Technisches Forum Sicherheit

Frage 160: Auswirkung von Erosionsprozessen auf Zürich Nordost

Die Tiefenerosion ist von verschiedenen Faktoren abhängig, u.a. von:

  • tektonischen Hebungs- und Senkungsprozessen,
  • den Wassermengen, Wasserscheiden und Erosionsbasen (Bodensee, Nordsee),
  • der Art des Untergrundes (Lockergestein, Festgestein),
  • früheren Tallagen.

Darauf basierend stellen sich verschiedene Fragen:

  1. Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen Hebungsraten der Alpen (rund 1 mm/Jahr) und der Region Zürich Nordost (ZNO) (ca. 0,1 mm/Jahr) auf die Tiefenerosion über den Beobachtungszeitraum von 100’000 bzw. 1 Mio. Jahre?
  2. Durch die Hebung des Untergrundes wird auch ein mögliches Tiefenlager in Richtung Oberfläche mittransportiert. Wie lange würde es dauern, bis ein mögliches Tiefenlager in der Region ZNO bei heutigen Hebungsraten und der zukünftigen fluviatilen und glazialen Erosion sowie wandernden radioaktiven Isotopen an der Oberfläche eine Grenze von 0,1 mSv überschreiten würde?
  3. Die heutige lokale Erosionsbasis Bodensee wird in ca. 20’000 Jahren aufgefüllt sein. Dann dürfte sich der Rhein vermehrt eintiefen. Mit welchen zusätzlichen Erosionsleistungen müsste aufgrund dieser wegfallenden lokalen Erosionsbasis in der Region Schaffhausen in 100’000 bzw. in 1 Mio. Jahren gerechnet werden?
  4. Die Gefällskurven von Rhein und Donau sind unterschiedlich steil, so dass sich die Wasserscheide aktuell in Richtung Donau verschiebt. Es ist davon auszugehen, dass der Rhein in ferner Zukunft zusätzliches Wasser aus der Donau erhält. Mit welchen Auswirkungen auf die Erosion müsste gerechnet werden und wann könnte dies eintreffen?
  5. Die letzte Eiszeit hatte ihren Höhepunkt vor etwa 21’000 Jahren und ging vor etwa 10’000 Jahren zu Ende. Es gab bis zu drei Kilometer mächtige Eisschilde. Da so viel Wasser als Eis gebunden war, lag der Meeresspiegel etwa 130 Meter unter dem heutigen Niveau. Hat eine solche Absenkung der absoluten Erosionsbasis um rund 130 Meter Auswirkungen auf die fluviatilen bzw. glazialen Erosionsleistungen? Falls ja, mit welchen Auswirkungen wären für die Region ZNO in 100’000 bzw. 1 Mio. Jahren zu rechnen?
Thema , , Bereich
Eingegangen am 7. Februar 2022 Fragende Instanz FG Si ZNO
Status beantwortet
Beantwortet am 28. Oktober 2022 Beantwortet von

Beantwortet von Nagra

a)

Die Auswirkungen der unterschiedlichen Hebungsraten der Alpen auf den Standort ZNO in den Betrachtungsräumen sind vermutlich vergleichbar mit heutigen Beobachtungen, bzw. mit dem, was aus den letzten 1-2 Millionen Jahren bekannt ist.

