Berechnung der gesundheitlichen Folgen eines Auslegungsstörfalls

Mitte Oktober 2018 hat das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI aufgezeigt, dass die Gefahr bei einem Störfall eines Schweizer Kernkraftwerks, der statistisch einmal in 10‘000 Jahren zu erwarten ist, überschätzt wird. Für die Berechnungen am Beispiel des Kernkraftwerks Gösgen wurden die Ergebnisse des Rechnungsprogramms JRODOS mit Daten ergänzt, die öffentlich zugänglich sind.

Die Berechnungen waren sowohl Thema einer Frage im Technischen Forum Kernkraftwerke TFK als auch eines BGÖ-Gesuchs. Aus diesem Grund legt das ENSI dar, wie die Berechnungen erfolgt sind.

Mit der Verwendung eines Echtwetter-Szenarios wurde beispielhaft gezeigt, dass die Berechnungsmethodik der Richtlinie ENSI-G14 für die Überprüfung der Auslegung einer Anlage ein sehr konservativer Ansatz ist. Konservativ bedeutet, vorsichtigerweise systematisch ungünstige Annahmen zu treffen. Die Dosen, die nach den Vorgaben der Richtlinie ENSI-G14 errechnet werden, sind nicht mit reellen Dosen für die Personen in der Umgebung gleichzusetzen. Diese dienen einzig dem Nachweis der Einhaltung der Dosiskriterien der Strahlenschutzverordnung in einer nachvollziehbaren und konservativen Art und Weise.

1. Schritt: Quelltermbestimmung

In einem ersten Schritt wird festgelegt, wie viel radioaktive Stoffe aus einem Kernkraftwerk freigesetzt werden. Man spricht dabei vom Quellterm. Dazu hat das ENSI als Basis das so genannte Szenario A1 verwendet. Dieses umfasst Störfälle ohne Kernschaden, die auf der internationalen Ereignisskala INES der Stufe 2 zu- oder höher angeordnet werden.

Die freigesetzte Menge wird so erhöht, dass bei einer Berechnung gemäss Richtlinie ENSI-G14 eine maximale Dosis von 100 Millisievert für eine fiktive Person resultiert.

 

Ein Auslegungsstörfall führt nicht zu einer Kernschmelze

Ein Auslegungsstörfall wird durch Ausfälle oder Schäden an Komponenten und Anlagenteilen (zum Beispiel Pumpen, die ausfallen, Leitungen, die kaputt gehen oder schwere Naturereignisse mit jeweils weiteren Ausfällen) ausgelöst und ist mit den kernkraftwerkseigenen Mitteln unter Kontrolle zu bringen. Dabei darf es nicht zu grösseren Schäden am Reaktorkern kommen.

Zu diesem Zweck verfügt das Kernkraftwerk über speziell geschützte, automatisierte Sicherheitssysteme und Störfallprozeduren. Sollte sich ein Auslegungsstörfall ereignen, ist damit sichergestellt, dass der Störfall beherrscht wird und eine Kernschmelze sicher verhindert wird. Dies muss nachgewiesen sein.

Dosiskriterium 100 Millisievert

Dieser Wert entspricht dem maximal zulässigen Wert, der im Rahmen der Nachweise für die ausreichende Vorsorge für Auslegungsstörfälle der Störfallkategorie 3 gemäss Art. 123 Absatz 2 Bst. d Strahlenschutzverordnung festgelegt ist.

 

2. Schritt: Ausbreitungsrechnung in einem Echtwetter-Szenario

Mit dem System JRODOS (Java based Realtime Online DecisiOn Support) hat das ENSI anschliessend die Ausbreitung der radioaktiven Stoffe berechnet. Dazu wurden echte Wetterdaten vom 11. Juni 2018 von MeteoSchweiz verwendet.

JRODOS

Mit JRODOS lässt sich die Ausbreitung radioaktiver Stoffe auf Basis von Echtwetterdaten berechnen. Das ENSI verwendet dazu räumlich und zeitlich hochaufgelöste Wind- und Niederschlagsdaten von MeteoSchweiz. Auf Basis dieser Wind- und Niederschlagsdaten berechnet das in JRODOS implementierte Lagrange-Partikel-Modell LASAT die Bewegungen der radioaktiven Partikel in der Atmosphäre.

Aus der so berechneten Verteilung der Aktivität in der Umgebung ergibt sich wiederum eine potenzielle Dosisverteilung in der Umgebung. Das Wort „potenziell“ weist darauf hin, dass es für das Zustandekommen einer solchen Dosis am jeweiligen Ort immer auch eine Person braucht, welche sich während eines Jahres dort aufhält und sich entsprechend den konservativen Annahmen der Richtlinie ENSI-G14 verhält.

