Zehn Jahre nach Fukushima (3/6): Der EU-Stresstest

EU-STRESSTEST: INTERNATIONALES EXPERTENTEAM BESUCHT BEZNAU

Unmittelbar nach dem schwerwiegenden Reaktorunfall in Fukushima-Daiichi hat das ENSI eine umfangreiche Ursachenanalyse gestartet und sich aktiv am EU-Stresstest beteiligt. Er bestätigte damals: Die Schweizer Kernkraftwerke verfügen im internationalen Vergleich über eine hohe Sicherheit. Trotz dieser Erkenntnis ist es wichtig, stets aufmerksam zu bleiben, die Sicherheitsnachweise aktuell zu halten und Vorkommnissen systematisch auf den Grund zu gehen. Denn: «Sicherheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess», betont Georg Schwarz, stellvertretender Direktor des ENSI.

Naturereignisse waren der Auslöser für den Reaktorunfall in Fukushima-Daiichi: Das schwere Erdbeben, ein Tsunami und die darauffolgende Überflutung führten zu Stromausfällen und Schäden am Kernkraftwerk (KKW) Fukushima-Daiichi, die für den Verlauf des schwerwiegenden Reaktorunfalls eine grosse Rolle spielten. Dies haben die internationale Gemeinschaft und das ENSI zum Anlass genommen, die Sicherheit der Kernanlagen auf Erdbeben und Hochwasser hin erneut zu überprüfen. In Europa haben die WENRA und die ENSREG unmittelbar nach dem Unfall den EU-Stresstest lanciert.

Der EU-Stresstest ist eine direkte Folge der Geschehnisse in Japan. Folgende drei Fragen standen im Zentrum:

  • Würden die Kernanlagen in Europa, insbesondere die KKW, extremen Erdbeben und Hochwasser standhalten?
  • Wie können die KKW mit dem Verlust von Strom und Wärmesenke umgehen?
  • Welche Strategien verfolgen die KKW, um schwere Unfälle zu bewältigen?

Das ENSI hat am 1. Juni 2011 verfügt, dass auch die Schweizer KKW am EU-Stresstest teilnehmen. Das hiess für die Betreiber, dem ENSI fundierte Überprüfungsunterlagen zu den Themen Erdbeben und Hochwasser bis Ende Oktober 2011 einzureichen. Das ENSI hat seinerseits bis Ende Dezember des gleichen Jahres die Nachweise bewertet und einen Schweizer Länderbericht zuhanden der ENSREG erstellt.

Ablauf des EU-Stresstest in drei Phasen

Phase 1: Selbst-Assessment

Die Betreiber haben die drei Fragen für ihre Anlagen beantwortet. Die Sicherheitsbehörden haben die Betreiberangaben in einem Länderbericht bewertet und bis Ende 2011 der EU und den anderen Staaten, die sich am EU-Stresstest beteiligt haben, zum Peer-Review geschickt.

Phase 2: Peer-Review

In einem zweiwöchigen Workshop im Februar 2012 haben die Länder ihre Berichte und Schlussfolgerungen präsentiert. Dabei wurden sie von Expertinnen und Experten aus allen EU-Ländern plus Schweiz und Ukraine zu den drei Hauptthemen befragt und ihre Schlussfolgerungen wurden beurteilt. Anschliessend hat eine Gruppe von Expertinnen und Experten jedes Land besucht. Die Aussagen der Länderberichte wurden mit diesen sogenannten «Site Visits» überprüft. Ende April 2012 ist pro Land der Country Review Report entstanden.

Phase 3: Follow-Up mit Weiterverfolgung der Ergebnissen und Massnahmen der Länder

Die Länder haben sich verpflichtet, über die Fortschritte bei der Bearbeitung der offenen Punkte aus dem Peer-Review sowie bei der Umsetzung von konkreten Verbesserungsmassnahmen periodisch zu berichten. Ende 2012 und Ende 2014 reichte jedes Land einen nationalen Aktionsplan ein, welcher einem erneuten Peer-Review in einem Workshop unterzogen wurde.

