„Es ist von zentraler Bedeutung, dass Bevölkerung und Rettungskräfte die Gefahr richtig einschätzen können“

Die Vernehmlassung zur Teilrevision der Kernenergieverordnung hat zahlreiche Missverständnisse mit entsprechend falschen Schlüssen zum Vorschein gebracht. Im Interview nimmt Rosa Sardella, Leiterin des Bereichs Strahlenschutz beim Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI, zu verschiedenen Punkten Stellung. Sie zeigt auf, dass die Gefahren eines 10‘000-jährlichen Auslegungsstörfalls überschätzt werden, und die Behörden und Politiker ihre Verantwortung wahrnehmen müssen.

ENSI: Müssen bei einem sehr schweren Erdbeben, wie es sich einmal in 10‘000 Jahren ereignet, die Anwohner der Kernkraftwerke in der Schweiz Angst haben?

Rosa Sardella, Leiterin des Bereichs Strahlenschutz

Rosa Sardella: Ja, aber nicht vor den Kernkraftwerken. Diese sind so robust gebaut, dass sie einem so seltenen und starken Erdbeben standhalten. Anders sieht es mit den Wohnhäusern und der Infrastruktur aus.

Also kein Tschernobyl oder Fukushima?

Bei einem so seltenen Ereignis werden wir in den Kernkraftwerken in der Schweiz keine Bilder wie in Tschernobyl oder Fukushima sehen. Die erwähnten Unfälle hatten in der Ukraine eine Explosion im Kern beziehungsweise in Japan mehrere Kernschmelzen zur Folge, das 10‘000-jährliche Erdbeben verursacht hingegen einen Störfall, der ohne Kernschaden kontrolliert werden muss.

Die Kernenergieverordnung erlaubt bei einem 10‘000-jährlichen Ereignis eine Dosis von 100 Millisievert. Warum eigentlich dieser Wert 100 mSv?

Er ist die internationale Norm, die unter anderem auch von der IAEA verwendet wird. Nach dem aktuellen Wissensstand in der Strahlenbiologie liegt eine Dosis von 100 mSv im Bereich der kleineren Dosen, bei denen noch keine deterministischen, also akut auftretenden gesundheitlichen Effekte zu erwarten sind. Bei Strahlendosen unterhalb von 100 mSv im Jahr wird angenommen, dass die Zunahme von stochastischen Wirkungen – zum Beispiel an Krebs zu erkranken – mit einer geringen Wahrscheinlichkeit und proportional zur Erhöhung der Strahlendosis über die Dosis aus natürlicher Strahlung auftritt.

Heisst das, niedrige Dosen sind nicht gefährlich?

Nein, das heisst es nicht. Lassen Sie mich Professor Werner Rühm zitieren, den Leiter der Arbeitsgruppe für niedrige Strahlendosen der International Commission on Radiological Protection ICRP, der international anerkannten wichtigsten Autorität in Sachen Strahlenschutz: „Ob niedrige Dosen gefährlich sind, ist wissenschaftlich umstritten. Klar ist aber: Die Gefahr ist klein, ansonsten wäre sie schon längst nachgewiesen.“ Aus Gründen der Prävention folgt die Schweiz trotzdem der Doktrin, dass von einer gewissen Schädigung des menschlichen Organismus durch niedrige Strahlendosen auszugehen ist. Es muss deshalb immer eine möglichst niedrige Strahlenbelastung angestrebt werden.

Kritiker, darunter auch namhafte Experten, rechnen aber vor, dass die 100 mSv zu Tausenden von zusätzlichen Krebsfällen respektive Toten führen würden.

Diese Aussage ist falsch. Diese Kritiker nehmen offenbar irrtümlicherweise an, der Grenzwert 100 mSv bedeute, dass die Schweizer Gesetzgebung toleriert, dass die Anwohner im weiteren Umfeld der Kernkraftwerke einer Strahlenbelastung von 100 mSv ausgesetzt werden. Tatsächlich wäre die Dosis aber lediglich ein Bruchteil davon und würde keinen einzigen Toten und keine Verletzten fordern.

Können Sie das bitte etwas erläutern?

