Biosphère-Studie ist wissenschaftlich nicht haltbar

Das ENSI leitet gemäss seinem gesetzlichen Auftrag laufend Erkenntnisse aus der Wissenschaft für seine Arbeit ab. Dafür müssen die abgeleiteten Aussagen technisch und wissenschaftlich haltbar sein. Da eine vom ENSI überprüfte Studie zum Thema Notfall- und Strahlenschutz des Instituts Biosphère diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann das ENSI keine gewinnbringenden Erkenntnisse aus dieser Studie ziehen.

«Basierend auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen können wir die Grundlagen unserer Arbeit verbessern», sagt Rosa Sardella, Leiterin des Bereiches Strahlenschutz beim ENSI. «Die Ergebnisse der Forschung lassen wir insbesondere in die Weiterentwicklung der Gesetzgebung in der Schweiz einfliessen.» Das ENSI stützt sich in seiner Arbeit im Notfall- und Strahlenschutz auf international anerkannte Empfehlungen der WHO, der UNSCEAR oder der ICRP. Die angewendeten Modelle entsprechen dem internationalen Konsens und sind demnach relevant für die Aufsichtstätigkeit des ENSI.

Das ENSI setzt sich auch mit Studien auseinander, die von kernenergiekritischen Kreisen in Auftrag gegeben und publiziert werden. Das ENSI kann aus diesen Studien nur dann gewinnbringende Erkenntnisse ableiten, wenn diese nach wissenschaftlichen Standards belastbar sind. Insbesondere müssen die der Studie zugrunde liegenden Annahmen sowie die gezogenen Schlussfolgerungen aus wissenschaftlicher Sicht korrekt und nachvollziehbar sein.

Vermischung von Modellen und Quelltermen

Das ENSI hat zuletzt eine Auftragsstudie zu den Folgen eines Reaktorunfalls in der Schweiz und Frankreich mit grossen Freisetzungen («Modeling of a Major Accident in Five Nuclear Power Plants From 365 Meteorological Situations in Western Europe and Analysis of the Potential Impacts on Populations, Soils and Affected Countries» des Instituts Biosphère) im Detail überprüft, auch hinsichtlich der zugrunde liegenden Annahmen. Dabei handelte es sich um einen sehr aufwändigen Prozess. Die Ergebnisse der Überprüfung hat das ENSI nun in seiner Stellungnahme festgehalten.

Die in der Biosphère-Studie geäusserten Hauptkritikpunkte betreffen die Wahrscheinlichkeit eines schwerwiegenden Unfalls, die daraus entstehenden Auswirkungen für die Bevölkerung und die Landwirtschaft sowie die Handlungsfähigkeit der für den Notfallschutz Schweiz verantwortlichen Stellen. Die Aussagen der Biosphère-Studie basieren auf unausgewogenen und teilweise falschen Interpretationen der referenzierten Publikationen. Das ENSI kommt zum Schluss, dass die darin enthaltenen Aussagen und Schlussfolgerungen wissenschaftlich nicht haltbar sind und widerspricht der Studie entschieden.

Richtigstellung der Hauptkritikpunkte

Zu den Hauptkritikpunkten stellt das ENSI das Folgende richtig:

Wahrscheinlichkeit eines schwerwiegenden Nuklearunfalls

Aus diversen Referenzen wird in der Biosphère-Studie die Wahrscheinlichkeit einer sehr grossen Freisetzung aus den fünf untersuchten Kernkraftwerken innerhalb von 50 Jahren Betriebszeit der Kernkraftwerke mit 0.8 % abgeschätzt und somit als «wahrscheinlich» bezeichnet. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass die zitierten Referenzen das Ergebnis der Biosphère-Studie nicht stützen. Die von der Studie geschätzte Häufigkeit beruht auf der Verwendung dafür unzulässiger Daten, wie die Autoren der Daten selbst erklären. PSA-Modelle (wie Modelle im Allgemeinen) haben bekannterweise Einschränkungen und werden gemäss ihrem Verwendungszweck eingesetzt. ln der Schweiz verfolgt das ENSI seit mehr als zwanzig Jahren einen integrierten Ansatz, bei welchem sich probabilistische und deterministische Analysen gewinnbringend ergänzen, um einen hohen Sicherheitsstandard zu halten und kontinuierlich zu verbessern.

