Zehn Jahre nach Fukushima (1/6): Das führte zur Katastrophe 2011

Bildquelle: Tepco

Der Unfall in Fukushima am 11. März 2011 ging als folgenschwerster Reaktorunfall nach Tschernobyl in die Geschichte ein. Ein Expertenteam des ENSI hat die Umstände, die zur Katastrophe führten, einer vertieften Analyse unterzogen. Daraus hat das ENSI wichtige Schlüsse sowohl für die eigene Aufsicht als auch für die Sicherheit der Schweizer Kernanlagen abgeleitet.

Vor zehn Jahren zerstörten ein sehr starkes Erdbeben und ein darauffolgender Tsunami das Kernkraftwerk (KKW) Fukushima-Daiichi. Sicherheitssysteme fielen aus, in mehreren Reaktorblöcken kam es zu einer Kernschmelze und zur Freisetzung von erheblichen Mengen radioaktiver Stoffe. Die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima am 11. März 2011 wurde als INES 7 eingestuft – der Unfall im ukrainischen Tschernobyl 1986 war bis dahin der einzige, der auf der internationalen Ereignisskala je mit der höchsten Stufe, «Katastrophaler Unfall», bewertet wurde.

Die Ereignisse am 11. März 2011 alarmierten KKW-Betreiber, Behörden und Politik auf der ganzen Welt: Wie gut sind die Kernanlagen gegen Gefahren wirklich gewappnet? Auch das ENSI untersuchte eingehend, wie in Japan auf die Naturkatastrophe die Reaktorkatastrophe folgen konnte.

Video-Interviews

Zum Zeitpunkt, als in Fukushima der schwerwiegende Reaktorunfall geschah, war Patrick Miazza (BKW) Leiter des Kernkraftwerks Mühleberg. Im Video erzählt er, wie er damals von den Vorkommnissen erfuhr und wie die Zeit danach war.
Georg Schwarz, stellvertretender Direktor des ENSI, erinnert sich an den schwerwiegenden Reaktorunfall.

Die Chronologie des katastrophalen Unfalls

  • Vor den Ereignissen am 11. März 2011 befanden sich die Blöcke 1, 2 und 3 des KKWs Fukushima-Daiichi im Leistungsbetrieb, die Blöcke 4, 5 und 6 waren für Revisionen und Umrüstungen abgeschaltet.
  • Um 14:46 Uhr, Ortszeit (6:46 Uhr MEZ), wurden aufgrund des Erdbebens in den Blöcken 1 bis 3 automatische Reaktorschnellabschaltungen ausgelöst. Damit wurde die nukleare Kettenreaktion gestoppt. Weil die Stromversorgung über das öffentliche Netz für die Versorgung der Kraftwerkssysteme ausfiel, wurden die Notstromdieselgeneratoren gestartet. Die Blöcke reagierten laut der Betreiberin TEPCO damit auslegungsgemäss, also wie in solchen Fällen vorgesehen.
  • Um 14:49 Uhr erfolgte eine erste Tsunami-Warnung vor einer erwarteten Fluthöhe von drei Metern, zwei weitere folgten (um 15:14 Uhr wurde vor einer Fluthöhe von sechs, um 15:30 Uhr vor einer Fluthöhe von zehn Metern gewarnt). Die erste Welle erreichte die nördliche Ostküste Japans und damit das Kraftwerksgelände um 15:27 Uhr.
  • Die zweite Welle mit einer tatsächlichen Höhe von 14 bis 15 Metern überflutete um 15:35 Uhr zunächst Teile des Geländes – der Tsunami-Schutzwall war auf eine maximale Wellenhöhe von 5,7 Metern ausgelegt – und kurz darauf wesentliche Teile der Infrastruktur, die bis zu einer Höhe von zehn Metern gegen Überflutung geschützt war. Betroffen waren unter anderem die nuklearen Nebenkühlwassersysteme und verschiedene sicherheitstechnische Ausrüstungen.
  • Auch die Dieselgeneratoren, die die Anlage im Zustand «Notstromfall» gehalten hatten, fielen mit der Überflutung aus, da sie weder gebunkert noch auf einem erhöhten Level platziert waren. Damit war in den Blöcken 1 bis 4 auch die Notstromversorgung ausgesetzt («Station Blackout») – und die Energieversorgung, die zur Kühlung der Brennelemente in den Reaktorkernen und den Brennelement-Lagerbecken nötig ist, fehlte.
  • Um 15:42 Uhr wurde für Fukushima-Daiichi der Notstand ausgerufen. Das Gelände war für 22 Minuten überflutet.
  • Eine Reihe Sicherheitssysteme waren durch den Tsunami in ihrer Funktion ausgehebelt oder beeinträchtigt. Im weiteren Verlauf sank der Füllstand in den Reaktordruckbehältern der Reaktorblöcke 1 bis 3. Es folgte eine regelrechte Unfallserie – Notfallmassnahmen scheiterten: Versuche, Systeme wieder funktionstüchtig zu machen oder die Reaktorkerne und das Containment etwa mit Meerwasser zu kühlen, unterblieben oder waren erfolglos.
  • Wasserstoffexplosionen und nachfolgende Brände hatten den betroffenen Reaktorgebäuden (Blöcke 1 bis 4) zusätzlich zugesetzt und die Notfallarbeiten erschwert beziehungsweise unmöglich gemacht. Die Kernschmelze (Blöcke 1 bis 3) und die Freisetzung von Radioaktivität (Blöcke 1 bis 3 im erheblichen, Block 4 in geringerem Ausmass) wurden nicht verhindert. Bereits am ersten Abend nach dem Erdbeben und dem Tsunami waren die Brennstäbe im Block 1 geschmolzen.
  • Auch in den Blöcken 5 und 6 fiel die Notstromversorgung weitestgehend aus. Erhebliche Brennstoffschäden konnten aber mit Hilfe eines verbliebenen Notstromdiesels abgewendet werden: Mit ihm war die Stromversorgung zu den Nachwärmeabfuhrpumpen sichergestellt und die Brennelement-Lagerbecken konnten nach einem Unterbruch wieder gekühlt werden.