Wir haben das ganz konkret einmal am Beispiel Gösgen durchgerechnet und die Ergebnisse auf unserer Website publiziert. Die Berechnungen des ENSI eines fiktiven Störfalls mit 100 mSv auf der Basis von realen Wetterdaten zeigen, dass die Anwohner der KKW bei einem solchen Störfall nur sehr niedrigen Dosen ausgesetzt wären. Rein rechnerisch wäre innerhalb von 50 Jahren nach dem Ereignis beim Beispiel Gösgen bei 95‘000 Betroffenen mit einem bis drei zusätzlichen Krebsfällen zu rechnen. Im Vergleich zu den 40’000 Krebsfällen, die in diesem Zeitraum natürlicherweise bei der betroffenen Bevölkerung auftreten, verursacht ein solcher Störfall also eine sehr geringe Erhöhung des Krebsrisikos. Zu beachten ist dabei auch, dass dieser Störfall nur mit einer Häufigkeit von einmal in 10‘000 Jahren passiert. Dass er in der verbleibenden Betriebszeit der Schweizer KKW auftritt, ist also sehr unwahrscheinlich.

Die Kritiker machen zudem geltend, dass es bei diesen Störfällen nicht nur um die unmittelbare Schädigung des menschlichen Organismus gehe, sondern auch um die psychologischen Folgen der Angst, welche die Menschen vor der radioaktiven Strahlung haben.

Der psychologische Effekt ist tatsächlich relevant. Das hat der Reaktorunfall in Fukushima erneut deutlich gemacht. Das Problem war in Fukushima nicht primär die Strahlung, sondern die Angst der Bevölkerung vor einer Verstrahlung. Viele Menschen sind ungeordnet geflüchtet. Selbst Rettungskräfte und Spitalpersonal verfielen in Panik und liessen beispielsweise Patienten auf Intensivstationen im Stich. Die Evakuierung von rund 150’000 Personen hat unmittelbar rund 60 Tote verursacht. Der Stress, die Angst und die soziale Not haben inzwischen zu rund 1600 weiteren Todesfällen geführt.

Was kann man dagegen tun?

Es ist von zentraler Bedeutung, dass sowohl die Bevölkerung, die Rettungskräfte und die zuständigen Behörden die Gefahr richtig einschätzen können, die von der ionisierenden Strahlung ausgeht. Vor diesem Hintergrund sind politisch motivierte Übertreibungen scharf zu verurteilen. Politiker und Fachleute, aber auch kernenergiebefürwortende und kernenergiekritische Nichtregierungsorganisationen haben hier eine grosse Verantwortung.

Dem ENSI wird im Rahmen der KEV-Teilrevision vorgeworfen, es interpretiere das Regelwerk schon seit Jahren falsch. Es gelte schon heute ein Grenzwert von 1 mSv für das 10’000-jährliche Ereignis und man müsse zusätzlich das 1‘000‘000-jährliche Naturereignis mit einem Dosiskriterium von 100 mSv berücksichtigen. Die Verordnungsänderung bringe also eine Verwässerung der bisher geltenden, aber vom ENSI nicht umgesetzten Regelung, um einen Faktor 100.

Diese Interpretation des Gesetzes wird zurzeit von einzelnen Anwohnern von Beznau mit Unterstützung von Greenpeace, der Schweizerischen Energiestiftung und dem Trinationalen Atomschutzverband gerichtlich eingefordert. Wir halten sie in Übereinstimmung mit dem Bundesrat für falsch. Die Praxis des ENSI entspricht nicht nur internationalen Normen und Gepflogenheiten, sondern ganz klar auch der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers.

Worauf stützen Sie sich dabei ab?

Wir waren als Fachbehörde bei der Entwicklung der entsprechenden Regelung direkt involviert. Hätte der Bundesrat damals tatsächlich, wie moniert, einen Grenzwert von 1 mSv auch für 10‘000-jährliche Naturereignisse plus noch eine Nachweispflicht für das 1‘000‘000-jährliche Naturereignis einführen wollen, hätte er damit entschieden, dass alle Schweizer Kernkraftwerke bei Inkrafttreten der aktuellen Gesetzgebung  hätten vom Netz genommen werden müssen, weil sie diese Vorgaben schon damals nicht hätten einhalten können. Das war definitiv nicht die Absicht des Bundesrates.

Dennoch hat die Revision auch Änderungen zur Folge. Welche?

Es gelten nach wie vor und unverändert die Dosiskriterien, wie sie in der eben erst revidierten Strahlenschutzverordnung bestätigt wurden. Eine Anpassung erfährt lediglich der Grenzwert in der Ausserbetriebnahmeverordnung – insofern als bei Dosen unter 100 mSv keine sofortige Ausserbetriebnahme mehr verlangt ist. Das ENSI ordnet eine Frist an, innerhalb welcher der Betreiber der Anlage die nötigen Nachrüstungen vornehmen muss.

