Technisches Forum Sicherheit

Frage 108: Abklärung tektonischer und neotektonischer Prozesse

In der Antwort zur Frage 70 wurde von der KNS vermerkt: „Die zukünftige tektonische Entwicklung im Bereich der Nordwestschweiz ist mit Unsicherheiten behaftet, die eine Prognostizierbarkeit einer als wahrscheinlich einzustufenden Entwicklung insbesondere über lange Zeiträume hinweg erschwert. …“ .

Die EGT schreibt in ihrer Antwort zur selben Fragestellung: „… Der Begriff Neotektonik bezeichnet tektonische Erscheinungen, die auf sehr junge Bewegungen hin weisen, die bis in die Gegenwart aktiv sein können, aber nicht von dynamischen Phänomenen (messbare Hebung / Senkung, Seismizität usw.) begleitet sein müssen. …“

Werden diese Aussagen angewandt auf die Gebiete Subjurassische Zone (Jura-Südfuss) und Vorfaltenzone (Gebiete Jura Ost und Nördlich Lägern), so stellen sich folgende Fragen:

  1. Welche tektonischen und neotektonischen Prozesse laufen derzeit (d.h. in den letzten paar Hunderttausend Jahren bis in einigen Hunderttausend Jahren) in diesen Gebieten ab? Wie viele davon sind „neotektonisch“ im Sinne der Definition EGT?
  2. Wie stark können diese Prozesse die Erosion in einer Standortregion (linear und flächenhaft) beschleunigen? Wie stark kaschieren die Erosionsprozesse ihrerseits die ablaufenden tektonischen Prozesse (wie Auffaltung, Rampenbildung und Zusammenschub auf gleitfähigen Schichten), d.h. können sie im äusseren Wahrnehmungsbild laufend wieder durch Abtrag und Abtransport verwischt werden?

Gemäss den Antworten zu Frage 70 sind ja weitere Untersuchungen zur Tektonik / Neotektonik am Laufen, wobei nicht klar wird, ob und wie die hier angesprochenen Fragen berücksichtigt werden.

Hinweis: Mit der Analyse gewisser Erosionsprozesse und Quartär-Ablagerungen lassen sich auch Schlüsse ziehen, über welche Zeiträume ein im Quartär aktiver tektonischer Prozess andauerte und ob er heute noch aktiv sein könnte (Beispiel: Ablagerungen in einer Jura-Klus). Dies ist bei der Beantwortung zu berücksichtigen.

Thema , , Bereich
Eingegangen am 17. September 2013 Fragende Instanz Kanton Aargau
Status beantwortet
Beantwortet am 5. Dezember 2014 Beantwortet von , ,

Beantwortet von ENSI

Im Bereich der geologischen Standortgebiete Jura-Südfuss, Jura Ost und Nördlich Lägern lassen sich keine eindeutigen neotektonischen Aktivitäten nachweisen. Hinweise auf aktuelle differenzielle Oberflächenbewegungen finden sich jedoch im Gebiet des Hauenstein (Jura-Hauptüberschiebung) sowie bei Oberweningen, wobei deren Signifikanz zu klären ist. Eine Beschleunigung von Erosionsvorgängen aufgrund von veränderten Erosionswiderständen der zu erodieren Gesteine ist tendenziell möglich, jedoch für den Betrachtungszeitraum der Entsorgung radioaktiver Abfälle nicht relevant. Die ausgeprägte Überdeckung des Felsuntergrunds mit quartären Sedimenten kann ein wesentlicher Grund für die fehlenden Nachweise neotektonischer Aktivität in der Nordschweiz sein.

Für den Begriff «Neotektonik» findet man in der geowissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Auffassungen. Angelehnt an die Definitionen von Becker (1993) sowie Stewart und Hancock (1994) fasst das ENSI unter «Neotektonik» sämtliche Bewegungen der Erdkruste zusammen, welche im gegenwärtigen tektonischen Regime Krustenspannungen und Deformationen erzeugen. Demnach können alle tektonischen Prozesse welche seit der Jurafaltung, d. h. seit ca. 10 Millionen Jahren aktiv sind, als neotektonisch bezeichnet werden.

Untersuchungen zur Neotektonik der Nordschweiz stützen sich auf Beobachtungen von Bewegungen der Erdkruste, wie zum Beispiel auf rezente vertikale und horizontale Oberflächenbewegungen. Die Bestimmung der langfristigen Hebungs-und Abtragungsgeschichte kann mittels der Tieftemperatur-Thermochronologie rekonstruiert werden. Die Auswertung der Erdbebenaktivität liefert wertvolle Erkenntnisse zum gegenwärtigen Abbau des vorherrschenden Spannungsregimes.

Vertikale Oberflächenbewegungen werden mit Hilfe von geodätischen Vermessungen ermittelt. Hierbei wird die Höhenlage von Messpunkten relativ zu einem Referenzpunkt periodisch bestimmt. Der NAB 12-34 dokumentiert den aktuellsten Bearbeitungsstand des nordschweizerischen Feinnivellements. Der Datensatz weist auf geringe Hebungsbeträge in der Nordschweiz von 0,1 – 0,2 mm pro Jahr hin, wobei ein leichter Anstieg in Richtung der Alpen in postglazialen Ausgleichsbewegungen begründet sein könnte. Im Faltenjura sowie nördlich des Rheins finden sich Senkungsgebiete. Zonen mit differenzieller Hebung lassen sich nicht klar identifizieren (Figur 108-1). Damit können grosse aktive Störungen (ob seismisch oder aseismisch) faktisch ausgeschlossen werden. Einzig das gemessene Profil über den Hauenstein bei Olten am Übergang zwischen Falten- und Tafeljura lässt eine neotektonische Aktivität der Jura-Hauptüberschiebung vermuten. Die erreichten Messungenauigkeiten bzw. die Qualität der zur Verfügung stehenden Messpunkte erlauben jedoch hierzu keine gesicherten Rückschlüsse.

