Technisches Forum Kernkraftwerke

Frage 4: Hochwasser

Zusatzfrage zur Antwort auf Frage 22 anlässlich des ENSI-Forums vom 4. September 2012

Die Wassermengen im Falle eines 10‘000-jährigen Hochwassers wurden im Bericht Scherrer, „Hydrologische Untersuchungen an der Aare für die Kraftwerke in Beznau“, 08/102C, wie folgt angegeben: Aare Brugg: 2‘100m3/s.

Im Jahr 2007 führte die Aare in Brugg ca. 1‘400m3/s. Die damalige Pegelhöhe unter der Steinbrücke in der Aareschlucht in Brugg lag ca. 3 Meter über dem Normalwasserstand, bei 200-300m3/s. Auf Ihrer Internetseite zeigen Sie (ENSI) einen Querschnitt der Brugger Brücke, mit Referenzen zu Hochwassern im 1852, 1876 und 1881 – die Marken der Hochwasser 1876 und 1881 liegen im ähnlichen Bereich wie dasjenige im Jahr 2007.

Bei vorsichtiger Hochrechnung der Wassermengen auf die Marke 1852, resultiert eine damalige Wassermenge von 2‘000-2‘200m3/s (d.h. dem errechneten Maximalwert eines 10‘000-jährigen Hochwassers). Im Bericht Scherrer wird bei der Auflistung der historischen Hochwasser auch dasjenige im Jahr 1480 erwähnt, bei dem das Wasser eine frühere Brücke überflutete und durch die Brugger Vorstadt floss. Damit dies passieren kann musste mindestens 1,5 bis 2-mal soviel Wasser durch die Brugger Aareschlucht geflossen sein. Der Ausflusspunkt in die Vorstadt liegt heute 6-7 Meter über dem Hochwasserpegel von 2007 und dürfte aufgrund der felsigen Seitenwände der Aareschlucht auch damals etwa so hoch gelegen haben.

Fazit: beim Hochwasser im Jahr 1480 dürfte die Aare in Brugg über 3‘000m3/s Wasser geführt haben. Der ausgewiesene „Scherrer-Wert“ wurde somit um 50% überschritten.

  • Wieso akzeptiert das ENSI Hochwasserstudien mit Angaben, die anhand von vorhandenen Hochwassermarken überprüft werden können und als falsch erkannt werden könnten?
Thema Bereich
Eingegangen am 23. April 2013 Fragende Instanz Heini Glauser
Status beantwortet
Beantwortet am 14. März 2014 Beantwortet von

Beantwortet von ENSI

4.1  Zitat: Bei vorsichtiger Hochrechnung der Wassermengen auf die Marke 1852, resultiert eine damalige Wassermenge von 2‘000-2‘200m3/s (d.h. dem errechneten Maximalwert eines 10‘000-jährigen Hochwassers).“

ENSI-Antwort:

Bei der Bestimmung der Abflüsse von historischen Hochwasserereignissen besteht die generelle Problematik darin, dass aus einem Pegelstand nicht einfach ein Abfluss abgeleitet werden kann, Pegel und Flussquerschnitt häufig nicht eindeutig definiert und bekannt sind, der Einfluss von Verklausungen und Aufstauungen unbekannt ist und der Einfluss von Überflutungsflächen und Korrektionen (Dämpfung) unklar ist. An der Uni Bern gibt es deshalb einen Lehrstuhl zur Erforschung historischer Hochwasser.

Die nachfolgende Abbildung aus /6/ zeigt diese Problematik exemplarisch auf.

ENSI_Hochwasser_4_0
Abbildung 1: HW-Marken im Berner Mattequartier. Quelle: Jahrtausendhochwasser von 1480 an Aare und Rhein, Christian Pfister und Oliver Wetter, Foto: Oliver Wetter

 

Angaben zu historischen Hochwasserereignissen sind immer sehr kritisch zu betrachten und auf Plausibilität zu überprüfen. Ein wichtiger Schritt dabei ist die Betrachtung des Längsschnittes, also die Überprüfung, ob die Angaben an verschiedenen Stellen des Flusslaufes zusammen passen.