Auf diese Weise ergibt sich für die Wind- und Regenverhältnisse im Beispiel vom 11. Juni 2018 das im Artikel publizierte Bild für die potenzielle Dosisverteilung. Die Wetterverhältnisse an diesem Tag sind bezüglich der radiologischen Folgen für die Umgebung ungünstig gewesen, weil Regen und schwacher Wind vorherrschten, welche zu höheren Dosiswerten führten.

Ergebnisse der Ausbreitungs- und Dosisberechnung bei einem Auslegungsstörfall im Kernkraftwerk Gösgen am Beispiel vom 11. Juni 2018.

Auch unter noch ungünstigeren Wetterverhältnissen ist kein starker Anstieg der potenziellen mittleren Dosis für die betroffene Bevölkerung und damit der potenziellen gesundheitlichen Folgen zu erwarten.

3. Schritt: Bestimmung der mittleren Dosis

Nachdem klar ist, wohin die radioaktiven Stoffe in der Umgebung verteilt werden, kann die mittlere Dosis bestimmt werden. Dazu werden alle ganz oder auch nur teilweise betroffenen Gemeinden berücksichtigt. In diesen Gemeinden leben gemäss Bundesamt für Statistik insgesamt rund 95‘000 Personen (Stand 2017).

Betroffene Gemeinden und ihre Dosen

Gemeinde Einwohner mittlere Dosis [mSv] Summendosis [Pers-mSv]
Aarau 21036 0.25 5259
Biberstein 1545 0.11 170
Buchs (AG) 7911 0.19 1503
Däniken 2776 0.58 1610
Eppenberg-Wöschnau 325 0.22 72
Erlinsbach (AG) 4091 0.11 450
Erlinsbach (SO) 2574 0.46 1184
Gretzenbach 2703 0.81 2189
Kölliken 4336 0.15 650
Küttigen 6081 0.13 791
Lostorf 3942 0.15 591
Niedergösgen 3831 1.80 6896
Oberentfelden 7743 0.13 1007
Obergösgen 2199 0.77 1693
Safenwil 3740 0.10 374
Schönenwerd 4948 0.37 1831
Stüsslingen 1062 0.22 234
Suhr 9990 0.12 1199
Unterentfelden 4102 0.11 451
Summe 94935 28153
Mittlere Dosis    0.30

In der Tabelle sind die potenziell betroffenen Gemeinden zusammen mit der Einwohnerzahl und der zugehörigen ermittelten mittleren Dosis aufgeführt. Die Multiplikation Letzterer ergibt für jede Gemeinde eine Summendosis. Dividiert man nun die Summe dieser einzelnen Gemeinde-Summendosen durch die Summe aller Einwohnerinnen und Einwohner, so erhält man eine potenzielle mittlere Dosis für die betroffene Bevölkerung für das Beispiel vom 11. Juni 2018.

Mit Hilfe von JRODOS hat das ENSI für jede dieser ganz oder teilweise betroffenen Gemeinden einen konservativen mittleren Dosiswert bestimmt. Dabei wurde unterstellt, dass jeweils alle Einwohnerinnen und Einwohner einer Gemeinde die entsprechende Dosis erhalten – unabhängig davon, ob sie tatsächlich von der Ausbreitung der radioaktiven Stoffe betroffen sind.

Ermittlung der mittleren Dosis auf dem Gemeindegebiet am Beispiel Suhr.

4. Schritt: Abschätzung der potenziellen gesundheitlichen Folgen

Um die möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner abzuschätzen, hat das ENSI erneut einen konservativen Ansatz gewählt. Gemäss internationaler Praxis wie zum Beispiel der Empfehlung der International Commission on Radiological Protection ICRP 103 wird bei der Berechnung der Störfalldosis im Rahmen der Vorsorge davon ausgegangen, dass die Betroffenen ein Jahr den radioaktiven Stoffen ausgesetzt sind. Damit die Strahlenbelastung der Folgejahre auch berücksichtigt wird, hat das ENSI für die Betrachtung der gesundheitlichen Folgen die errechneten Dosiswerte mit einem Faktor 2 multipliziert.