Figur 108-1: Übersicht über die rezenten vertikalen Oberflächenbewegungen relativ zum Referenzpunt AG 83 bei Laufenburg mit Hebung in rot und Senkung in grün. Datengrundlage bildet der jüngste kinematische Ausgleich der süddeutschen und schweizerischen Landesnivellementlinien durch die swisstopo, dokumentiert im Nagra Arbeitsbericht NAB 12-34. Messpunkte, die nur unzureichend im Untergrund (Fels) verankert sind, wurden zur Auswertung nicht berücksichtigt, wodurch sich die Anzahl der zur Verfügung stehenden Datenpunkt stark reduziert. Die mittleren Hebungsraten betragen in der Nordschweiz zwischen 0,1 und 0,2 mm pro Jahr.
Figur 108-1: Übersicht über die rezenten vertikalen Oberflächenbewegungen relativ zum Referenzpunt AG 83 bei Laufenburg mit Hebung in rot und Senkung in grün. Datengrundlage bildet der jüngste kinematische Ausgleich der süddeutschen und schweizerischen Landesnivellementlinien durch die swisstopo, dokumentiert im Nagra Arbeitsbericht NAB 12-34. Messpunkte, die nur unzureichend im Untergrund (Fels) verankert sind, wurden zur Auswertung nicht berücksichtigt, wodurch sich die Anzahl der zur Verfügung stehenden Datenpunkt stark reduziert. Die mittleren Hebungsraten betragen in der Nordschweiz zwischen 0,1 und 0,2 mm pro Jahr.

Horizontale Oberflächenbewegungen werden mit Hilfe periodischer GPS-Messung an vermarkten Lagefixpunkten ermittelt. Aus überregionalen Messungen geben sich so Hinweise auf einen anhaltenden Zusammenschub der adriatischen Mikroplatte mit der europäischen Hauptplatte (Heidbach et al. 2010; Reinecker et al. 2010; Tesauro et al. 2005; Figur 108-2). Dieser Zusammenschub erzeugt in der Nordschweiz ein NNW-SSE-gerichtetes Spannungsfeld (vgl. NAB 12-05), wobei sich das Gebiet mit ca. 1 mm pro Jahr nach NNW bewegt.

Figur 108-2: Übersicht über die rezenten Horizontalbewegungen auf der Basis wiederholter GPS-Messungen. Datengrundlage der Darstellung bildet die Studie von Tesauro et al. (2005). Nicht dargestellt sind die teilweise sehr hohen Messunsicherheiten, welche in den nahe an der Nachweisgrenze liegenden Geschwindigkeiten sowie der relativ kurzen Messperiode von 7 Jahren begründet liegen. Dennoch lässt sich ein NNW-SSE gerichtetes Spannungsfeld sowie eine mittlere Geschwindigkeit von 1 mm pro Jahr für das Gebiet der Nordschweiz ableiten.
Figur 108-2: Übersicht über die rezenten Horizontalbewegungen auf der Basis wiederholter GPS-Messungen. Datengrundlage der Darstellung bildet die Studie von Tesauro et al. (2005). Nicht dargestellt sind die teilweise sehr hohen Messunsicherheiten, welche in den nahe an der Nachweisgrenze liegenden Geschwindigkeiten sowie der relativ kurzen Messperiode von 7 Jahren begründet liegen. Dennoch lässt sich ein NNW-SSE gerichtetes Spannungsfeld sowie eine mittlere Geschwindigkeit von 1 mm pro Jahr für das Gebiet der Nordschweiz ableiten.

Die Bestimmung der langfristigen Hebungs-und Abtragungsgeschichte der Nordschweiz erlaubt Rückschlüsse auf die Aussagekraft der heute messtechnisch erfassbaren Hebungs- bzw. Senkungstendenzen. Mit Hilfe der Tieftemperatur-Thermochronologie können grossräumige Hebungsphasen näher bestimmt werden. Dazu werden beispielsweise Defekte im Kristallgitter geeigneter Minerale, wie zum Beispiel in Apatit ausgewertet (Spaltspurenmethode). Aus der Anzahl und Dichte dieser Defekte, die durch den Zerfall von Uran entstehen, kann hergeleitet werden, seit wann das Mineral eine bestimmte Temperatur unterschritten hat, ab der die kontinuierlich entstehenden Gitterschäden nicht mehr ausheilen. Alternativ kann die Akkumulation von Helium (aus dem Zerfall von Uran und Thorium) in bestimmten Mineralen betrachtet werden. Bei höheren Temperaturen diffundiert das gebildete Helium aus der Kristallstruktur hinaus, unterhalb einer mineralspezifischen Temperatur wird es zurückgehalten. Die bei verschiedenen Temperaturen startenden Geo-Chronometer ermöglichen die Rekonstruktion der langfristigen Hebungs-und Abtragungsgeschichte grösserer Gebiete. Analysen des Molassebeckens und des angrenzenden Tafeljuras weisen etwa auf eine Hebung von ca. 1 km in den letzten 5 bis 10 Millionen Jahren hin (Cederbom et al. 2008; Cederbom et al. 2011; Kuhlemann und Rahn 2013; Mazurek et al. 2006). Damit entsprechen die heutigen, geodätisch ermittelten Hebungsraten dem Durchschnitt der Hebungs- und Abtragungsgeschichte der letzten Millionen Jahre.

