Die Lehren aus der Fukushima-Analyse für die Aufsicht im Bereich Mensch und Organisation

Seit dem 11. März 2011 befasst sich das ENSI mit den Lehren aus dem Reaktorunfall in Fukushima-Daiichi. Zum zehnten Jahrestag veröffentlicht das ENSI einen weiteren Bericht und reflektiert seine Aufsichtsansätze und -methoden im Bereich Mensch und Organisation.

Im Nachgang des Reaktorunfalls im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi vom 11. März 2011 analysierte das ENSI die Ereignisse und deren Folgen unter verschiedenen Gesichtspunkten in den Fukushima-Berichten. Das ENSI legte unter anderem den Fokus auf die menschlichen und organisatorischen Aspekte des Unfalls. Im ersten Bericht in diesem Bereich befasste sich das ENSI mit den Organisationen, die an der Bewältigung der Ereignisse beteiligt waren, im zweiten Bericht mit dem Unfallablauf aus Sicht der beteiligten Menschen vor Ort.

Nun veröffentlicht das ENSI den Folgebericht «Implikationen für die Aufsicht im Bereich von Mensch und Organisation». Hintergrund des Berichts sind unter anderem die Mängel, die bei der Analyse des Reaktorunfalls in der Aufsicht aufgedeckt wurden, und die Erkenntnis, dass eine ausgeprägte Sicherheitskultur nicht nur für die Betreiber von Kernanlagen wichtig ist, sondern auch für die Aufsichtsbehörde selbst. Denn auch die Sicherheitskultur des Aufsichtsorgans hat Einfluss auf diejenige in den Kernanlagen.

Aufsichtsbehörden auf dem Prüfstand

Nach dem Reaktorunfall 2011 standen auch die Aufsichtsbehörden weltweit auf dem Prüfstand. In der Schweizer Gesetzgebung sind internationale Überprüfungsmissionen alle zehn Jahre fest verankert. Im Oktober 2021 wird die nächste IRRS-Mission der IAEA in der Schweiz stattfinden: Internationale Expertinnen und Experten werden die Arbeit des ENSI überprüfen. Etwa drei Jahre nach einer Mission findet eine sogenannte Follow-up-Mission statt. Dabei wird die Umsetzung der Verbesserungsmöglichkeiten, die während der vorgängigen Mission empfohlen wurden, überprüft.

Im nun vorliegenden Fukushima-Bericht reflektiert das ENSI seine Ansätze und Methoden im Aufsichtsbereich Mensch und Organisation. Aktuelle Erkenntnisse aus den Sicherheitswissenschaften sind darin eingeflossen. Beispielsweise wird der sogenannte systemische Ansatz thematisiert. Nach ihm werden Kernanlagen als komplexe Systeme begriffen, in denen die Bereiche Mensch, Technik und Organisation in Wechselwirkung zueinanderstehen, sogenannte MTO-Systeme.

Das Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung

Aus systemischer Sicht ist in den Kernanlagen ein Managementsystem erforderlich, in dem die kontinuierliche Verbesserung des Zusammenspiels der Bereiche Mensch, Technik und Organisation grossgeschrieben wird. In ihrer Aufsicht überprüft die Sektion Mensch und Organisation (MEOS) des ENSI, ob und wie der systemische Ansatz von den Beaufsichtigten berücksichtigt wird.

Die Art und Weise der Aufsicht wiederum kann das Verantwortungsbewusstsein der Beaufsichtigten stärken – oder im ungünstigsten Fall schwächen – und Dynamiken, die sich auf die Sicherheit der Anlagen auswirken können, beeinflussen.

Selbstreflexion und Dialog mit den Beaufsichtigten

Der Unfall in Fukushima-Daiichi hat seinen Lauf genommen, weil unter anderem das Bewusstsein für die Möglichkeit unerwarteter schwerer Ereignisse, namentlich von Tsunamis, sowohl bei der Betreiberin als auch bei den Behörden ungenügend ausgeprägt war. Die Strukturen in Japan haben ausserdem zu einer ungenügenden Sicherheitsvorsorge geführt. Auch wenn die Vorbereitung auf Störfälle technisch und organisatorisch bestmöglich umgesetzt wird – angesichts des hohen Gefährdungspotentials der Kernanlagen müssen Betreiber und Aufsicht immer mit dem Unerwarteten, also sehr seltenen Ereignissen, rechnen und damit umgehen können. Im Fachterminus ist von «resilienten Organisationen» die Rede. Dem liegt ein Sicherheitsverständnis zugrunde, das mit «Safety-II» bezeichnet wird.

Neben dem etablierten «Lernen aus Fehlern» («Safety-I»-Ansatz) wird im «Safety-II»-Verständnis davon ausgegangen, dass Sicherheit gestärkt wird, wenn auch aus den gut funktionierenden Praktiken und Abläufen gelernt wird. Die Sektion MEOS hat hierzu auch Hinweise aus dem Sicherheitsmanagement der Zivilluftfahrt für die eigene Aufsicht abgeleitet sowie spezifische Aufsichtsansätze und -methoden erarbeitet: Im Zentrum steht der Dialog mit den Beaufsichtigten, der die Selbstreflexion fördert.

Zudem nimmt die Sektion MEOS den Bericht «Implikationen für die Aufsicht im Bereich von Mensch und Organisation» als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung ihrer eigenen Aufsichtstätigkeit.

Entscheidungen in Notfallsituationen

Im Bericht sind ebenfalls die Fähigkeiten und Eigenschaften thematisiert, die nötig sind, um in Notfallsituationen unter Ungewissheit, Zeitdruck und Stress Entscheidungen zu treffen. Sowohl die Kompetenzen von Einzelpersonen und Teams als auch technische und organisatorische Faktoren wirken sich auf Entscheidungen aus. Ihr Zusammenwirken ist daher ebenfalls Gegenstand der laufenden Aufsicht durch die Sektion MEOS.