Obwohl nicht für einen solchen Zweck vorgesehen (siehe unten), wurde für die Abschätzung der potenziellen gesundheitlichen Folgen der von der ICRP angegebene schadensbereinigte Risikokoeffizient (detriment adjusted risk coefficient) für zusätzliche Krebserkrankungen und vererbbare Wirkungen herangezogen. Die im Artikel publizierten Zahlen zu den mutmasslichen gesundheitlichen Folgen dienen einzig der Einordnung von Aussagen und Zahlenwerten zu den Gesundheitsfolgen, die bei einem Auslegungsstörfall zu erwarten sind. Solche sind im Rahmen der Diskussionen zur Revision der Kernenergieverordnung in der Öffentlichkeit aufgetaucht.

Risikokoeffizienten

Der Risikokoeffizient beschreibt den Zusammenhang zwischen einer Dosis und den dadurch implizierten gesundheitlichen Auswirkungen respektive die Schäden für eine Personengruppe. Dabei ist im vorliegenden Kontext zwischen drei Risikokoeffizienten zu unterscheiden:

  • Der „nominal risk coefficient“ (nominelle Risikokoeffizient) beschreibt den Zusammenhang zwischen einer Dosis und dem Auftreten (Inzidenz) von Krebs oder genetischen Effekten im späteren Leben. Für schwer heilbare Krebserkrankungen (Letalität > 1 %) liegt dieser Risikofaktor gemäss ICRP-103 (Anhang A) für die allgemeine Bevölkerung bei 7 % pro Sievert. Der nominelle Risikokoeffizient berücksichtigt nicht unterschiedliche Schweregrade der Auswirkungen verschiedenartiger Krebserkrankungen.
  • Der Risikokoeffizient für strahleninduzierte Todesfälle beschreibt das Risiko, aufgrund einer erhaltenen Strahlendosis zu erkranken und an den Folgen zu sterben. Gemäss ICRP-103 (Anhang A) liegt dieser Risikokoeffizient für Krebserkrankungen für die allgemeine Bevölkerung bei 4 % pro Sievert.
  • Der „detriment adjusted risk coefficient“ (schadensbereinigte Risikokoeffizient) von 5,5 % pro Sievert (für Krebserkrankungen) gemäss ICRP-103 für die allgemeine Bevölkerung berücksichtigt zusätzlich zum reinen Todesfallrisiko auch, dass insbesondere bei Krebs (und genetischen Effekten) die Erkrankung auch für Überlebende teilweise mit einer verminderten Lebensqualität einhergeht. Demnach tragen nicht-letale Schäden der Krebserkrankungen mit zusätzlich 1,5 % pro Sievert zum Risikokoeffizient für strahleninduzierte Todesfälle bei.

Für Vergleiche mit den natürlich auftretenden Erkrankungen durch Krebs oder genetische Effekte müssen die Inzidenzzahlen mit der gleichen Methode, die bei den benutzten Risikofaktoren zur Ermittlung der Strahleneffekte angewandt wurde, todesfall- respektive schadensbereinigt werden.

Durch die Dosis, die im restlichen Leben akkumuliert wird, ergeben sich für das Beispiel Gösgen unter Verwendung des „detriment adjusted risk coefficient“ für Krebs gemäss ICRP von 5,5 % pro Sievert rein rechnerisch rund 3 zusätzliche schadensbereinigte Krebsfälle (entspricht rund 4 unbereinigten Fällen) in der betroffenen Bevölkerung von 95‘000 Personen.

Einschränkung

Die ICRP warnt vor der Risikoabschätzungen unter Verwendung des Linear-No-Threshold-Modells (LNT-Modell) und der zugehörigen Risikokoeffizienten bei derart niedrigen Dosiswerten. Demnach sind die Risikokoeffizienten nicht geeignet, um damit für kleine Dosiswerte in der Grössenordnung der natürlichen Untergrundstrahlung durch Multiplikation mit einer grossen Personenzahl prospektiv belastbare Aussagen über die absolute Zahl an Krankheitsfällen zu machen, die zu erwarten wären . Das United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) ist der gleichen Auffassung wie die ICRP.

Den rund 3 zusätzlichen Krebsfällen, welche sich aufgrund der im Beispiel ermittelten mittleren Strahlenbelastung mutmasslich, rein rechnerisch ergeben, stehen rund 26‘000 schadensbereinigte Krebsfälle (entspricht rund 40‘000 unbereinigten Fällen) gegenüber, welche erfahrungsgemäss in der betrachteten Population zu erwarten sind. Dies entspräche einem Anstieg von rund 0,01 % über 50 Jahre. Ein solcher Anstieg ist statistisch nicht identifizierbar.