Schweiz hat offene Punkte identifiziert

Aus dem EU-Stresstests ergaben sich acht offene Punkte, zu denen das ENSI Nachforderungen an die Kernanlagen stellte, z.B. zur Überprüfung, inwiefern die Isolation des Reaktor-Containments Erdbeben standhält, zur Analyse von Verklausungen, also von möglichen Verstopfungen von Engpässen in Flüssen beispielsweise bei Brücken oder Wehranlagen.

Zusätzlichen Klärungsbedarf sah das ENSI auch bezüglich Erdbebenfestigkeit des Wohlensee-Staudamms

All diese Nachweise haben die Schweizer Kernkraftwerke in den Jahren nach 2011 erbracht. Daraus haben sich ebenfalls punktuelle Nachrüstungen ergeben, die die Sicherheitsmargen erhöht haben.

Das ENSI hat die Sicherheitsüberprüfungen auch nach Abschluss des EU-Stresstests weitergeführt. Im Rahmen des 2015 abgeschlossenen Projektes ERSIM wurden die bestehenden Sicherheitsmargen der Schweizer Kernkraftwerke gegen externe Ereignisse systematisch analysiert. Basierend auf den Ergebnissen dieser Analysen wurden Bereiche identifiziert, in denen Nachrüstungen zu einer weiteren Verminderung des Risikos beitragen können.

«Eine erneute Überprüfung des Erdbeben- und Hochwasserschutzes auf der Basis der neuesten Erkenntnisse ist für Erdbeben im Gange und steht für Hochwasser kurz vor dem Abschluss», sagt der stellvertretende ENSI-Direktor Georg Schwarz. Generell wird die Sicherheit der Schweizer KKW spätestens alle 10 Jahre im Rahmen der Periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) umfassend überprüft.  

Herausforderungen auf europäischer Ebene

Der EU-Stresstest war eine erstmals auf diese Art und Weise durchgeführte Überprüfung auf europäischer Ebene im Nuklearbereich. Die Öffentlichkeit konnte sich am EU-Stresstest beteiligen und die eingereichten Berichte kommentieren. Ausserdem wurde der ganze Prozess der Überprüfungen sehr transparent ausgewiesen. Auch bezüglich der Partizipation der Öffentlichkeit war der EU-Stresstest somit ein Novum.

Die Überprüfungen in den Jahren 2011 und 2012 haben gezeigt, dass das Modell der Peer-Reviews erfolgreich sein kann: die Beobachtung der Peers fördert das Verantwortungsbewusstsein der Länder zur Behebung der identifizierten offenen Punkte.

Die Herausforderung bei der Überprüfung ausländischer Anlagen durch fachkundige Experten liegt einerseits im grossen Aufwand, um vergleichbare und sinnvolle Erkenntnisse aus den Anlagebesichtigungen und Berichten zu ziehen. Andererseits ist es international eine Herausforderung, die Aufmerksamkeit für die Phase der Weiterverfolgung aufrechtzuerhalten: Nach der zweiten Follow-Up-Runde hatte das Interesse der Teilnehmer abgenommen, die im EU-Stresstest identifizierten Verbesserungsmassnahmen weiter beobachten zu wollen, obwohl diese in einigen Ländern noch nicht komplett realisiert wurden.

Das Modell EU-Stresstest konnte sich aus heutiger Sicht auf alle Fälle etablieren. Die 2014 aktualisierte EU-Sicherheitsrichtlinie schreibt das periodische sogenannte Topical Peer Review jeweils für ein spezifisches Thema zur nuklearen Sicherheit vor. Die Schweiz ist bei den Topical Peer Reviews ebenfalls dabei.

Das ist der dritte Teil der ENSI-Serie anlässlich des zehnten Jahrestages der Katastrophe in Fukushima-Daiichi vom 11. März 2011. Das ENSI zog auch unabhängig vom EU-Stresstest seine Schlüsse aus dem schwerwiegenden Reaktorunfall in Japan. Entstanden ist eine Serie von Aktionsplänen, in denen das ENSI über die analysierten Themen und die entsprechenden Fortschritte in den Betrachtungen öffentlich berichtet hat. Darüber lesen Sie mehr im nächsten Teil der Serie, der am 25. Februar 2021 erscheint.