Hebung und Senkung einer Landschaft erfolgen primär durch (neo)tektonische Aktivität und/oder isostatische Kompensation und Massenverlagerung von glazialen oder anderen erosiven Prozessen. Sie beeinflussen damit Flusssysteme, z.B. Änderungen im Längsprofil (Versteilung, Knickpunkte), Änderungen im Einzugsgebiet (z.B. durch Anzapfung) und Variabilität in der Festigkeit der anstehenden Gesteine. Für die Alpen werden folgende Gründe für die beobachtete Hebung ins Spiel gebracht: tektonische Verkürzung und Hebung, andauernde isostatische Ausgleichsbewegung nach Abschmelzen der Eiskappe, andauernde isostatische Ausgleichsbewegungen aufgrund verstärkter Erosion, Ausgleich von Strukturunterschieden der Erdhülle und dynamischer Ausgleich von Mantelströmung (z.B. Sternai et al., 2019). Es ist anzunehmen, dass diese Prozesse auch in den nächsten Hunderttausenden bis einer Million Jahre aktiv sind. Es ist auch anzunehmen, dass die Raten der Hebung der Gesteinssäule eine Zeit- und Ortsabhängigkeit aufweisen. Der isostatische Ausgleich nach einer Eiszeit zum Beispiel ist abhängig von der Grösse der Eisauflast, und die höchsten Hebungsraten sind kurz nach dem Abschmelzen zu erwarten. Eine ähnliche Zeitabhängigkeit mit ungleichmässigen Raten wird auch bei der gemessenen Flusseinschneidung beobachtet (z.B. Finnegan et al., 2014, Nativ & Turowski, 2020). Diese Beobachtungen werden u.a. mit einer systematischen Verzerrung in den Messungen erklärt. Wichtig ist, dass über lange Zeiten Phasen der Flusseinschneidung mit Phasen der Aufschotterung wechseln. Langfristig gemittelt (z.B. auf der Skala von Millionen Jahren) ist die vertikale Einschneidung in den Fels auf die Hebung der Gesteinssäule eingestellt.

Die unterschiedliche Hebung der Alpen und der Nordschweiz spiegelt die oben genannten Prozesse wider. Zwei Hauptszenarien wären dementsprechend für die zukünftige Rheinentwicklung vorstellbar: (1) eine eher isolierte Hebung der Alpen im Verhältnis zur Nordschweiz (Fig. 160-1a) würde eine Versteilung des Flussprofils mit vermehrter Einschneidung stromaufwärts vom Bodensee bei gleichzeitiger Aufschotterung in der Nordschweiz bewirken. (2) Eine nordwestwärts gerichtete Verkippung (Egli et al., 2017), z.B. um eine Achse südlich des Nordalpinen Vorlandbeckens (Fig. 160-1b) führt prinzipiell zu Einschneidung nördlich im Hochrhein und Alpenrhein und Aufschotterung im Oberrheingraben, südlich von Basel. Dieser Fall kann als analog zu den heutigen Randbedingungen angesehen werden.

Figur 160-1: Längsprofil des Rheins bis Bingen (dünne Linie) mit schematisch angedeuteten Szenarien für zukünftige Entwicklung (gestrichelte Linie). (a) Szenario mit isolierter Hebung der Alpen, (b) Szenario mit regionaler Verkippung (angedeutet durch den orangenen Pfeil).
Figur 160-1: Längsprofil des Rheins bis Bingen (dünne Linie) mit schematisch angedeuteten Szenarien für zukünftige Entwicklung (gestrichelte Linie). (a) Szenario mit isolierter Hebung der Alpen, (b) Szenario mit regionaler Verkippung (angedeutet durch den orangenen Pfeil).

Grundsätzlich bedeutet eine fortschreitende Hebung der Alpen, dass sich nach wie vor alpine Gletscher bilden können und dass mehr erodiert, also mehr Sediment gebildet und abwärts transportiert, wird. Diese Sedimentfracht, die vom Fluss transportiert werden muss, steht im Wettstreit mit vertikaler Einschneidung in den festen Untergrund.

b)

Eine Kompromittierung des Schutzkriteriums ist durch rein fluviatile Prozesse in den nächsten Millionen Jahren nicht zu erwarten. Damit Gletscher tief genug einschneiden, um den Opalinuston freizulegen, bedarf es mehrerer Vergletscherungen. Es ist zudem anzunehmen, dass die mächtigen Kalkgesteine, die über dem Opalinuston lagern, die Erosionsleistung deutlich abbremsen. Eine glaziale Lagerfreilegung ist demnach innerhalb der Betrachtungszeiträume nicht zu erwarten.