Die Hochwassermarken in Brugg bei der Brücke sind an einer eher ungeeigneten Messstelle, da die Strömung dort wegen der vorherigen Kurve, der Verengung, dem Kolk und einem allfälligem Rückstau an der Brücke hoch komplex ist.

In /2/ wurde das Hochwasser vom 17. und 18. September 1852 für Aarau und Brugg nachgerechnet. Für Aarau resultiert aus dem beobachteten Pegel ein Abfluss von 1375 m3/s. Dieser Abfluss wird aufgrund des detailliert vermessenen Querprofils und der exakten Hochwassermarke als sicher (für ein historisches Hochwasser) bezeichnet. Für Brugg wird festgehalten, dass der Einfluss des Unterwassers wegen dem heute stark reduzierten Geschiebetrieb mit Unsicherheiten verbunden ist und heute die Sohle tendenziell tiefer liegt. Ferner wird in /2/ festgehalten, dass der für Brugg bestimmte Abfluss von 1700 m3/s unter Berücksichtigung der Zuflüsse im Zwischeneinzugsgebiet einigermassen mit dem bei Aarau berechneten Wert zusammenpasst.

In /3/ wird davon ausgegangen, dass sich die Höhendifferenz (1,90 m) zwischen der Hochwassermarke unmittelbar oberhalb der Aarebrücke und der Marke unterhalb durch den Aufstau vor dem Engnis der Brücke erklärt. Die daraus abgeschätzte mittlere Geschwindigkeit lag demnach bei ca. 6 m/s. Der durchflossene Querschnitt wurde aus Querprofilaufnahmen um 1900 durch das BAFU auf 280 m2, resp. 240 m2 (Profil La Nicca) abgeschätzt. Daraus resultiert ein Abfluss von 1‘500 – 1‘700 m3/s.

Der Zeitzeuge Zschokke /4/ schätzte den Abfluss dieses Hochwassers ebenfalls in dieser Grössenordnung ab.

Der mithilfe der Hochwassermarken von 1852 in Döttingen und in Stilli rekonstruierte Hochwasserabfluss am Standort Aare-Untersiggental liegt zwischen 2‘600 und 3‘000 m3/s. Davon stammen gemäss historischen Daten 700 m3/s aus der Reuss. Die verbleibenden 1‘900 – 2‘300 m3/s beinhalten auch den Zufluss aus der Limmat, der selbst bei einem lediglich 10-jährlichen Hochwasser 500 m3/s beträgt. Aus Sicht des ENSI zeigt auch die Kontrolle mithilfe der Hochwassermarken von 1852 in Döttingen und in Stilli, dass der Abfluss von 1‘500 – 1‘700 m3/s in Brugg plausibel ist.

Für Basel wird in /1/ ein Abfluss des Rheins von 5642 m3/s für dieses Hochwasser berechnet. Insgesamt ist die Abschätzung des Hochwasserabflusses von 1852 an der Aare bei Brugg mit einem Bereich von 1‘500 – 1‘700 m3/s daher sinnvoll.

 

4.2  Zitat: …beim Hochwasser im Jahr 1480 dürfte die Aare in Brugg über 3‘000m3/s Wasser geführt haben. Der ausgewiesene „Scherrer-Wert“ wurde somit um 50% überschritten.“

ENSI-Antwort:

In /3/ wird zitiert, dass die Aare am 24. Juli 1480 so hoch angestiegen war, dass sie in Brugg die Höhe der Aarebrücke erreichte, ja über diese hinwegströmte.