Die Fukushima-Analyse des ENSI im Detail

Die Kernanlagen in der Schweiz waren bereits vor der Katastrophe in Fukushima auf einem hohen Sicherheitsniveau. Sie verfügen – im Gegensatz zu der Anlage in Fukushima – über speziell gebunkerte Notstandsysteme, die besonders gut gegen externe Einwirkungen geschützt sind.  Ferner wurden und werden die Gefährdungsanalysen für schwere Naturereignisse wie Erdbeben oder Überflutung in der Schweiz regelmässig mit modernsten Methoden aktualisiert und die Sicherheit der Kernkraftwerke periodisch umfassend überprüft und verbessert.

Um die Tragweite und die Komplexität der Ereignisse in Fukushima zu verstehen und möglichen Handlungsbedarf für die Sicherheit der Schweizer Kernanlagen abzuleiten, wurde im ENSI ein interdisziplinäres Analyseteam gebildet: Expertinnen und Experten aus den Bereichen Sicherheitsanalysen, Mensch & Organisation, Strahlenschutz, Elektrotechnik, Maschinentechnik, Werkstofftechnik und Systemtechnik kamen als «Japan-Team» zusammen. Das «Japan-Team» erarbeitete sechs Berichte zu den Ereignissen und deren Folgen:

Das starke Erdbeben vor Japan zog demnach den Ausfall der externen Stromversorgung nach sich und löste einen Tsunami mit einer Wellenhöhe von 14 bis 15 Metern aus. Der Tsunami verursachte einen sogenannten Station Blackout am Standort Fukushima-Daiichi. Ausfälle der Kernkühlung (Block 1), der Containment-Kühlung (Blöcke 1 bis 3) und der Kühlung der Brennelement-Lagerbecken (Block 4) waren die unmittelbare Folge – sie waren für den weiteren Unfallablauf massgeblich.

Die Ausfälle der Kernkühlung in den Blöcken 2 und 3 traten nach mehr als einem Tag auf ­– die zunächst funktionierenden (dampfbetriebenen) Kernkühlsysteme waren nicht auf einen längeren Betrieb ausgelegt und die Notfallmassnahmen zum Übergang auf eine alternative Kernkühlung erfolgten nicht rechtzeitig. Die Reaktorkerne (Blöcke 1 bis 3) überhitzten, das Kernmaterial schmolz. Wasserstoffexplosionen zerstörten die Reaktorgebäude in den Blöcken 1, 3 und 4, beschädigten das Reaktorgebäude im Block 2, und radioaktive Stoffe gelangten unkontrolliert und in erheblichen Mengen in die Umwelt.

Noch am Abend des 11. März 2011 wurde die Bevölkerung im Umkreis von drei Kilometern evakuiert, ab 5 Uhr des nächsten Morgens im Umkreis von zehn, am Abend des 12. März im Umkreis von 20 Kilometern. In den Folgemonaten wurden auch weitere Gebiete aufgrund der Strahlenbelastung evakuiert.

Verkettung von zahlreichen Mängeln

Die Hauptgründe für den Unfall im KKW Fukushima-Daiichi sieht das ENSI in der technisch unzureichenden Auslegung gegen Tsunamis – insbesondere infolge Erdbeben –, in der falschen Einschätzung der Gefährdung sowie in Mängeln bei der Vorsorge gegen auslegungsüberschreitende Störfälle (bezüglich Vorschriften und Ausrüstung). Die Analyse der Umstände deckte aber auch eine Reihe struktureller Mängel auf, die einen Einfluss auf die unzureichende Sicherheitsvorsorge hatten: die fehlende Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde, das mangelhafte Sicherheitsbewusstsein bei Betreiberin und Behörden, ungenügende regulatorische Vorgaben und eine unzureichend gesetzliche Verankerung der Notfallvorbereitung. Aus den Fehlern hat die Nuklearbranche weltweit gelernt.

Auch in der Schweiz wurde die Gesetzgebung zur Kernenergie und zum Strahlenschutz überarbeitet. Ausserdem wurden der internationale Erfahrungsaustausch intensiviert und die Notfallvorkehrungen erweitert. Die KKW mussten weitere Nachweise erbringen und Nachrüstungen leisten, um den gehobenen Sicherheitsanforderungen in puncto Erdbeben, Überflutung, Strom- und Kühlwasserversorgung gerecht zu werden. Zudem wurde eine umfassende Neuanalyse der Hochwassergefährdung an der Aare (Projekt EXAR) nach aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik unter der Leitung des Bundesamts für Umwelt BAFU initiiert. Ferner lässt das ENSI seine Aufsichtstätigkeit von internationalen Experten kontrollieren und die Schweizer KKW müssen dem europäischen Sicherheitsvergleich standhalten (EU-Stresstest und Follow-ups). Beim ersten EU-Stresstest nach den Ereignissen in Fukushima schnitten die Schweizer KKW gut ab. Die Evaluierung der Sicherheit ist aber ein stetiger Prozess.

Dies ist der erste Teil der ENSI-Serie anlässlich des zehnten Jahrestages der Katastrophe in Fukushima-Daiichi vom 11. März 2011. Der zweite Teil befasst sich mit den radiologischen Auswirkungen des Unfalls und erscheint am 11. Februar 2021.