Für die Beurteilung, ob das Schutzkriterium von 0,1 mSv/a eingehalten wird, also ob die Barrierenwirkung des Opalinuston erhalten bleibt, sind zwei Grundlagen essenziell. Zum einen ist das die Abnahme der Radiotoxizität mit der Zeit (Fig. 160-2) und zum anderen der Erhalt einer gewissen Restüberdeckung über dem Opalinuston, bzw. dem Lager. Daten aus Bohrungen und Felslaboren zeigen, dass bei einer Reduktion der Überlagerung auf 50-100 m die Selbstabdichtung möglicherweise eingeschränkt, und bei einer Überlagerung von weniger als 10-30 m kaum oder nicht mehr wirksam ist. Eine Mindestüberlagerung von 200 m ist hingegen als zuverlässig einzustufen für die Selbstabdichtung im Opalinuston.

Figur 160-2: Abnahme der Radiotoxizität mit der Zeit, dargestellt für die verschiedenen radioaktiven Abfalltypen (Nagra 2014). Die Kurven repräsentieren Summen über verschiedene Nuklide im Abfall mit unterschiedlichen Halbwertzeiten. Ebenfalls dargestellt ist die Radiotoxizität des Böttstein-Granits und von natürlichen Uranvorkommen (Cigar Lake, La Creusa).
Figur 160-2: Abnahme der Radiotoxizität mit der Zeit, dargestellt für die verschiedenen radioaktiven Abfalltypen (Nagra 2014a). Die Kurven repräsentieren Summen über verschiedene Nuklide im Abfall mit unterschiedlichen Halbwertzeiten. Ebenfalls dargestellt ist die Radiotoxizität des Böttstein-Granits und von natürlichen Uranvorkommen (Cigar Lake, La Creusa).

Die hohe Einlagerungstiefe (z.B. > 700 m unter Geländekante, bzw. > 600 m unter dem Flussniveau in ZNO, bezogen auf eine potenzielle Lagerzone) und gleichzeitig geringe Hebungsraten schliessen eine Reduktion der Überdeckung bis auf 200 m nur durch Flusseinschneidung innerhalb des Betrachtungszeitraums aus. Mit ersten Dekompaktionseffekten wäre erst nach mehr als 4 Millionen Jahren zu rechnen (Fig. 160-3) und selbst dann wäre dank funktionierender Barrierenwirkung das Schutzkriterium noch eingehalten.

Figur 160-3: Illustrativer Rechenfall zur Entwicklung der Dosisrate mit der Zeit für Brennelemente und hochradioaktive Abfälle unter der Annahme von Hebungsrate = Erosionsrate = 0,1mm/a. In einem konservativen Ansatz wird mit ersten Dekompaktionseffekten gerechnet, wenn die Restüberdeckung über dem Lager nur noch 200m beträgt (erster steiler Anstieg in den Kurven nach > 5 Millionen Jahren). Die Kurven wurden berechnet für Lagertiefen unter lokaler Erosionsbasis (blaue Linie, 637m) und unter Terrain (orangene Linie, 724m). In diesen Fällen wird das Schutzkriterium von 0,1 mSv/a auch nach einer Milliarde Jahren noch eingehalten.
Figur 160-3: Illustrativer Rechenfall zur Entwicklung der Dosisrate mit der Zeit für Brennelemente und hochradioaktive Abfälle unter der Annahme von Hebungsrate = Erosionsrate = 0,1 mm/a. In einem konservativen Ansatz wird mit ersten Dekompaktionseffekten gerechnet, wenn die Restüberdeckung über dem Lager nur noch 200 m beträgt (erster steiler Anstieg in den Kurven nach > 5 Millionen Jahren). Die Kurven wurden berechnet für Lagertiefen unter lokaler Erosionsbasis (blaue Linie, 637 m) und unter Terrain (orangene Linie, 724 m). In diesen Fällen wird das Schutzkriterium von 0,1 mSv/a auch nach einer Milliarde Jahren noch eingehalten.