Auswirkungen eines schwerwiegenden Nuklearunfalls

Quellterm: Aus den verschiedensten Referenzen wird in der Biosphère-Studie für den schweren Unfall ein Quellterm unterstellt, der dem mit zusätzlichen Nukliden ergänzten Quellterm von Tschernobyl entspricht. Das ENSI distanziert sich von der Vorgehensweise, die zu dieser Art von Worst-Case-Quellterm führt. Das ENSI beurteilt die Unterstellung eines Quellterms aus einem RBMK-Reaktor (sowjetischer graphitmoderierter Siedewasserreaktor der Druckrohrbauart) als Folge einer prompt überkritischen Reaktivitätsexkursion für einen schweren Unfall eines Schweizer Kernkraftwerks als unseriös. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Vorgehensweise zu einer Überschätzung um den Faktor acht der Kontamination durch Cs-137 führt.

Ausbreitung der radioaktiven Stoffe und Kontamination der Umwelt

Aufgrund der hohen Freisetzungsmengen berechnet die Biosphère-Studie anhand eines grob aufgelösten Ausbreitungsmodells mithilfe von groben Meteodaten, dass Acker- und Weideland mit einer Fläche zwischen 16’000 und 37’000 km2 unbrauchbar kontaminiert würden. Das ENSI hat die Berechnungen auf Basis der in der Studie vorliegenden Informationen analysiert und kommt zum Schluss, dass die Berechnungen eher ungenau aber plausibel sind. Das ist jedoch von untergeordneter Bedeutung, weil die Resultate der Berechnungen direkt vom unterstellten Quellterm abhängig sind. Je höher der unterstellte Quellterm desto grösser und/oder stärker ist das kontaminierte Gebiet. Das ist keine neue Erkenntnis. Das ENSI kann demzufolge die Ergebnisse aus der Studie zu den Auswirkungen auf die Umwelt nicht akzeptieren, da das ENSI den dafür verwendeten Quellterm (siehe oben) als nicht adäquat beurteilt.  

Auswirkungen auf die Gesundheit

Die Biosphère-Studie verwendet für die Berechnung der gesundheitlichen Auswirkungen aus ionisierender Strahlung drei eigene Methoden, die keinem international anerkannten Modell (weder demjenigen der WHO, noch demjenigen der UNSCEAR, und auch nicht demjenigen der ICRP) entsprechen. Das ENSI stellt fest, dass ein grundlegendes Missverständnis seitens der Autoren der Biosphère-Studie vorliegt, was die Beziehung von Excess Relative Risk (ERR) oder Excess Absolute Risk (EAR) und dem Nominal Risk Factor von der ICRP von 5.5 % pro Sievert (Sv) angeht. Das Missverständnis ist so beträchtlich, dass es starke Zweifel am wissenschaftlichen Wert aller weiteren Aussagen zu den gesundheitlichen Auswirkungen gibt. Zudem werden die Ergebnisse aus den ausgewählten Referenzen verschiedentlich falsch oder verzerrt wiedergegeben. Das ENSI kommt zum Schluss, dass die Berechnung der gesundheitlichen Auswirkungen in der Studie grundlegende Fehler aufweist.

Schlussfolgerung für den Notfallschutz in der Schweiz

Die Autoren der Biosphère-Studie schlussfolgern, dass das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) gegen geltendes Recht verstossen würde da der Notfallschutz Schweiz überhaupt nicht in der Lage wäre, präventive Schutzmassnahmen vor der Wolkenphase umzusetzen. Darlegungen, Referenzen oder Modellrechnung für diese Aussage liegen aber nicht vor. Das ENSI kann die Aussagen der Biosphère-Studie aufgrund fehlender Argumentation nicht nachvollziehen. Die Risiken im Notfallschutz werden regelmässig neu beurteilt und wenn nötig angepasst. Die zugehörigen Abläufe werden in den gesetzlich vorgeschriebenen Gesamtnotfallübungen geübt und kritisch hinterfragt. Eine entsprechende Diskussion zum Notfallschutz Schweiz ist in der Biosphère-Studie nicht zu finden.

Aus diesen Gründen distanziert sich das ENSI von den Resultaten der Biosphère-Studie und kann aus den Ausführungen keine gewinnbringenden Erkenntnisse ziehen.

LNT-Modell als konservative Annahme

Derzeit lassen sich keine neuen Erkenntnisse aus den wissenschaftlichen Aussagen ableiten, welche das LNT-Modell als konservative Annahme für den Strahlenschutz – wie in der neuerlich komplett revidierten schweizerischen Strahlenschutzverordnung bereits implementiert – in Frage stellen würden. Das ENSI engagiert sich im fachlichen Austausch mit den Behörden und Kommissionen für Strahlen- und Notfallschutz in der Schweiz sowie international, damit die Schweiz ihre Kompetenzen bei der Einschätzung von Strahlenrisiken dauerhaft erhalten kann.