Die Erdbebenaktivität liefert direkte Erkenntnisse zu möglichen aktiven Störzonen sowie zum seismischen Abbau tektonischer Spannungen im Untergrund. Der aktuelle Erdbebenkatalog des Schweizer Erdbebendiensts SED «ECOS-09» (SED 2011) umfasst u. a. makroseismische Ereignisse zwischen den Jahren 250 und 2008 sowie Erdbebenlokalisierungen des instrumentellen Netzwerks des Schweizerischen Erdbebendienstes seit 1975. Der makroseismische Teil des Katalogs beruht auf der Auswertung der beobachteten und historisch überlieferten Auswirkungen der Erdbeben auf Mensch und Umwelt. Die Epizentren und Erdbeben-Magnituden werden indirekt aus diesen Angaben hergeleitet. Der instrumentelle Teil basiert auf der Analyse gemessener Bodenbewegungen. Aus diesen werden die Lokalisierung der Epizentren und die Magnituden direkt berechnet. Die Figuren 108-3 und 108-4 visualisieren den Erdbebenkatalog bzgl. Magnituden und Herdtiefen.

Figur 108-3: Erdbebenaktivität in der Nordschweiz im Zeitraum zwischen 250 n. Chr. und 2008. Dargestellt ist die Erdbebenstärke gemäss Erdbebenkatalog des Schweizer Erdbebendiensts (ECOS-09; SED 2011). Die Beben in den geologischen Standortgebieten der Nordschweiz zeigen maximale Magnituden von 4. Zu beachten gilt, dass die Lokalisierung und Magnitudenbestimmung der nicht instrumentell erfassten Beben (d. h. vor 1975) mit grösseren Unsicherheiten behaftet ist.
Figur 108-3: Erdbebenaktivität in der Nordschweiz im Zeitraum zwischen 250 n. Chr. und 2008. Dargestellt ist die Erdbebenstärke gemäss Erdbebenkatalog des Schweizer Erdbebendiensts (ECOS-09; SED 2011). Die Beben in den geologischen Standortgebieten der Nordschweiz zeigen maximale Magnituden von 4. Zu beachten gilt, dass die Lokalisierung und Magnitudenbestimmung der nicht instrumentell erfassten Beben (d. h. vor 1975) mit grösseren Unsicherheiten behaftet ist.

Aus den Daten des Erdbebenkatalogs lässt sich schlussfolgern, dass die Erdbebenaktivität der Nordschweiz schwach bis mittelmässig ist. Aus der räumlichen Verteilung der seismischen Ereignisse lässt sich keine der bekannten Störungssysteme (Baden-Irchel-Herdern-Lineament, Jura-Hauptüberschiebung, Lägern-Überschiebung, Vorwald-Störung, Mandacher Störung, Neuhauser Störung etc.) als seismisch aktiv identifizieren. Auffallend ist jedoch Die Häufung von Erdbeben an der bereits oben genannten Stelle am Hauenstein am Übergang von Falten- zu Tafeljura. Die hier auftretende seismische Aktivität kann jedoch nicht einer bekannten Störung zugeordnet werden.

Figur 108-4: Erdbebenaktivität in der Nordschweiz im Zeitraum zwischen 250 n. Chr. und 2008. Dargestellt sind die rekonstruierten Herdtiefen gemäss Erdbebenkatalog des Schweizer Erdbebendiensts (ECOS-09; SED 2011). Die Erdbebenherde von Erdbeben in den geologischen Standortgebieten der Nordschweiz liegen – mit wenigen Ausnahmen – in Tiefen > 10 km. Zu beachten gilt, dass die Lokalisierung und Herdtiefenbestimmung der nicht instrumentell erfassten Beben (d. h. vor 1975) mit grösseren Unsicherheiten behaftet ist.
Figur 108-4: Erdbebenaktivität in der Nordschweiz im Zeitraum zwischen 250 n. Chr. und 2008. Dargestellt sind die rekonstruierten Herdtiefen gemäss Erdbebenkatalog des Schweizer Erdbebendiensts (ECOS-09; SED 2011). Die Erdbebenherde von Erdbeben in den geologischen Standortgebieten der Nordschweiz liegen – mit wenigen Ausnahmen – in Tiefen > 10 km. Zu beachten gilt, dass die Lokalisierung und Herdtiefenbestimmung der nicht instrumentell erfassten Beben (d. h. vor 1975) mit grösseren Unsicherheiten behaftet ist.