Es braucht demnach weitere erosive Prozesse, um die Barriere zu destabilisieren. Glaziale Tiefenerosion durch Gletschereis oder Wasser und Sediment unter dem Gletscher ist ein Prozess, der tief unter die fluviatile Erosionsbasis erodieren kann (vergleiche TFS-Frage 137). Es ist davon auszugehen, dass für die Erosionsleistung auch die Dauer der Eisbedeckung eine Rolle spielt. Quartäre glaziale Übertiefungen erreichten in der Standortregion ZNO Tiefen von bis zu ~190 m, südlich davon bis zu ~300 m unter Flussniveau. Diese Tiefen wurden über mehrere Glaziale kumuliert erreicht und sind Basis für zukünftige Betrachtungen. Allerdings sind diese tiefen Tröge in vergleichsweise weiche Molassegesteine eingeschnitten; der Opalinuston ist jedoch unterhalb der Molassegesteine durch schwerer zu erodierende Kalksteine geschützt.

Wann und ob ein zukünftiger Gletscher wieder das nordschweizer Vorland erreicht, ist schwer einzuschätzen. Klimamodellierungen zeigen eine bedeutende Abhängigkeit vom CO2-Gehalt der Atmosphäre. Nur wenn der Atmosphäre massiv CO2 künstlich entzogen wird, kann man von einem natürlichen Glazial-Interglazial-Zyklus ausgehen. Anderenfalls wird die nächste Vergletscherung vermutlich um mehr als 200’000 Jahre verzögert eintreffen (Fig. 160-4). Letztendlich müssen in die Überlegungen zu potentieller glazialer Lagerfreilegung auch räumliche Komponenten einbezogen werden. Da die meisten glazialen Rinnen eine mehrphasige Erosions- und Verfüllungsgeschichte ausweisen, lassen sich die wahrscheinlichsten Bereiche zukünftiger Rinnenpfade meiden.

Figur 160-4: Modellierungen des globalen Eisvolumens in der nächsten Million Jahre mithilfe eines prozess-basierten Modells und in Abhängigkeit von CO2-Szenarien (nach Talento & Ganopolski, 2021). Eingangstreiber sind kumulative anthropogene CO2-Emissionen (0-3000 Petagramm Kohlenstoff [PgC]) und die Erdbahnparameter. Anthropogener CO2 -Eintrag wird wahrscheinlich volle glaziale Bedingungen und grosse Vergletscherungen in der Zukunft verzögern. Die Eisvolumina in den dargestellten Kurven sind normiert auf das Eisvolumen während des letzten glazialen Maximums (LGM).
Figur 160-4: Modellierungen des globalen Eisvolumens in der nächsten Million Jahre mithilfe eines prozess-basierten Modells und in Abhängigkeit von CO2-Szenarien (nach Talento & Ganopolski, 2021). Eingangstreiber sind kumulative anthropogene CO2-Emissionen (0-3000 Petagramm Kohlenstoff [PgC]) und die Erdbahnparameter. Anthropogener CO2-Eintrag wird wahrscheinlich volle glaziale Bedingungen und grosse Vergletscherungen in der Zukunft verzögern. Die Eisvolumina in den dargestellten Kurven sind normiert auf das Eisvolumen während des letzten glazialen Maximums (LGM).

c)

Die Verfüllung des Bodensees wird für eine kurze Zeit zu verstärkter Erosion in die Tiefe, bis maximal zu einem Ausgleichsprofil an den Gefällestufen führen. Es ist nicht gesagt, dass eine vollständige Abtragung dieser Knickzonen erreicht wird. Da das Sediment aus dem Alpenrhein nun in und durch den Hochrhein transportiert wird, ist zu erwarten, dass die Sedimentdecke den Fels vor verstärkter Erosion in die Tiefe schützt.

