Gemeinsames Interesse am Schutz sensibler Daten: Warum das ENSI zum terroristischen Flugzeugabsturz nur wenig sagen darf

Kernanlagen sind schützenswerte Infrastrukturen, über die aus nachvollziehbaren Gründen keine sensiblen Daten veröffentlicht werden dürfen. Das ENSI kann deshalb nicht immer auf alle Informationsbedürfnisse der Medienschaffenden eingehen. Im November 2020 haben zwei Personen Einsicht in die geheimen Überprüfungsunterlagen bezüglich eines vorsätzlichen Absturzes eines Flugzeuges auf ein Schweizer Kernkraftwerk in einem Gesuch verlangt. In einem Interview erläutert Georg Schwarz, stellvertretender ENSI-Direktor, das Resultat der auf dem Öffentlichkeitsgesetz basierenden Verhandlungen mit den Gesuchstellenden.

Überprüfung des Schutzes vor vorsätzlichen Flugzeugabstürzen auf ein Schweizer Kernkraftwerk

Nach den Attentaten vom 11. September 2001 in den USA verlangte das ENSI von den Betreibern eine vertiefte Analyse zur nuklearen Sicherheit bei einem vorsätzlichen Absturz eines Verkehrsflugzeugs auf ein Kernkraftwerk. In der Zwischenzeit sind neue Flugzeugtypen in Betrieb genommen worden und die Navigationstechnik hat sich weiterentwickelt. Das ENSI forderte daher im Jahr 2013, dass die Betreiber die Studien zum vorsätzlichen Flugzeugabsturz entsprechend aktualisieren.
Insbesondere wurden neue Versuche zur Anfluggeschwindigkeit an einem Flugsimulator durchgeführt, um den Einfluss der weiterentwickelten Steuer- und Navigationsanlagen zu berücksichtigen. Auch die Anprallberechnungen wurden unter Berücksichtigung des aktuellen Wissensstands gegenüber den Untersuchungen aus dem Jahr 2002 verfeinert. Es wurden zudem grössere, heutzutage eingesetzte Flugzeugtypen berücksichtigt. Im August 2018 gab das ENSI bekannt, dass die geforderten Untersuchungen zum Schutz der Schweizer KKW gegen einen vorsätzlichen Flugzeugabsturz abgeschlossen wurden und dass alle Schweizer Kernkraftwerke die entsprechenden Vorgaben des Regelwerks erfüllen.

Georg Schwarz, die Information des ENSI über die Ergebnisse der Untersuchungen zum vorsätzlichen Flugzeugabsturz waren aus Informationsschutzgründen sehr knapp. Warum liefert das ENSI heute zusätzliche Angaben?

Wir haben im August 2018 bewusst sehr wenige Angaben zu den Ergebnissen der Untersuchungen gemacht, weil solche Information von Terroristen missbraucht werden kann. Im November 2020 wurde gestützt auf das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip in der Verwaltung ein Einsichtsgesuch gestellt.

In ihren Ausführungen bezweifelten die Gesuchstellenden, dass die angefragten Bereiche im Interesse der Terrorismusprävention geheim gehalten werden müssen. Im Schlichtungsverfahren haben wir uns darauf geeinigt, dass das ENSI seine Position ausführlicher begründet, was wir hiermit tun.

Im Einsichtsgesuch wurden Angaben zu den untersuchten Flugzeugtypen verlangt. Warum kann das ENSI dazu nichts sagen?

Es ist nicht so, dass das ENSI nichts zu den untersuchten Flugzeugtypen gesagt hat. Wir haben mehrmals kommuniziert, dass ein Spektrum aktueller Flugzeugtypen berücksichtigt wurde. Konkret wurden typische Vertreter aus insgesamt acht Flugzeugklassen angeschaut (siehe Tabelle 1). Damit werden vom Turbopropflugzeug bis zum Supergrossraumflugzeug alle relevanten Grössenklassen abgedeckt.