 

Reliefanalysen mit Hilfe von LiDAR-Aufnahmen können helfen, geomorphologische Auffälligkeiten, wie linear verlaufende Versätze zu identifizieren. Solche Versätze können Hinweise auf aktive neotektonische Bewegungen des Untergrunds geben. «LiDAR» steht für light detection and ranging, einer laserbasierten Fernerkundungstechnik zur Erstellung hochauflösender, digitaler Landschafts- und Höhenmodelle. In der Etappe 1 des Sachplans geologische Tiefenlager hatte das ENSI weite Teile der Nordschweiz auf Spuren neotektonischer Aktivität durch Auswertung von LiDAR-Reliefaufnahmen systematisch untersucht (vgl. ENSI 33/44). Es wurden nur wenige diskrete Versätze gefunden, die nicht anderweitig erklärbar waren. Der grösste weist bei Oberweningen einen nach Osten abschiebenden Versatz von ca. 8 m auf und befindet sich in den Höheren Deckenschottern nördlich des Ostendes der Lägern (Figur 108-5). Die ENE gerichtete Abschiebungsrichtung passt nicht zum aktuell NNW-SSE gerichteten Spannungsfeld noch zu anderen bekannten Störungsrichtungen (rheinisch, alpin). Ob es sich daher um eine neotektonisch bedingte Störung handelt, kann allein aufgrund der LiDAR-Untersuchungen nicht festgestellt werden. Die niedrige Sprunghöhe kann indes als Indiz für eine geringe neotektonische Aktivität im untersuchten Gebiet gewertet werden. Weitere LiDAR-Analysen erfolgten im Zusammenhang mit den Neubauprojekten der Kernkraftwerke Mühleberg (ENSI 13/10), Niederamt (ENSI 18/12) und Beznau (ENSI 16/10); ebenfalls ohne klare Hinweise auf neotektonische Aktivität.

 

Figur 108-5: LiDAR-Reliefaufnahme im Gebiet von Oberweningen und Dielsdorf. Im unteren Teil ist das östliche Ende der Lägern gut erkennbar. Nördlich davon befindet sich das Wehntal mit dem letzteiszeitlichen (LGM) Moränenwall bei Schöfflisdorf. Im oberen Bildteil sind die Höheren Deckenschotter Vorkommen (HDS) der Egg sichtbar. In diesem Gebiet ist anhand des Schattenwurfs eine auffällige Linie (gelbe Pfeile) zu erkennen. Bei 15° Lichteinfallwinkel aus NW ergibt sich daran eine Sprunghöhe von ca. 8 m. mit einer Absenkung auf der Ostscholle bzw. Kippung eines 20° streichenden Blocks nach Westen. In rot sind mit durchgezogene Linien offensichtliche und wahrscheinliche Störungen und mit gestrichelten Linien vermutetet Störungen markiert. Die Abbildung wurde ohne Veränderungen aus ENSI 33/44 übernommen.
Figur 108-5: LiDAR-Reliefaufnahme im Gebiet von Oberweningen und Dielsdorf. Im unteren Teil ist das östliche Ende der Lägern gut erkennbar. Nördlich davon befindet sich das Wehntal mit dem letzteiszeitlichen (LGM) Moränenwall bei Schöfflisdorf. Im oberen Bildteil sind die Höheren Deckenschotter Vorkommen (HDS) der Egg sichtbar. In diesem Gebiet ist anhand des Schattenwurfs eine auffällige Linie (gelbe Pfeile) zu erkennen. Bei 15° Lichteinfallwinkel aus NW ergibt sich daran eine Sprunghöhe von ca. 8 m. mit einer Absenkung auf der Ostscholle bzw. Kippung eines 20° streichenden Blocks nach Westen. In rot sind mit durchgezogene Linien offensichtliche und wahrscheinliche Störungen und mit gestrichelten Linien vermutetet Störungen markiert. Die Abbildung wurde ohne Veränderungen aus ENSI 33/44 übernommen.

 

Figur 108-6: Schematische Darstellung der Gesteinshärte resp. der Verwitterungsresistenz des nordschweizer Schichtprofils im Hinblick auf den flächenhaften Abtrag (abgeschätzt aufgrund der lithologischen Verhältnisse in der Sondierbohrung Benken). Unverändert aus NTB 99-08.
Figur 108-6: Schematische Darstellung der Gesteinshärte resp. der Verwitterungsresistenz des nordschweizer Schichtprofils im Hinblick auf den flächenhaften Abtrag (abgeschätzt aufgrund der lithologischen Verhältnisse in der Sondierbohrung Benken). Unverändert aus NTB 99-08.

Aus den voran betrachteten Datensätzen lassen sich für die geologischen Standortgebiete der Nordschweiz keine klaren Anzeichen neotektonischer Aktivität nachweisen. Weiterer Abklärungsbedarf besteht für die möglichen Hinweise auf differenzielle Oberflächenbewegungen im Bereich Hauenstein (nordwestlich des Standortgebiets Jura-Südfuss) und bei Oberweningen (südlich des Standortgebiets Nördlich Lägern). Durch die angestrebte Verdichtung des Schweizer Schwachbebennetzwerks ist mit einer Präzisierung der Erdbebenlokalisierung zu rechnen. Ob sich hierdurch wie erhofft konkretere Hinweise auf seismisch aktive Störungszonen ergeben, bleibt abzuwarten.

Erosion und Tektonik stehen in einem komplexen Wechselspiel. Erosion kann (neo)tektonische Prozesse auslösen oder begünstigen und Tektonik wiederum, kann Erosionsprozesse unterstützen oder anschieben. Erosionsprozesse können in ungünstigen Fällen die ablaufenden tektonischen Prozesse, wie differenzielle Oberflächenbewegungen komplett kaschieren. Dies zum Beispiel, wenn die erodierten Gesteinsabfolgen zu wenig spezifisch sind, um tektonisch bedingte Unterschiede in der vertikalen Abfolge zu erkennen oder wenn die tektonisch aktiven Zonen von jungen Sedimenten überdeckt werden. Über sehr lange Zeiträume hinweg betrachtet, ist eine Beschleunigung von Erosionsprozessen vorstellbar, wenn durch (neo)tektonische Prozesse weniger erosionsresistente Gesteine an die Oberfläche gelangen. Im Gegenzug ist eine Verringerung von Erosionsraten ebenfalls vorstellbar, wenn durch (neo)tektonische Prozesse erosionsresistentere Gesteine an die Oberfläche gelangen. Für die Nordschweiz bedeutet dies beispielsweise, dass bei einer Freilegung der Malmkalke mit einer Abnahme der Erosionsbeträge im Vergleich zu den heutigen, durch anstehende Molassesedimente dominierten Erosionsraten gerechnet werden muss (vgl. Figur 108-6).