Zur Beurteilung der fluviatilen Erosionsleistung nach Auffüllen des Bodensees sind zwei gegenläufige Prozesse zu beachten: (1) wenn mehr Werkzeuge (grobe Gerölle) für die Erosion in die Tiefe zur Verfügung stehen und (2) der gegenläufige Effekt, bei dem das Felsbett vor Erosion geschützt ist, sobald eine gewisse Menge Sediment darauf abgelagert ist.

Die Erosion erfolgt durch den Aufprall der Gerölle, Abschleifen der Felsbettoberfläche oder dem Herauslösen von Blöcken in geklüftetem Gestein des Felsbetts. Diese Prozesse können verstärkt dazu führen, ein ausgeglichenes Flussprofil des Hochrheins herzustellen – bevorzugt über die Erosion der bestehenden Gefällestufen (z.B. Rheinfall). Diese rückschreitende Erosion kann lokal sehr schnell verlaufen, wird aber nicht tiefer einschneiden als das Flussbett flussabwärts. In der Region Schaffhausen wird voraussichtlich das Niveau des ehemaligen Felsbetts des Rheins erreicht, das viel tiefer liegt als der Rhein heute. Hinzugerechnet werden muss das in der Zwischenzeit durch Hebung erreichte Potential (entspricht bei einer Annahme von 0,1 mm/a Hebung und 20’000 Jahren Dauer bis Verfüllung des Bodensees 2 Metern). Lokal könnte es zu einer Übereintiefung von einigen Metern kommen; solche Phänomene sind jedoch von sehr kurzfristiger Natur und von geringem Ausmass. Die oben genannten Prozesse sind demnach v.a. für die Zeitskala von 100’000 Jahren relevant.

Der Bodensee wirkt momentan als Sedimentfalle für die Gerölle aus dem Alpenrhein. Ist er verfüllt, wird dieses Sediment in den Hochrhein und weiter in den Oberrheingraben transportiert. Wenn mehr Sediment geliefert wird, als der Fluss abtransportieren kann, bleibt es als schützende Schicht auf dem Felsbett liegen. Die Felserosion in die Tiefe wird damit unterbrochen von einer Phase der Aufschotterung und ggf. lateraler Migration und Erosion des Hochrheins. Diese wechselnden Prozesse von Einschneidung und Aufschotterung werden sich voraussichtlich in der nächsten Million Jahre mehrfach wiederholen.

d)

Im Vergleich zu den vergangenen Umlenkungen ist durch das weitere Wachstum des Rheins auf Kosten der Donau mit keinem signifikanten zusätzlichen Beitrag an Einschneidung im Hochrhein zu rechnen. In diesem Zusammenhang wäre eine Integration der Iller ein denkbares Ereignis, das am ehesten im Zusammenhang mit einer zukünftigen Vergletscherung auftreten könnte. Der zusätzliche Betrag an Eintiefung liegt vermutlich im Meterbereich.

Flusssysteme sind komplexe und dynamische Einheiten, die auf langen Zeitskalen ein Gleichgewicht zwischen tektonischer Hebung und Einschneidung anstreben. Teil dieser Prozesse sind laterale Migration, rückschreitende Erosion oder die Anzapfung benachbarter Einzugsgebiete mit Umlenkung von Flussarmen (z.B. Willett et al., 2014). Dabei ändern sich auch die Verläufe und Geometrien von Wasserscheiden. Eine signifikante Absenkung des Vorflutniveaus und damit der regionalen Erosionsbasis als Folge von regionalen Änderungen in Fliesswegen und Einzugsgebieten gibt es vor allem infolge (1) Verkürzung des Wasserweges, (2) Einstellung auf ein tieferes Niveau des Vorfluters und (3) im Bereich der migrierenden Wasserscheide.

