Serie Lucens: Kritik an der Sicherheitsbehörde

Der Unfall im Versuchskraftwerk Lucens erfuhr im Nachhinein unterschiedliche, durchaus auch kritische Bewertungen. Angesichts der offenkundigen Probleme mit den Kühlgebläsen Umwälzgebläsen stellt sich die Frage, ob der Unfall vom Januar 1969 nicht vorhersehbar war.

Bild: Keystone

Der Bericht der Untersuchungskommission Lucens UKL von 1979 deutete die Havarie als das „Resultat des Zusammenwirkens mehrerer einzelner, nicht zwangsläufig gekoppelter Faktoren“.

Daraus schlossen die Autoren des Untersuchungsberichts: „Die tatsächlich für den Zwischenfall verantwortliche primäre Ursache war deshalb nicht voraussehbar.“

Dies sagt auch der frühere Direktor des Versuchsatomkraftwerks Lucens, Jean-Paul Buclin, im ersten Teil des Videointerviews auf Französisch.

 

 

Ursache war „nicht voraussehbar“

Die wiederholten Probleme an den Dichtungen der Umwälzpumpen seien durch Hersteller wie Betreiber des Versuchskraftwerks zwar wahrgenommen, allerdings in ihren Auswirkungen unterschätzt worden: „Weder der Reaktorlieferant noch die Betriebsequipe und ihr Sicherheitskommitee schätzten die Gebläseschwierigkeiten als ein Problem ein, das die Sicherheit des Betriebs beeinträchtigen könnte“, schreibt die UKL in ihrem Bericht. Das eindringende Wasser sei nicht als sicherheitsrelevantes Problem, sondern lediglich als „unangenehme Betriebsstörung“ eingeschätzt worden. Eine „Fehlbeurteilung“, wie die UKL im Rückblick feststellte.

Roland Naegelin, ab 1970 Mitglied der KSA (Eidg. Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen) und ab 1980 Direktor der HSK (Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen), sieht in seiner 2007 erschienenen Monographie über die Tätigkeit der Schweizer Nuklearsicherheitsbehörden das Unglück als Beispiel. Dieses könne für die Diskussion dienen, wie weit Sicherheitsbehörden bei der Forderung nach Priorität der Sicherheit gehen sollen, das heisst wie weit auch alternative, möglicherweise sicherere Konzepte in Betracht gezogen werden müssen. Dabei habe sich rasch gezeigt, dass Kriterien für die Gewichtung der Wirtschaftlichkeit sowie ein umfassender Überblick über die Sicherheitseigenschaften und Risiken einer Lösung notwendig sind. „Beide Voraussetzungen waren zur Zeit der Entwicklung des VAKL kaum vorhanden.“

 

Französischsprachiges Video-Interview mit dem damaligen Direktor des VAKL, Jean-Paul Buclin (Teil 2):

„Wahres Ausmass wurde vertuscht“

Heftige Kritik an den Sicherheitsbehörden des Bundes übte Technikhistoriker Tobias Wildi in seinem 2003 erschienenen Buch über die schweizerische Kerntechnologieentwicklung von 1945 bis 1969. Nach Wildis Auffassung hätte die KSA den Einbau der Brennelemente in Lucens nicht bewilligen dürfen: „Aus heutiger Sicht erscheint diese Bewilligungspraxis äusserst fragwürdig, wenn nicht sogar fahrlässig.“ Die provisorische und kurz darauf die definitive Betriebsbewilligung seien erteilt worden, „obwohl das EIR kurz zuvor noch konstruktive Mängel an den Brennelementen festgestellt hatte“.

Arbeiter mit Brennstäben im Versuchsatomkraftwerk Lucens. (Bild: Keystone)

Die UKL hatte in ihrem Untersuchungsbericht einen Einfluss der Brennelemente auf den Unfallhergang verneint. Wildi zieht diesen Befund in Zweifel: Die UKL sei befangen gewesen, da sie zu einem grossen Teil aus Mitgliedern der KSA und der 1973 geschaffenen ASK bestanden habe. Auch die Rolle von Escher Wyss, die die Kühlgebläse Umwälzgebläse hergestellt hatte, sieht Wildi im UKL-Bericht zu unkritisch dargestellt; in diesem Zusammenhang zog er die Unabhängigkeit der UKL ebenfalls in Zweifel.

Eine dezidierte, politische Neubeurteilung der VAKL-Havarie vom Januar 1969 nahm im April 2009 der damalige Bundesrat und Energieminister Moritz Leuenberger bei der Gründungsfeier des ENSI vor: „1969 schrammte die Schweiz knapp an einer Katastrophe vorbei. (…) Die damalige amtliche Verlautbarung sprach lediglich von einem ‚Zwischenfall‘. Der Untersuchungsbericht, der zehn Jahre später veröffentlicht wurde, kam zum Schluss, dass ‚für die Bevölkerung zu keiner Zeit eine Gefährdung bestand‘. Heute finden wir Lucens auf der Liste der 20 schwersten Reaktor-Pannen der Welt. Das wahre Ausmass der Panne wurde also damals vertuscht und abgewiegelt“, so der Alt-Bundesrat.

Der Unfall von Lucens wird heute auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES), die zum Zeitpunkt des Unfalls in Lucens noch nicht bestand, auf Stufe 4 bzw. 5 (von insgesamt 7 Stufen) eingeordnet.

(Dieser Artikel wurde am 21.01.2014 aktualisiert.)

Nach dem Unfall wurde das Versuchskraftwerk am Broye-Ufer in schweisstreibender Arbeit abgebaut. Der Direktor selbst legte Hand an.

Das ist der neunte von zehn Teilen zur Geschichte des Versuchsatomkraftwerks Lucens. Weiter zum zehnten Teil.