Da lineare Erosionsvorgänge sich bevorzugt an natürlichen Schwächezonen ausbilden, ist eine Beschleunigung der Erosion tendenziell vorstellbar, wenn im Untergrund vorhandene Störungen durch Hebung und Abtragung an die Oberfläche gelangen. Dabei gilt es jedoch die Höhen- resp. Tiefenlage der Erosionsbasis zu beachten, da unterhalb dieser, Erosionsvorgänge nicht wirksam sein können. Eine Ausnahme hiervon bildet die glaziale Tiefenerosion. Eine Beschleunigung der flächenhaft wirkenden Erosion ist durch eine rasche Absenkung der regionalen Erosionsbasis theoretisch denkbar. Aus (neo)tektonischer Sicht könnte dies mittels ausgeprägter Absenkung des Oberrheingrabens erreicht werden. Innerhalb des für die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle zu betrachtenden Zeitraums von 1 Million Jahren sind markante Veränderungen bzgl. der Absenkung des Oberrheingrabens hingegen eher unwahrscheinlich.

Trotz den oben vorgestellten methodischen Möglichkeiten bleibt die Nordschweiz für das direkte Erkennen von neotektonischer Aktivität ein schwieriges Terrain. Hauptgründe hierfür sind die mässigen Aufschlussverhältnisse aufgrund des Überbauungsgrads, der Vegetationsverhältnisse und nicht zuletzt der Überdeckung des Felsuntergrunds durch quartäre Sedimente. Aus der Tatsache, dass keine signifikanten Anzeichen neotektonischer Aktivität –weder seismisch noch aseismisch – in der Nordschweiz nachgewiesen werden können, kann geschlussfolgert werden, dass entweder a) die jungen sedimentären Deckschichten neotektonische Prozesse im Untergrund wirksam kaschieren oder b) tatsächlich keine signifikanten neotektonischen Prozesse ablaufen.

Referenzen

Becker A. (1993): An attempt to define a “neotectonic period” for central and northern Europe. Geologische Rundschau 82, 67-83. DOI: 10.1007/BF00563271.

Cederbom C.E., Schlunegger F., Sinclair H.D., Van der Beek P.A. (2008): Late Neogene climatic, tectonic and geodynamic(?) forcing on the European Alps recorded by the erosion history of the North Alpine Foreland Basin. Geophysical Research Abstracts 10, EGU2008-A-01147.

Cederbom C.E., Van der Beek P., Schlunegger F., Sinclair H.D., Onken O. (2011): Rapid extensive erosion of the North Alpine foreland basin at 5–4 Ma. Basin Research 23, 528-550. DOI: 10.1111/j.1365-2117.2011.00501.x.

ENSI 13/10: Gutachten des ENSI zum Rahmenbewilligungsgesuch der EKKM AG – Neubauprojekt Ersatzkernkraftwerk Mühleberg, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Brugg, 2010.

ENSI 16/10: Gutachten des ENSI zum Rahmenbewilligungsgesuch der EKKB AG – Neubauprojekt Ersatzkernkraftwerk Beznau, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Brugg, 2010.

ENSI 18/12: Gutachten des ENSI zum Rahmenbewilligungsgesuch der KKN AG – Neubauprojekt Kernkraftwerk Niederamt, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Brugg, 2010.

ENSI 33/44: Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 1: Untersuchungen zu neotektonischen Bewegungen zwischen Jura-Südfuss und Untersee anhand eines LIDAR-Geländemodells der swisstopo, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Technische Beurteilung, Brugg, 2010.

Heidbach O., Tingay M., Barth A., Reinecker J., Kurfeß D., Müller B. (2010): Global crustal stress pattern based on the World Stress Map database release 2008. Tectonophysics 482, 3-15. DOI: 10.1016/j.tecto.2009.07.023.

Kuhlemann J., Rahn M. (2013): Plio-Pleistocene landscape evolution in Northern Switzerland. Swiss Journal of Geosciences 106, 451–467. DOI: 10.1007/s00015-013-0152-6.

Mazurek M., Hurford A.J., Leu W. (2006): Unravelling the multi-stage burial history of the Swiss Molasse Basin: integration of apatite fission track, vitrinite reflectance and biomarker isomerisation analysis. Basin Research 18, 27-50.

NAB 12-05: Analyse des rezenten Spannungsfeldes der Nordschweiz, Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Nagra Arbeitsbericht, Wettingen, 2013.

NAB 12-34: Rezente vertikale Oberflächenbewegungen in der Nordschweiz und in Süddeutschland – Kinematischer Ausgleich der Landesnivellementlinien CH/D, Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Nagra Arbeitsbericht, Wettingen, 2013.

NTB 99-08: Geologische Entwicklung der Nordschweiz; Neotektonik und Langzeitszenarien Zürcher Weinland, Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Nagra Technischer Bericht, Wettingen, 2002.

Reinecker J., Tingay M., Müller B., Heidbach O. (2010): Present-day stress orientation in the Molasse Basin. Tectonophysics 482, 129-138. DOI: 10.1016/j.tecto.2009.07.021.