Die Entwicklung des Aare-Rhein Systems in den letzten Millionen Jahren ging mit mehreren bedeutenden Umorganisationen einher (z. B. Nagra 2014b). Es wird angenommen, dass diese Umlenkungen und die damit zusammenhängende Absenkung des Vorflutniveaus neben der Hebung der Gesteinssäule einen signifikanten Beitrag zur fluviatilen Eintiefungsgeschichte in der Nordschweiz geleistet haben (siehe z.B. Schlunegger and Mosar, 2011). Das Längsprofil des Rheins ist deutlich kürzer als das der Donau, und der Rhein wächst in der Zukunft auf deren Kosten, um ein geometrisches Gleichgewicht der Wasserscheide zu erreichen. Ein geometrisches Ungleichgewicht geht häufig mit variablen Erosions-(Einschneide)raten einher, und Flussarme, die an Einzugsgebiet gewinnen, erfahren einen Anstieg der Raten (z.B. Willett et al., 2014). Der Hauptpuls verstärkter Einschneidung ist allerdings grösstenteils bereits durch den Hochrhein (Bereich der Standortregionen) migriert, wie anhand der Profildarstellung in Fig. 160-5 skizziert werden soll. Ähnlich dramatische Ereignisse sind daher für die nächste Million Jahre hier nicht zu erwarten.

Figur 160-5: Gegenüberstellung der Höhenpotenziale von Rhein und Donau. Flusslängsteilprofile von Rhein und Donau, künstlich verbunden im Bereich der Wutach. Der Rhein ist signifikant kürzer als die Donau, was einen grossen Effekt auf die Erosionsleistung nach der Anzapfung der Donau zur Folge hatte. Das bestehende geometrische Ungleichgewicht bewirkt eine Verschiebung der Wasserscheide in Richtung Donaueinzugsgebiet (Pfeil). Die ungefähre Position der Standortregionen ist mit den roten Balken angedeutet. Das Rheinniveau ist an diesen Positionen bereits deutlich abgesenkt, was darauf schliessen lässt, dass der Hauptpuls der Einschneidung durch die Anzapfung bereits durch den Hochrhein migriert ist.
Figur 160-5: Gegenüberstellung der Höhenpotenziale von Rhein und Donau. Flusslängsteilprofile von Rhein und Donau, künstlich verbunden im Bereich der Wutach. Der Rhein ist signifikant kürzer als die Donau, was einen grossen Effekt auf die Erosionsleistung nach der Anzapfung der Donau zur Folge hatte. Das bestehende geometrische Ungleichgewicht bewirkt eine Verschiebung der Wasserscheide in Richtung Donaueinzugsgebiet (Pfeil). Die ungefähre Position der Standortregionen ist mit den roten Balken angedeutet. Das Rheinniveau ist an diesen Positionen bereits deutlich abgesenkt, was darauf schliessen lässt, dass der Hauptpuls der Einschneidung durch die Anzapfung bereits durch den Hochrhein migriert ist.

Der grösste Zuwachs an Einzugsgebiet im Bereich des Hochrheins erfolgt mit der Mündung der Aare (Fig. 160-6). Im Vergleich zu früheren Änderungen wird keine signifikante Zunahme an Einzugsgebiet und damit auch keine signifikante zusätzliche Einschneidung des Hochrheins in der nächsten Million Jahre erwartet. Selbst eine Anzapfung und Integration der Iller, die heute in die Donau entwässert, würde nur einen kleinen Beitrag leisten (Fig. 160-6). Solch ein Szenario wäre am ehesten im Zusammenhang mit zukünftigen Vergletscherungen denkbar.

