Was Oskar Grözinger bei seinen Überprüfungen beobachtete

Oskar Grözinger

Oskar Grözinger hat die überwiegende Zeit seines Berufslebens in der nuklearen Aufsicht gearbeitet. Der Physiker war im EU-Stresstest stellvertretender Vorsitzender des Bereichs «Topic 1 – äussere Einwirkungen ». Als Teamleader der Überprüfungsexperten hat er die Niederlande, die Slowakei und Spanien inspiziert und Peer-Reviews in Taiwan, Armenien und Weissrussland betreut. Seit 2012 ist er Mitglied des ENSI-Rates.

Oskar Grözinger, Sie waren seit Beginn des EU-Stresstests in die Überprüfungen involviert. Haben die europäischen Kernkraftwerke alle Erkenntnisse aus dem EU-Stresstest bereits umgesetzt?

Würden wir den EU-Stresstest heute erneut durchführen und mit den Ergebnissen aus den Jahren direkt nach Fukushima vergleichen, dann würden wir sehen, dass viele Nachrüstungen, die im Stresstest und den anschliessenden nationalen Aktionsplänen angeregt wurden, in den europäischen Werken zwischenzeitlich umgesetzt sind. In Europa gibt es keine Anlagen mehr, die man als unsicher bezeichnen muss, denn alle EU-Staaten mit Kernanlagen haben viel unternommen, um die nukleare Sicherheit ihrer Werke zu erhöhen. Wir würden aber auch sehen, dass in einigen Ländern die Umsetzung etlicher Sicherheitsverbesserungen sich mehr als ursprünglich angedacht verzögert haben oder noch nicht umgesetzt sind. Die Gründe für diese Verzögerungen sind vielfältig. Sie reichen von komplexer als gedachten technischen Anforderungen über aufwändige Bewilligungsverfahren bis zu den höher als erwarteten Kosten. In einigen Ländern fehlt es am nötigen Geld, um in die weitere Erhöhung der Sicherheit investieren zu können.

Welche Resultate hat der EU-Stresstest nach Fukushima gebracht?

Der EU-Stresstest nach Fukushima hat klar gezeigt, dass es grosse Unterschiede in den Sicherheitsvorkehrungen der Kernkraftwerke in Europa gibt. Die Schweizer Kernkraftwerke haben im internationalen Vergleich sehr gut abgeschnitten. Dies ist nicht zuletzt ihrer ausgeprägten Sicherheitskultur geschuldet.

Welche Beobachtungen haben Sie zum Thema Sicherheitskultur in ihrer Tätigkeit als Überprüfungsexperte gemacht?

Die Öffentlichkeit ist ein wichtiger Treiber für die Sicherheit in Kernanlagen. Wenn ein Land über eine wache und kritische Öffentlichkeit verfügt, die ein gewisses Verständnis hat für die technischen Sachverhalte rund um die Sicherheit, dann fördert dies die Sicherheit der Anlagen. Öffentlichkeit und Medien sind wichtige Beobachter der Aufsichtsbehörden und der Beaufsichtigten. Je grösser der Teil der Bevölkerung ist, der kritisch und verantwortungsbewusst mitdenkt, desto ausgeprägter ist auch die Sicherheitskultur in diesem Land. Das konnte ich immer wieder beobachten.

Wo steht die Schweiz in punkto Sicherheit?

Die Schweiz verfügt über eine sehr wache und kritische Öffentlichkeit. Die Mentalität ist sicherheitsgerichtet. Zusätzlich verfügt die Schweiz schon seit vielen Jahren über einen im internationalen Vergleich sehr fortschrittlichen und sicherheitsfördernden Rechtsrahmen. Das ENSI ist eine unabhängige Instanz und hat als Aufsichtsbehörde die nötigen Instrumente für die Erfüllung seiner Aufgaben. Aber auch die Betreiber waren und sind bereit, laufend in die Erhöhung der Sicherheit zu investieren. Die Anlagen werden verantwortungsbewusst betrieben und sind im internationalen Vergleich sehr sauber. An vielen Stellen in den Anlagen hat man fast den Eindruck, man könne vom Boden essen – und das sage ich, weil ich schon viele Kernkraftwerke besucht habe und die Sauberkeit in den Schweizer Werken einfach positiv auffällt.

Dieses Interview gehört zum dritten Teil der ENSI-Serie anlässlich des zehnten Jahrestages der Katastrophe in Fukushima-Daiichi vom 11. März 2011.