Klasse Repräsentant
I             Turbopropflugzeuge Saab 2000
II            Regionalflugzeuge Avro RJ85
III           Kurzstreckenflugzeuge Airbus A321-200
IV           Mittelstreckenflugzeuge Boeing B767-200
V            Langstreckenflugzeuge Boeing B777-200ER
VI           grosse Langstreckenflugzeuge Airbus A340-600
VII          Grossraumflugzeuge Boeing B747-8I
VIII         Supergrossraumflugzeuge Airbus A380-800

Tabelle 1: Flugzeugklassen

Im Einsichtsgesuch werden auch Angaben zu Tankfüllstand, Anfluggeschwindigkeiten und ‐winkeln bei den Flugsimulatorversuchen gefordert. Können Sie dazu etwas sagen?

Wie bei den Flugzeugtypen wurde auch hier ein ganzes Spektrum von Anfluggeschwindigkeiten und ‐winkeln und den Tankfüllständen untersucht. Mehr darf ich dazu nicht bekannt geben.

Weshalb können Sie nicht konkreter werden?

Die geforderten Angaben scheinen Details zu sein, doch sie sind für die «Optimierung» eines Angriffs relevant. In der Tat gibt noch viele andere Dinge, die ein Terrorist wissen respektive «richtig machen» müsste, um ein Kernkraftwerk ernsthaft zu beschädigen. Andererseits erhöht jede bestätigte Information seine Erfolgsaussichten und das ist weder erwünscht noch notwendig.

Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Untersuchungen auch für Kernkraftwerke in anderen Ländern von Bedeutung sind. Entsprechend bestehen gegenseitige internationale Verpflichtungen zum Schutz von sabotagerelevanter Information.

Der frühere langjährige Swissair‐Pilot und Piloten‐Trainer Max Tobler lässt sich mit der Aussage zitieren, dass jeder ausgebildete Pilot ein Schweizer Kernkraftwerk mit einem grossen Passagierflugzeug zielgenau anfliegen könne. Sämtliche dafür benötigten Informationen seien im Internet vorhanden. Können Sie diese Aussage bestätigen?

Die technischen Möglichkeiten haben sich seit 2003 weiterentwickelt. Das war einer der Gründe, weshalb das ENSI eine Aktualisierung der Untersuchungen zum vorsätzlichen Flugzeugabsturz forderte. Die Zielgenauigkeit ist jedoch nur eine Bedingung unter vielen, die erfüllt sein müssen, damit ein vorsätzlicher Flugzeugabsturz auch zu einer grossen Freisetzung radioaktiver Stoffe führt. Insbesondere muss auch die Anfluggeschwindigkeit genügend hoch sein.

Wie hoch muss sie denn sein?

Bezüglich den Anfluggeschwindigkeiten haben wir zwei gegenläufige Tendenzen. Einerseits gilt, je schneller desto mehr Schaden. Andererseits sinkt die Zielgenauigkeit mit zunehmender Geschwindigkeit.

Mit den Simulatorversuchen wurden bezüglich Zielgenauigkeit und Anfluggeschwindigkeiten die Grenzen des fliegerisch Möglichen ausgelotet. Sie werden sicher verstehen, dass wir diese Daten nicht veröffentlichen.

Flugsimulatoren kann man mieten. Könnte nicht jedermann solche Versuche nachvollziehen?

Im Prinzip schon, aber Flugstunden auf einem kommerziellen, für die Pilotenausbildung geeigneten Simulator sind teuer. Zudem fällt es auf, wenn jemand ein gezieltes Absturztraining verlangt. Ich denke, kaum ein Simulatorbetreiber würde dazu Hand bieten.

