EGT-Präsident Simon Löw: «Entscheidend für die Standortwahl sind die geologischen Verhältnisse»

Die Nagra hat heute ihren Standortvorschlag für ein geologisches Tiefenlager vorgestellt. Simon Löw, Präsident der Expertengruppe Geologische Tiefenlagerung (EGT), nimmt Stellung zum aktuellen Stand des Tiefenlagerprojekts. Er gibt zudem einen Ausblick auf die kommende Prüfung des Rahmenbewilligungsgesuchs für das Tiefenlager. Die Nagra wird das Rahmenbewilligungsgesuch voraussichtlich im Jahr 2024 einreichen.


Zur Person

Professor Simon Löw

Professor Simon Löw ist Präsident der Expertengruppe Geologische Tiefenlagerung (EGT). Er arbeitete nach seiner Dissertation an der Universität Basel während zehn Jahren in der Industrie und leitete grosse interdisziplinäre Projekte im Zusammenhang mit der Endlagerung nuklearer und toxischer Abfälle, mit grossen Tunnelvorhaben (AlpTransit) sowie mit Erdbeben- und Vulkanrisiken.

1996 wurde Simon Löw als Ordentlicher Professor für Ingenieurgeologie an die ETH Zürich berufen. Hier konzentrierte sich seine Forschung auf hydro-mechanische Prozesse in geklüfteten Gesteinen auf projektrelevanten Massstäben. Grössere Forschungsprojekte befassten sich mit Setzungen über tiefliegenden Tunnelbauwerken, mit hydro-mechanischen Prozessen im Nahfeld von Endlagerstollen, mit Grundwasser- und Wärmefluss in geklüfteten und porösen Gesteinen sowie mit den Ursachen und der Prognose von grossen Hanginstabilitäten, zum Beispiel Rutschungen und Bergstürze.

Simon Löw unterstützt als nationaler und internationaler Experte anspruchs-
volle Projekte im Untertagebereich, der Endlagerung und der Naturgefahren.


Welche Aufgaben hat die EGT im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager (SGT)?

Simon Löw: Die Aufgaben der EGT sind im Konzeptteil des Sachplanverfahrens definiert und umfassen die Unterstützung des ENSI bei erdwissenschaftlichen und bautechnischen Fragen zur geologischen Tiefenlagerung. Die EGT verfasst und veröffentlicht Stellungnahmen zur geologischen Beurteilung der Standortgebiete, zur bautechnischen Machbarkeit von geologischen Tiefenlagern sowie zu Gesuchen für erdwissenschaftliche Untersuchungen. Sie arbeitet zudem im Technischen Forum Sicherheit mit.

Wie setzt sich die EGT zusammen?

Die EGT besteht heute aus acht internationalen Experten aus dem Hochschulbereich, die in keinem Auftragsverhältnis zu den Projektanten geologischer Tiefenlager in der Schweiz stehen. Wir decken die für die geologische Tiefenlagerung wichtigsten Disziplinen der Erdwissenschaften und der Geotechnik ab.

Nimmt die EGT Stellung zur Ankündigung der Standortwahl der Nagra?

Die EGT kann heute zum Vorschlag der Nagra keine Stellung nehmen. Die EGT wird sich bis zur Einreichung des Rahmenbewilligungsgesuches im Jahr 2024 und auch danach intensiv mit allen Standorten der Etappe 3 auseinandersetzen. Sie wird die Auswahl der Nagra in ihrem Bericht zum Rahmenbewilligungsgesuch ausführlich kommentieren.

In zwei Jahren wird die Nagra die Unterlagen zum Rahmenbewilligungsgesuch einreichen. Wie wird die EGT die Beurteilungsarbeiten des ENSI unterstützen? Wo liegen dabei die Schwerpunkte?

Die EGT geht sowohl auf explizite Bedürfnisse des ENSI als auch auf eigene Schwerpunktthemen ein. Diese basieren auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik und adressieren offene Fragen. Diese werden in einer grossen Anzahl von Plenar- und Fachsitzungen diskutiert und anschliessend in Berichten dokumentiert.

Eine echte Überprüfung der Vorschläge der Nagra zu den einzelnen Etappen des Sachplanverfahrens und zum Rahmenbewilligungsgesuch bedarf einer Auseinandersetzung mit den Primärdaten und der entsprechenden Interpretation. Es genügt nicht, die Hauptberichte der Nagra auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Zudem ist die Interaktion innerhalb der Expertengruppe zentral für die Qualität der Überprüfung, da die Materie des Sachplanverfahrens extrem komplex und interdisziplinär ist. Nur die intensive Diskussion innerhalb dieses Gremiums führt zum Beispiel dazu, dass die Schlüsselkriterien der Standortwahl herausgearbeitet und abschliessend bewertet werden können.

Die Nagra hat erste Datenberichte zu ihren erdwissenschaftlichen Untersuchungen erstellt, also zu den Tiefbohrungen und der 3D-Seismik. Wie schätzen Sie die Qualität dieser Daten ein?

Heute liegen erst sehr wenige publizierte Berichte der Nagra zu den Standort-Untersuchungen in Etappe 3 vor. Verfügbar sind vier Syntheseberichte zu den acht Tiefbohrungen und drei vorläufige Horizont- und Strukturkartierungsberichte. Die Berichte zur tiefenmigrierten 3D-Seismik liegen noch nicht vor. Eine echte Bewertung der Daten aus den erdwissenschaftlichen Untersuchungen ist zurzeit nicht möglich. Dazu fehlen die eben erwähnten primären Datenberichte. Die EGT hat eine Bohrung und das Kernzwischenlager mehrmals besucht. Sie hat auch die von der Nagra in Behördenseminaren und Fachsitzungen präsentierten Resultate der Etappe 3 intensiv diskutiert. Unsere erste Einschätzung ist, dass die in Etappe 3 gewonnen Daten umfangreich und meist von sehr guter Qualität sind.