SED (2011): ECOS-09 Earthquake Catalogue of Switzerland Release 2011, Report SED/RISK/R/001/20110417, Swiss Seismological Service ETH Zurich, Zürich.

Stewart I.S., Hancock P.L. (1994): Neotectonics, in Hancock P.L., ed., Continental Deformation: London, Pergamon Press, p. 341-399.

Tesauro M., Hollenstein C., Egli R., Geiger A., Kahle H.-G. (2005): Continuous GPS and broad-scale deformation across the Rhine Graben and the Alps. International Journal of Earth Sciences 94, 525-537. DOI: 10.1007/s00531-004-0453-0.

 

Beantwortet von EGT (ehem. KNE)

In ihrer Antwort auf TFS Frage 108 gibt die Expertengruppe Geologischer Tiefenlagerung (EGT) zunächst eine Erklärung des Begriffs «Neotektonik» und beschreibt anschliessend verschiedene, in der Nordschweiz möglicherweise vorkommenden Erscheinungsformen sowie verschiedene anwendbare Untersuchungsmethoden. In den Schlussfolgerungen hält die EGT fest, dass nach heutigen Erkenntnissen die neotektonische Aktivität in der Nordschweiz in den letzten 4 bis 5 Millionen Jahren sehr bescheiden gewesen war. Da die neotektonischen Untersuchungen voraussichtlich keine Unterlagen liefern werden, die für die Auswahl von Standorten geologischer Tiefenlager in Etappe 2 des Sachplans geologische Tiefenlager (SGT) wichtig wären, werden sie sich bis zur Etappe 3 SGT erstrecken.

a)

TFS-Frage 108 «Abklärung tektonischer und neotektonischer Prozesse» ist eine Fortsetzung und verlangt eine Präzisierung von einem Teil der Antwort auf TFS-Frage 70 «Umgang mit unvorhersehbaren Naturgefahren». Frage 108 beginnt mit einem Zitat aus dieser Antwort zur Definition von «Neotektonik», und formuliert danach zwei Teilfragen. Die folgende Diskussion ist hauptsächlich eine Behandlung der Teilfragen a): «Welche tektonische und neotektonische Prozesse laufen derzeit (d. h. in den letzten paar Hunderttausend Jahren bis in einigen Hunderttausend Jahren) in diesen Gebieten ab? Wie viele davon sind „neotektonisch“ im Sinne der Definition EGT?». Auch die Schlussbemerkung: «Gemäss den Antworten zur Frage 70 sind ja weitere Untersuchungen zur Tektonik / Neotektonik am Laufen, wobei nicht klar wird, ob und wie die hier angesprochenen Fragen berücksichtigt werden» wird nachfolgend kommentiert.

Begriffserklärungen

In der Antwort auf Frage 70 wurden die folgenden Begriffe bereits kurz erklärt. Sie werden als Basis der folgenden Ausführungen weiterhin verwendet.

Tektonik:  Grossräumige Struktur der Erdkruste und die daraus abgeleiteten grossräumigen Prozesse (z. B. Plattenbewegungen, Schwerkraft, Isostasie, Bruchbildung, etc. auf regionalem Massstab)
Neotektonik: Erscheinungen, die auf geologisch sehr junge tektonische Bewegungen hinweisen, die bis in die Gegenwart aktiv sein könnten, aber ohne dynamische Begleiterscheinungen (direkt messbare Hebung/Senkung, Seismizität, usw.)
Rezente Tektonik: Krustenbewegungen der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit, die mittels der Analysen von dynamischen Daten (aus der Seismologie, Geodäsie, usw.) bestimmt wurden, auch «aktive Tektonik» oder auf grösserem Massstab «Geodynamik» genannt

 

Die letzten zwei Begriffe sind sinngemäss nach den Definitionen der Nagra (z. B. NTB 99‑08, S. 67) übernommen worden und entsprechen ungefähr der heutigen Anwendung dieser eher unpräzisen Begriffe (z. B. American Geological Institute, Glossary of Geology, 2005: «Neotectonics: the study of the post-Miocene structures and structural history of the Earth’s crust»). Es gibt aber bei der Anwendung dieser Begriffe fliessende Übergänge zwischen Tektonik und Neotektonik, und vor allem zwischen Neotektonik und rezenter Tektonik. Wichtig dabei ist besonders der Teilsatz «die bis in die Gegenwart aktiv sein könnten», weil die Beurteilung von Erscheinungen als «neotektonisch» (im oben genannten Sinne) oft mit einer Interpretation der heutigen geodynamischen Verhältnisse eng verknüpft wird. Dabei wird oft Neotektonik und rezente Tektonik zusammen als Neotektonik bezeichnet, und – für die vorliegende Problemstellung besonders wichtig – in die (geologisch) unmittelbare Zukunft hinein projiziert.

Präzisierungen (in Bezug auf die Nordschweiz und das Projekt)

Als Richtschnur für die Nordschweiz können wir annehmen, dass Bewegungen der Erdkruste, die während den letzten 4 bis 5 Millionen Jahren (Pliozän-Pleistozän-Holozän) stattgefunden haben und vermutlich noch während der nächsten Million Jahre stattfinden werden, als «Neotektonik» zu bezeichnen sind. Untersuchungen in der Nordwestschweiz und im angrenzenden Ostfrankreich weisen darauf hin, dass der regionale Paläostress dieser Periode der heutigen Situation ähnlich war, was auf eine Kongruenz der neotektonischen und rezenten tektonischen Situation in der Nordschweiz hinweist und eine Extrapolation bis in die nächste Million Jahre als vernünftig erscheinen lässt.