Das ENSI mutet also der Bevölkerung zu, dass sie bis zur nötigen Nachrüstung mit dem Risiko leben muss, aufgrund des festgestellten Sicherheitsdefizits bei einem Störfall mit bis zu 100 mSv radioaktiver Strahlung belastet zu werden?

Sollte ein solches Sicherheitsdefizit auftreten, würde das ENSI eine Frist zur Behebung setzen. Solche Fristen sind auch in anderen Bereichen üblich, zum Beispiel im Fall von Radon in Wohnräumen: Während der zulässigen Sanierungsfristen werden die betroffenen Bewohner mit über 100 mSv belastet. Der 100-mSv-Grenzwert für die vorläufige Ausserbetriebnahme eines Kernkraftwerks entspricht in etwa der Dosis, welche die Bewohner eines mit Radon belasteten Hauses während der zulässigen Sanierungsfrist aufnimmt.

Kann man das so vergleichen?

Ja, aber im Unterschied zum Radon, wo die Dosis von 100 mSv tatsächlich von den Hausbewohnern akkumuliert wird, handelt es sich beim Kernkraftwerk um eine hypothetische Dosis, die nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

Neu sollen nur noch zwei Erdbeben betrachtet werden. Ein 10‘000-jährliches Erdbeben mit einem Grenzwert von 100 mSv und ein 1000-jährliches mit einem Grenzwert von 1 mSv. Es wird kritisiert, dass diese Wahl willkürlich und zu wenig streng sei.

Dass nur zwei Erdbeben betrachtet werden ist nicht neu. Diese hiessen früher OBE – operating basis earthquake und SSE – safe shutdown earthquake. Es entspricht der langjährigen Praxis des ENSI und stützt sich auf die Richtlinien der IAEA . Gemäss diesen Richtlinien sind für Erdbebennachweise zwei Erdbeben verschiedener Stärke zu berücksichtigen.

Nach welchen Kriterien wurden die Erdbebenstufen in der Schweiz festgelegt?

Die Wahl der höheren Erdbebenstufe erfolgte gestützt auf die Richtwerte der IAEA. Die Anforderungen an die tiefere Erdbebenstufe orientieren sich an den SIA-Normen und sind strenger als die Vorgaben der IAEA. Diesen beiden Erdbeben wurden Dosiskriterien gemäss der Strahlenschutzverordnung zugeordnet.

Trotzdem verlangen die Kritiker, dass ein 10‘000-jährliches Erdbeben unter Einhaltung eines Grenzwertes von 1 mSv beherrscht wird. Können die Schweizer KKW diesen Nachweis erbringen?

Einen solchen Nachweis hat das ENSI noch nie von den Betreibern verlangt, weil es eben im geltenden Regelwerk nicht vorgesehen ist. Nach Einschätzung des ENSI kann ein solcher Nachweis für kein schweizerisches Kernkraftwerk geführt werden.

Im Vergleich zu Deutschland ist die Schweiz „grosszügig“. Dort gilt ein Grenzwert von 50 mSv.

Und in den USA ein solcher von 250 mSv. Der Dosiswert allein sagt längst nicht alles über die Sicherheit einer Anlage aus. Entscheidend sind nicht zuletzt die Vorgaben, welche für die entsprechende Nachweisführung gemacht werden. So sind die Vorgaben für die Nachweisführung in mehreren Punkten in der Schweiz strenger als in Deutschland. Darüber hinaus verbindet das Schweizer Regelwerk die Überschreitung eines Grenzwerts von 100 mSv mit einer sofortigen Ausserbetriebnahme, was weltweit unseres Wissens kein anderes Land macht.

Könnte man dann nicht den Grenzwert einfach auf zum Beispiel 20 oder 50 mSv festlegen, die Kernkraftwerke in der Schweiz halten das ja offenbar problemlos ein?

Dies muss der Gesetzgeber beziehungsweise der Bundesrat entscheiden. Wenn er eine Senkung will, kann er das via eine erneute Revision der eben erst überarbeiteten Strahlenschutzverordnung selbstverständlich tun – und wir würden für die entsprechende Umsetzung in den Betrieben sorgen, die unserer Aufsicht unterstehen.

Und wie stellt sich das ENSI dazu?

Wie oben ausgeführt ist es eine politische Entscheidung. Wir weisen aber darauf hin, dass schon der aktuelle Grenzwert 100 mSv im Ereignisfall nur zu einer marginalen zusätzlichen Belastung der Bevölkerung führen würde. Deshalb ist die Senkung des Grenzwertes aus sicherheitstechnischer Sicht nicht notwendig.