Wenn wir die im Einsichtsgesuch geforderten Angaben zu den Anfluggeschwindigkeiten und ‐winkeln veröffentlichen würden, hätte ein Terrorist alle Angaben auch ohne Simulatorversuche. Das ist sicher nicht im Sinne des Öffentlichkeitsgesetzes und wie vorher bereits erwähnt, ist die Schweiz auch verpflichtet, solche international relevanten Informationen zu schützen.

Trotz aller Geheimhaltungsgründe – hat die Öffentlichkeit nicht auch einen legitimen Anspruch zu erfahren, wie sicher die Schweizer KKW im Falle eines vorsätzlichen Flugzeugabsturzes tatsächlich sind?

Damit bin ich voll einverstanden. Das ENSI hat im August 2018 öffentlich darüber informiert, dass die Schweizer Kernkraftwerke die Vorgaben des Regelwerks bezüglich eines vorsätzlichen Flugzeugabsturzes erfüllen. Wir haben auch bei mehreren Veranstaltungen des Technischen Forums Kernkraftwerke diverse Fragen zum Flugzeugabsturz beantwortet.

Können sie die Erfüllung der Vorgaben des Regelwerks etwas konkretisieren?

Es gibt eine Vorgabe für den unfallbedingten Flugzeugabsturz, die vereinfacht formuliert einen ausreichenden Schutz unter realistischen Vorgaben gegen den zum Zeitpunkt des Baubewilligungsgesuchs im Einsatz befindlichen Flugzeugtyp mit dem grössten Schädigungspotenzial fordert. Dieser Grundschutz wurde für alle drei Kernkraftwerke nachgewiesen. Darüber hinaus verfügen die drei Kernkraftwerke über zusätzliche Sicherheitsmargen.

Für terroristische Angriffe gelten weitere Gefährdungsannahmen, welche in einer geheimen Richtlinie festgelegt sind. Diese werden beherrscht. Da die Richtlinie im Sinne der Sicherheit geheim ist, kann ich zu den Vorgaben keine weiteren Auskünfte geben.

Wer kann diese Aussagen kontrollieren?

Es ist systembedingt, dass geheime Sachverhalte nicht öffentlich und deshalb nur eingeschränkt nachvollziehbar sind. Trotzdem bestehen auch bei nicht öffentlichen Geschäften Kontrollmöglichkeiten.

Das ENSI ist eine unabhängige Aufsichtsbehörde, welche ihre Entscheide einzig auf der Basis von Sicherheitsüberlegungen trifft und dabei keine energiepolitischen Abwägungen vornehmen muss und darf. Der ENSI-Rat überwacht die Geschäftsführung und die Aufsichtstätigkeit des ENSI und erstellt jährlich einen Tätigkeitsbericht mit Angaben zur Aufsicht und zum Zustand der Kernanlagen. Dieser ist dem Bundesrat zur Genehmigung zu unterbreiten. Zudem untersteht das ENSI der Oberaufsicht des Parlaments und in diesem Rahmen der Geschäftsprüfungsdelegation.

Das KKW Beznau wurde beim Bau nicht gegen den Lastfall Flugzeugabsturz ausgelegt. Auch der Schutzgrad der KKW Gösgen und Leibstadt entspricht nicht dem Standard der neuesten KKW. Warum sind sie trotzdem sicher genug?

Abgesehen von militärischen Festungen gehören die KKW sicher zu den robustesten Gebäuden der Schweiz. Die Nachrüstungen und Erweiterungen der Notfallmassnahmen, die seit den letzten Analysen zum vorsätzlichen Flugzeugabsturz vorgenommen wurden, haben diesen Schutzgrad weiter erhöht. Trotzdem sind die KKW nicht unzerstörbar.

Insgesamt beurteilen wir jedoch auch nach der Aktualisierung der Studien zum vorsätzlichen Flugzeugabsturz den Schutz der Schweizer KKW insbesondere aufgrund der seit 9/11 national und international massiv verschärften Massnahmen gegen Flugzeugentführungen sowie der sehr robusten sicherheitstechnischen Auslegung der Werke als gut.