Innerhalb dieses Zeitraums (Pliozän-Pleistozän-Holozän) sind die abgelagerten Sedimente noch nicht verfestigt und werden oft undifferenziert als «Lockergestein» oder für die Zeit ab dem Pleistozän als «Quartär» bezeichnet. Ältere Ablagerungen, die meist schon verfestigt sind (Jura-Kalk, Molasse-Sandsteine, usw.), werden manchmal mit den Sammelbegriffen «Fels» oder «Felsuntergrund» bezeichnet. Nach dieser groben Unterteilung sind neotektonische Effekte hauptsächlich im «Lockergestein» eindeutig als «neotektonisch» zu identifizieren. Im «Felsuntergrund» sind solche Effekte kaum oder gar nicht von älteren tektonischen Erscheinungen zu unterscheiden – die Bewegungen finden meistens durch eine schwache Reaktivierung von früher angelegten tektonischen Strukturen (Bruchzonen, Falten) statt. Beschreibungen von neotektonischen Erscheinungen sind deshalb in der wissenschaftlichen Literatur nicht oft anzutreffen (wobei die Region Basel und die Alpen sehr gut repräsentiert sind). Geologische Phänomene, die möglicherweise auf einen Zusammenhang mit Krustenbewegungen in den letzten 4 bis 5 Millionen Jahren (Neotektonik) hinweisen, sind zum Beispiel: regionale Hebung / Senkung (z. B. Änderungen in den Wasserscheiden der Hauptflüsse, Argon-Argon Geothermometrie und Geochronologie); lokale Hebung / Senkung (z. B. «Paläo-Mäander», Durchbruchsrinnen); Faltung und / oder Bruchbildung im Lockergestein; Höhenunterschiede der Basis des Höheren Deckenschotters (HDS); paläoseismische Phänomene in Sedimenten in den Schweizer Seen; quartärgeologische Phänomene (z. B. Gletscher-Vorstösse und Rückzüge); und so weiter. Zusammen mit den Daten aus den Untersuchungen rezenter Tektonik (siehe Antwort der ENSI) geben diese Unterlagen einen Einblick in die Krustenbewegungen, die im hier interessierenden Zeitraum «in den letzten paar Hunderttausend Jahren bis in einigen Hunderttausend Jahren» stattgefunden haben. Ein Überblick über die vorläufigen Resultate von bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen in diesem weitgespannten Fachgebiet und die geplanten Arbeiten für Etappe 3 des Sachplans geologische Tiefenlager wird mit den von der Nagra in Etappe 2 SGT vorzulegenden Unterlagen erwartet.

Vorläufiges Fazit der EGT

In der Nordschweiz hat es eine Reihe von generellen und punktuellen Phänomenen, die darauf hinweisen, dass schwache Krustenbewegungen (schwach im Vergleich etwa zur Jurafaltung) in den vergangenen 4 bis 5 Millionen Jahren stattgefunden haben. Diese Hinweise sind von geomorphologischer und / oder sedimentologischer Natur, d. h. sie betreffen heute beobachtbare Landformen und / oder Lockergestein-Ablagerungen). Sie sind wegen späterer Erosion, Überdeckung, Vegetation, menschlichen Eingriffen usw. nur sehr lückenhaft erhalten. Deswegen sind sie sehr schwierig definitiv zu belegen und fast unmöglich quantitativ zu untersuchen, müssen aber im Zusammenhang mit nuklearer Entsorgung und der Frage der Langzeitsicherheit ernst genommen, d. h. in Zweifelsfällen konservativ behandelt werden.

In Allgemeinen kann man sagen, dass diese neotektonischen Erscheinungen durch in Bezug auf Erosion / Ablagerung (Hebung / Senkung) langsame, grossräumige Oszillationen der Krustenoberfläche und durch begleitende, kleinräumige Ausgleichsbewegungen von Krustenteilen entlang schon vorhandener Schwächezonen (Flexuren, Reaktivierung von Brüchen, Erdbeben) bedingt sind. Aus der publizierten Literatur bekommt man den Eindruck, dass die neotektonische Aktivität im Bereich der in der Nordschweiz vorgeschlagenen Standortgebiete geologischer Tiefenlager sehr bescheiden gewesen war im Vergleich zum Beispiel mit dem nordwestlichen Teil des Juras und seinem Vorland (Oberrheingraben, Bressegraben) oder mit dem Alpenraum. Wenn man den Zeitraum seit Ende der Jurafaltung bis heute betrachtet (4 bis 5 Millionen Jahre) wäre das wichtigste neotektonische Ereignis die starke Hebung des Molassebeckens vor einigen Millionen Jahren und die damit verbundene schnelle Erosion, gefolgt von der Ablagerung der «Höheren Deckenschotter» (HDS) als eine mehr oder wenige kontinuierliche Schicht über die eingeebnete Erosionsfläche (Zeitraum der HDS-Ablagerung 2 bis 3 Millionen Jahren vor heute). Bei der Beurteilung der Neotektonik im Bereich der in der Nordschweiz vorgeschlagenen Standortgebiete geologischer Tiefenlager spielt deshalb die genaue Kartierung der Basis HDS eine wichtige Rolle. Die mögliche tektonische Beeinflussung der Basis HDS findet also nach den relativ grossen Krustenbewegungen des Zeitraums vor 5 bis 3 Millionen Jahren statt. Nach den heutigen Erkenntnissen ist dieser Markerhorizont von tektonischen Effekten sehr wenig beeinflusst worden. In der von den Fragestellern erwähnten Zeitperiode werden nur die Krustenbewegungen in Zusammenhang mit einer neuen Eiszeit für einen Tiefenlager von Bedeutung sein.