Die Brücke über die Aare in Brugg wurde in der Vergangenheit mehrfach verändert und neu gebaut. In /5/ ist festgehalten, dass im Jahr 1532 die Brücke neu gebaut wurde und um „fünf Schuh“ höher zu liegen kam als die alte, damit kein Hochwasser mehr darüber gehen könne. 1577 wurde dann die steinerne Brücke gebaut. Angaben zu einer Höhenveränderung findet man nicht. 1837/38 wurde die Brücke erneuert und im Niveau erhöht. 1925 wurde die Brücke ein weiteres Mal neu gebaut. Aus Fotos kann geschlossen werden, dass die Fahrbahn über diese neue Brücke höher zu liegen kam als zuvor. Inwieweit das auch auf das Gewölbe der Brücke zutrifft, lässt sich aus diesen Fotos nicht ableiten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die heutige Brücke wesentlich höher liegt als diejenige von 1480. Eine genaue Bestimmung des Hochwasserabflusses von 1480 der Aare bei Brugg ist aufgrund der verfügbaren historischen Daten nicht möglich. Solche liegen weder für Brugg noch bei weiteren Pegelständen (z.B. Aarau oder Olten) vor. Die vom Fragesteller genannte Abflussmenge von über 3‘000 m3/s ist deshalb spekulativ und nicht mit historische Daten belegt.

Das Hochwasser des Jahres 1480 wurde für den Rhein bei Basel in /1/ und /6/ untersucht. Der Spitzenabfluss dieses Hochwassers wird für den Rhein bei Basel mit bis zu 6‘400 m3/s angegeben, gemäss Informationen in /3/ betrug der Abfluss sogar 6‘500 m3/s. In /6/ gibt es Hinweise, dass auch im Einzugsgebiet der Reuss ein Hochwasser auftrat und dass der Rhein bei Sargans die Talwasserscheide überwand und durch den Walensee in den Zürichsee floss. In /7/ wird zum Hochwasser von 1480 festgehalten, dass die „Fluth“ auf dem Bodensee und Rhein am 22. Juli so hoch gewesen sei, dass unterhalb von Schaffhausen alle Rheinbrücken zerstört worden seien und zuletzt auch die Rheinbrücke in Schaffhausen hinweg gerissen wurde.

 

ENSI_Hochwasser_4_1
Abbildung 2: Ermittelte Schadensorte des Hochwassers vom Juli 1480 /7/.

 

Die vom Fragesteller abgeschätzte Abflussmenge der Aare bei Brugg von über 3000 m3/s würde knapp 50 % zum Abfluss des Rheins bei Basel beitragen. Dies ist unter den oben dargestellten Randbedingungen unplausibel.

 

4.3  Zitat: „Wieso akzeptiert das ENSI Hochwasserstudien mit Angaben, die anhand von vorhandenen Hochwassermarken überprüft werden können und als falsch erkannt werden könnten?“

ENSI-Antwort:

Die dem ENSI vorliegenden Hochwasserstudien beruhen unter anderem auf den vom Fragesteller herangezogenen Hochwassermarken und wurden überprüft. Die vorliegenden Auswertungen zu den historischen Hochwasserereignissen erfolgen nach dem Stand von Wissenschaft und Technik und sind aus Sicht des ENSI plausibel und belastbar.

Weitere Informationen zu Hochwasser sind im Dossier Hochwasser auf der ENSI-Website zu finden.

 

Referenzen

/1/      Oliver Wetter, Rolf Weingartner, Jürg Luterbacher, Tom Reist & Jürg Trösch (2011): The largest floods in the High Rhine basin since 1268 assessed from documentary and instumental evidence, Hydrological Sciences Journal, 56:5, 733-758

/2/      Kt. Aargau, Departement Bau, Verkehr und Umwelt; „Hydrologie Aare – Murgenthal – Koblenz, Hochwasserabflüsse“, 2008

/3/      Scherrer AG; „Hydrologische Untersuchungen an der Aare für die Kraftwerke in Beznau – Analyse und Prognose zu Hoch- und Niedrigwasser, Wassertemperaturen und Eisbildung“, 2009

/4/      Zschokke, T.; „Die Überschwemmungen in der Schweiz im September 1852“, 1855

/5/      Brugger Neujahrs-Blätter, sechsunddreissigster Jahrgang

/6/      Christian Pfister und Oliver Wetter; „Das Jahrtausendhochwasser von 1480 an Aare und Rhein“, Berner Zeitschrift für Geschichte N° 04/11

/7/      Iso Himmelsbach; „Hochwasser und Hochwasserschutz an den nicht-schiffbaren Flüssen im Ober-Elsass und am Oberrhein (1480-2007)“ Freiburg im Breisgau, 2012