Wie wichtig ist die Beurteilung von lagerbedingten Einflüssen und gekoppelten Prozessen im Nahfeld des vorgeschlagenen Tiefenlagers?

Die EGT erachtet diese Einflüsse als sehr wesentlich für die Langzeitsicherheit, aber kaum mehr entscheidend für die Standortwahl. Die Beurteilung der entsprechenden Prozesse ist schwieriger als die geologische Bewertung der Standorte, da wir nicht auf geologische Evidenzen und genügend lange Messreihen zurückgreifen können. Die wichtigsten Werkzeuge sind Experimente. Wegen der kurzen Dauer im Vergleich zur Gesamtzeit des notwendigen Einschlusses werden diese durch aufwändige Computer-Modellrechnungen auf der Basis qualifizierter Berechnungsprogramme ergänzt.

Bautechnische Fragen spielten in Etappe 2 des Sachplanverfahrens eine grosse Rolle. Auf welche bautechnischen Aspekte wird sich die EGT bei der Erarbeitung ihrer Stellungnahme konzentrieren?

Die heute zur Verfügung stehende Datenbasis für die Beurteilung bautechnischer Fragen ist von massiv grösserem Umfang und von deutlich besserer Datenqualität als in Etappe 2. Basierend auf dieser Datengrundlage lässt sich heute das Gebirgsverhalten während des Baus in allen drei Standortgebieten zuverlässig einschätzen. Die EGT wird insbesondere Fragen prüfen zur tiefenabhängigen und langfristigen Stabilität des Opalinustons, zu den Auswirkungen der wärmeproduzierenden Abfälle und der geochemischen Wechselwirkungen von Behältern und Stützmitteln auf das Verhalten des Opalinustons. Zudem sind heute noch Fragen zur Langzeitentwicklung von Versiegelungsstrecken, unter anderem die Gasdurchlässigkeit, sowie Verfüllungen der Hohlräume im Detail zu klären.

Wie geht die EGT bei der Beurteilung der Erosion in einem Standortgebiet vor?

Das Verständnis über die Entwicklung der quartären Schotterablagerungen und Erosionsoberflächen der letzten 2.5 Millionen Jahre sind der Schlüssel zur Prognose der zukünftigen Erosion und Hebung. Ein Experte der EGT führt zusammen mit dem ENSI unabhängige Forschungsprojekte zu diesem Themenkomplex durch. Unsere Modellvorstellungen zu den der Erosion zugrunde liegenden Prozesse, die glazial durch Gletscher oder fluviatil durch Flüsse bedingt sind, basieren auf einer aktiven Auseinandersetzung mit der internationalen Forschung zu Erdoberflächenprozessen.

Welches sind aus der Sicht der EGT die grössten Herausforderungen in der Etappe 3 des SGT?

Es ist wichtig, dass nicht die komplexe Methodik des Auswahlverfahrens entscheidend für die Wahl des besten Standortes ist, sondern die geologischen Verhältnisse. Dies scheint eine triviale Aussage zu sein. Aufgrund der vielen Vorgaben und zu berücksichtigenden Kriterien ist dem aber nicht so. Aus geologischer Sicht gibt es durchaus signifikante Unterschiede zwischen den Standorten. Zum Beispiel unterscheiden sie sich hinsichtlich der tektonischen Überprägung mit Störungen, der Hydrogeologie der Rahmengesteine und in Bezug auf Erosionsrisiken. Der Opalinuston selbst scheint relativ konstante Eigenschaften in der Nordschweiz aufzuweisen. Dies gilt es jedoch, im Detail zu prüfen.

Muss man sich beim Bau eines Tiefenlagers auf weitere Überraschungen gefasst machen?

Grundsätzlich ja. Die Erfahrung der letzten 40 Jahre Forschung zur Entsorgung der Schweiz zeigt, dass immer wieder überraschende Befunde und neue Einflussfaktoren erkannt werden. Ein Tiefenlagerprojekt kann auch nicht basierend auf Erfahrungen und Normen vergleichbarer Projekte realisiert werden. Wesentlich bei Überraschungen ist, dass diese immer offen präsentiert und transparent diskutiert werden. Dies führt dann jeweils zu Projektverbesserungen, wie dies in der Vergangenheit geschehen ist. Dabei sind auch immer wieder langjährig als optimal betrachtete Konzepte zur Abfalllagerung, zu den Barrieren, zum Verschluss des Tiefenlagers und zur Rückholung der Abfälle neu zu hinterfragen.

Der Bau des Tiefenlagers soll ab 2040 erfolgen. Wo sieht die EGT den grössten Forschungsbedarf für den Bau eines Tiefenlagers?

Der Bau des Tiefenlagers erfolgt erst nach den erdwissenschaftlichen Untersuchungen untertag, welche wohl auch wieder Überraschungen bringen werden. Darum ist der Forschungsbedarf für den Bau nicht abschliessend festzulegen. Auch die verfügbaren Technologien und wissenschaftlichen Grundlagen, zum Beispiel die Vortriebsmethoden und die Materialwissenschaften, werden sich bis zum Bau noch stark verändern. Aufgrund des heutigen Wissenstandes gibt es wichtige Fragen zum Umgang mit Korrosionsgasen bezüglich Behälterwahl, Verhalten der Siegel und Gastransport im Opalinuston. Es bestehen ebenfalls Fragestellungen zur bau- und sicherheitstechnischen Umsetzung des Tiefenlagers, beispielsweise zu den Stützmitteln und zur Rückholung. Nicht zuletzt stellen sich Fragen zur Optimierung hinsichtlich Langzeitsicherheit und Implementierung.