Im Hinblick auf die von der Nagra in Etappe 2 SGT vorzulegenden Unterlagen ist nicht zu erwarten, dass die vorläufigen Resultate und die für die Zukunft geplanten Untersuchungen auf dem Gebiet Neotektonik ‑ rezente Tektonik (Geodynamik) einen wesentlichen Einfluss auf das Auswahlverfahren haben werden. Die Untersuchungen werden deshalb auch nicht am Ende der Etappe 2 SGT abgeschlossen sein, sondern sich bis in die Etappe 3 erstrecken.

Beantwortet von KNS

Einleitend wird festgehalten, dass die in der Frage zitierte Aussage der KNS in der Antwort auf Frage 70 des Technischen Forums Sicherheit (TFS) aus Sicht der KNS nach wie vor Gültigkeit hat. Weitergehende und präzisere Aussagen zu diesem Themenkomplex sind erst zu erwarten, wenn die detaillierten Resultate der in Auswertung begriffenen 2D-Reflexionsseismik der Nagra (Messkampagne 2011/2012 und reprozessierte ältere seismische Profile) vollständig vorliegen. Die nachfolgenden Antworten sind demzufolge nicht als abschliessend zu betrachten.

a)

Die tektonischen bzw. neotektonischen Prozesse in der subjurassischen und in der Vorfaltenzone während der letzten 100 000 Jahre lassen sich nach dem heutigen Stand der Kenntnisse nicht quantifizieren. So sind beispielsweise Brüche mit morphologischer Wirkung aus dieser Zeit nicht bekannt. Vor circa 800 000 Jahren jedoch hat die letzte und möglicherweise wichtigste Phase der „Mittelpleistozänen Revolution“ oder der „Mittelpleistozänen Ereigniskette“ stattgefunden. Damit verbunden waren in beiden Gebieten Hebungen, mit denen eine relative Tieferlegung der Erosionsbasis einhergegangen ist. Die resultierende Eintiefung der Fliessgewässer führte dazu, dass die Landschaft der (Höheren und Tieferen) Deckenschotter durchschnitten wurde. Es ist nicht auszuschliessen, dass diese Vertikalbewegungen mit der finalen Hebung des Juragebirges im Zusammenhang stehen (Deckenschotter bei Boppelsen). Es kann davon ausgegangen werden, dass spätestens zu dieser Zeit die hydrographische Verknüpfung von Molasse-Mittelland und Juragebirge (Born-Antiklinale, Wasserschloss bei Brugg, Durchbruch bei Baden, etc.) stattgefunden hat. Das Gebiet des Birrfelds kann als „Pull-apart“ (Aufreiss-)Struktur betrachtet werden, was die grosse morphologische Komplexität im unteren Aaretal und im Birrfeld bzw. im unteren Reusstal erklären könnte. Weitere und verfeinerte Überlegungen dazu sind aber notwendig.

Im Hinblick auf weitere Auswertungsmöglichkeiten wird empfohlen, die Resultate der Präzisionsnivellements mit Fixpunkt Aarburg bzw. Laufenburg miteinander zu vergleichen und in Beziehung zu setzen.

b)

In den angesprochenen Gebieten sind die Taleintiefungen zu einem grossen Teil auf die oben skizzierte relative Hebung zurückzuführen. Flächenhafter Abtrag ist nicht nachgewiesen und dürfte auch nicht nachweisbar sein, da Bezugshorizonte in der Verwitterungsdecke fehlen. Gegen flächenhaften Abtrag spricht auch die Existenz eines mehr als 30 m mächtigen Paläobodens auf den Tieferen Deckenschotter bei Mellstorf.

Die Beziehung zwischen jungen tektonischen Vorgängen und Erosion bzw. Ablagerung ist äusserst schwierig zweifelsfrei nachzuweisen. Es gibt aber die nachfolgend genannten Lokalitäten, die diesbezüglich mehr Information liefern können:

  • Aaretal bei Wildegg–Schinznach: Eine Felsterrasse der Aare ist von jüngeren Schottern überlagert. Diese sind wiederum von jüngerem Gehängeschutt bedeckt. Ein Aaretal-paralleler Bruch mit jungem Versatz ist hier nicht auszuschliessen.
  • Ein sedimentärer Zusammenhang mit einer Klus ist beispielsweise von der Klus von Balsthal mit einer tieferliegenden Aufschotterung unbekannten Alters ins Gäu hinaus bekannt.

Hinsichtlich der wirksamen Erosionsbasis und des Erosionspotenzials in den nächsten 100 000 Jahren werden die Entwicklung des Oberrheingrabens und der mögliche Verlauf der Hebung des Südschwarzwaldes eine wichtige Rolle für die Nordwestschweiz spielen. Eine belastbare Prognose dieser Entwicklungen ist aber nicht möglich. Bezüglich der Bedeutung der diskutierten Prozesse für die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers in den betrachteten Standortgebieten kann festgehalten werden, dass die Tiefenerosion infolge verstärkter lokaler oder regionaler bruchtektonischer Beanspruchung vermutlich ein deutlich grösseres Gefährdungspotential darstellt als der flächenhafte Abtrag in den Standortgebieten.