Strahlenbiologie (4/5): So wird ionisierende Strahlung gemessen

Ionisierende Strahlung kann Erkrankungen hervorrufen. Um die Bevölkerung sowie das Personal in Kernanlagen vor diesen schädlichen Effekten zu schützen, müssen Strahlendosen jederzeit und möglichst genau gemessen werden können.

Sicherheit hat bei der Arbeit in Kernanlagen oberste Priorität. Das gilt nicht nur für den Betrieb der Anlagen, sondern auch für den Schutz des Personals. Personen, die bei ihrer Arbeit in Kernanlagen als strahlenexponiert gelten, müssen darum zwei verschiedene Dosis-Messgeräte tragen, sogenannte Dosimeter. Die Dosimeter werden regelmässig ausgewertet und die akkumulierten Dosen werden gespeichert. Das passive, anerkannte Dosimeter erfasst die Strahlenexposition für das zentrale Dosisregister. Das aktive, elektronische Dosimeter besitzt zusätzlich eine Alarmfunktion. Nur so ist es möglich einzugreifen, bevor das Personal zu hohen Dosen ausgesetzt ist. Falls der gesetzlich festgelegte Grenzwert für die Strahlenbelastung überschritten wird, entscheidet die Aufsichtsbehörde gemäss Art. 59 der Strahlenschutzverordnung, ob die betroffene Person unter ärztliche Kontrolle gestellt wird.

Bei einer Überschreitung muss die effektive Dosis individuell ermittelt werden. In einem solchen Fall lässt das ENSI die Dosis von externen Experten des IRA (Institut de radiophysique) in Lausanne rekonstruieren. Zudem wird zur Absicherung eine Chromosomenanalyse im Labor angeordnet (siehe Abschnitt zur biologischen Dosimetrie). Die Daten der biologischen Dosimetrie werden dem ENSI und der Schweizerischen Unfallversicherung Suva bekannt gegeben.

Darauf basierend treffen die Aufsichtsbehörden die erforderlichen Massnahmen wie den befristeten oder dauerhaften Ausschluss von der Arbeit als strahlenexponierte Person. Seit 2009 gab es im Aufsichtsbereich des ENSI drei Fälle von Grenzwertüberschreitungen. Bei den davon betroffenen Personen wurden bis jetzt keine gesundheitlichen Auswirkungen festgestellt.

Grenzwertüberschreitungen bei KKW-Mitarbeitern in der Schweiz

In den letzten Jahren gab es in den Schweizer Kernanlagen zwei Fälle einer Grenzwertüberschreitung, bei denen drei Personen betroffen waren:

  • Während der Revision im KKW Beznau 2 im August 2009 waren zwei Mitarbeiter bei Arbeiten unterhalb des Reaktordruckbehälters einer Personendosis von 37,8 mSv beziehungsweise 25,4 mSv ausgesetzt. Grund waren die unzureichende Revisionsplanung und ein Mangel im radiologischen Arbeitsschutz. In der Beurteilung des Vorkommnisses kam das ENSI zum Schluss, dass bei solchen Dosen keine direkten gesundheitlichen Folgen zu erwarten sind.
  • Im August 2010 sammelte ein Taucher im Rahmen von Instandhaltungsarbeiten im KKW Leibstadt im Brennelement-Transferbecken einen unbekannten Gegenstand ein. Dabei überschritt die Strahlenbelastung an seiner Hand den zulässigen Grenzwert. Die Abschätzung der Strahlexposition ergab einen Dosiswert von bis 7,5 Sv (Hautdosis) – für beruflich strahlenexponiertes Personal gilt bei der Hautdosis der Grenzwert von 500 mSv pro Jahr. Bis dato wurden keine gesundheitlichen Folgeschäden festgestellt.
Die in der Strahlenschutzverordnung festgelegten Dosisgrenzwerte.

Was ist die biologische Dosimetrie?

Die biologische Dosimetrie kommt zum Einsatz, wenn keine physikalische Messmethode zur Verfügung steht oder deren Resultate angezweifelt werden. Sie kann auch als Ergänzung zum Dosimeter gesehen werden und sie ist insbesondere dann wichtig, wenn eine vermutete Strahlenbelastung im Nachhinein festgestellt werden soll. Dank der biologischen Dosimetrie kann untersucht werden, wie eine bestimmte (hohe) Strahlendosis auf eine Zelle wirkt. Dabei können nicht nur allenfalls vorliegende strahleninduzierte Veränderungen detektiert werden, sogar Rückschlüsse auf das Ausmass der Dosis sind möglich.

Präparat von bestrahlten Chromosomen. Beim Pfeil links ist ein dizentrisches Chromosom erkennbar: Es weist zwei Einschnürungen (Zentromere) auf. Bild: IAEA

Bei der biologischen Dosimetrie werden Stoffwechselelemente oder biologische Strukturen im menschlichen Körper – beziehungsweise deren Veränderungen nach einer Bestrahlung – als «Dosimeter» verwendet. Als weltweiter Goldstandard gilt, insbesondere wenn es um das Erkennen akuter Ganzkörperbestrahlungen geht, die Analyse von dizentrischen Chromosomen. Dies sind durch Bestrahlung in ihrer Form veränderte Chromosomen, die visuell einfach auswertbar sind, da sie zwei gut erkennbare Einschnürungen (Zentromere) aufweisen. Unbeschädigte Chromosomen verfügen nur über ein Zentromer, welches das Chromosom in zwei Arme gliedert.

Für die Chromosomenanalyse werden Zellen aus Blutproben der Armvene untersucht. Die Auswertung kann sowohl manuell mittels Lichtmikroskopie als auch automatisiert erfolgen. Die Auswertung ist technisch nicht sehr aufwändig, jedoch zeitintensiv, da aus statistischen Gründen sehr viele – mindestens 1000 – präparierte Zellen nötig sind, damit auch kleinere Dosen nachgewiesen werden können. Mit der entsprechenden Zahl von ausgewerteten Zellen können Dosen bis deutlich unter 100 mSv nachgewiesen werden. Mit der Hilfe von Eichkurven kann dazu noch auf die Art der Strahlung geschlossen werden. Zudem sind diese chromosomalen Veränderungen strahlenspezifisch, das heisst, sie kommen im normalen Stoffwechsel oder zum Beispiel nach der Wirkung von Chemikalien nicht vor. Dies erlaubt die Beantwortung der wichtigen Frage: «Lag eine Bestrahlung vor oder nicht?».

Dies ist der vierte von fünf Artikeln zum Thema Strahlenbiologie. Der letzte Artikel befasst sich mit aktuellen Fragen der Strahlenbiologie.