher

Wie alle anderen Schweizer Kernkraftwerke hat auch Beznau im Nachgang zur Katastrophe von Fukushima 2012 einen neuen Erdbebennachweis liefern müssen. Beznau konnte dabei nachweisen, dass bei einem Erdbeben, das statistisch alle 10‘000 Jahre zu erwarten ist, die höchstbelastete Person (Kleinkind) einer Dosis von 29 mSv ausgesetzt wird. Diese Dosis liegt deutlich unter der vom Gesetz vorgegebenen Schwelle von 100 mSv. Dank weiterer Verbesserungsmassnahmen liegt der Wert heute bei 16 mSv.

Der von den Beschwerdeführern zitierte Wert von 78 mSv bezieht sich auf ein Szenario, das seltener als einmal in einer Million Jahre eintritt. Für so seltene Szenarien sind in der Strahlenschutzverordnung keine Dosiswerte vorgeschrieben.

Fazit

Von einer Abschwächung der rechtlichen Vorgaben für die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke kann keine Rede sein. Hätte man die Verordnung von Anfang an so interpretiert, wie das die Beschwerdeführer jetzt durchsetzen wollen, hätte die Inkraftsetzung der Ausserbetriebnahmeverordnung am 1. Mai 2008 zwangsläufig zur Abschaltung aller Schweizer Kernkraftwerke geführt. Mit der laufenden Revision wird vielmehr unmissverständlich festgeschrieben, was schon bisher Praxis war – und was klar auch die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers war.