Figur 160-6: Grösse des Hochrhein-Einzugsgebiets zwischen Basel und Stein am Rhein heute und unter Annahme verschiedener Szenarien, die in der Zukunft denkbar wären (blaue Pfeile in der Karte links). Der grösste Zuwachs erfolgt mit Mündung der Aare (Stern in Abbildung rechts). Selbst eine Anzapfung und Integration der Iller, die heute in die Donau entwässert, würde nur einen kleinen zusätzlichen Beitrag leisten (orange Kurve).
Figur 160-6: Grösse des Hochrhein-Einzugsgebiets zwischen Basel und Stein am Rhein heute und unter Annahme verschiedener Szenarien, die in der Zukunft denkbar wären (blaue Pfeile in der Karte links). Der grösste Zuwachs erfolgt mit Mündung der Aare (Stern in Abbildung rechts). Selbst eine Anzapfung und Integration der Iller, die heute in die Donau entwässert, würde nur einen kleinen zusätzlichen Beitrag leisten (orange Kurve).

e)

Bei einer Absenkung des Meeresspiegels bei einer zukünftigen Eiszeit um rund 130 Meter ist mit keinen Auswirkungen auf die fluviatilen bzw. glazialen Erosionsleistungen für die Region ZNO in 100’000 bzw. 1 Million Jahren zu rechnen.

Die Nordsee ist das ultimative Vorflutniveau des Rheins. Das Flussprofil stromaufwärts ist auf dieses Niveau eingestellt. Sollte sich das Niveau ändern, wird der Fluss reagieren. Allerdings gibt es im Längsprofil des Rheins verschiedene regionale Zwischenniveaus, die die Bereiche flussab- und flussaufwärts voneinander entkoppeln. Ein wichtiges Zwischenniveau befindet sich bei Bingen, wo der Rhein durch das sich hebende Rheinische Schiefergebirge fliesst und aus einem Sediment ablagernden in ein erosives Segment übergeht. Es wird erwartet, dass dieses Niveau ein Absenkungssignal aus der Nordsee puffern würde.

Selbst, wenn das Rheinische Schiefergebirge sich nicht mehr hebt, würde solch ein Signal aufgrund der Geometrien und Hydraulik des Rheins sehr lange brauchen, um durch rückschreitende Erosion stromaufwärts zu wandern. Es ist wahrscheinlich, dass der Hochrhein erst nach weit mehr als einer Million Jahre etwas von diesem Einschneidepuls sehen würde (Fig. 160-7).

Figur 160-7: Vereinfachte Simulation einer Absenkung des Meeresspiegels an der Nordseemündung ohne zusätzliche Hebung bei Bingen («Bi»). Dieses Signal, also der damit verbundene Knickpunkt im Flussprofil wird mit der Zeit flussaufwärts wandern. (A) Die Farbgebung zeigt an, wie weit das Signal nach Zeiten von 100’000 Jahren (dunkelblau) bis 5 Millionen Jahren (gelb) theoretisch migriert sein könnte. Erst nach etwa 2 Millionen Jahren würde so ein Signal im Hochrhein ankommen (Basel «Ba»). (B) Unter Berücksichtigung der Ungewissheiten von Gesteinshärte lässt sich mit demselben Modell darstellen, wo der Knickpunkt zum Beispiel nach einer Million Jahren ankommt. Am wahrscheinlichsten (gelbe Farben) erreicht dieses Signal die Region des Rheinischen Schiefergebirges im Mittelrhein.

Ein besseres Beispiel für die Beurteilung von potentiellen Auswirkungen bietet jedoch die Vergangenheit. Während der letzten Vergletscherung bewirkte die Absenkung des Meeresspiegels der Nordsee eine Reaktivierung der Flüsse des Ärmelkanals mit Anzapfung des Rheins (z.B. Gibbard 2007, siehe Fig. 160-8). Der Flusslauf des heute 1200 km langen Rheins (Fig. 160-8A) erfuhr damit eine Verlängerung um ca. 560 km bis zum Atlantik (Fig. 160-8B), was das Einschneidepotential stromaufwärts stark reduzierte.

Figur 160-8: Kartenausschnitt von NW-Europa mit den grössten, in Nordsee und Ärmelkanal einmündenden Flüssen (A) und während des letzten glazialen Maximums (LGM) vor ca. 20 ka (B, vereinfacht nach Gibbard 2007). Während der Meeresspiegelabsenkung waren Flüsse, die normalerweise in die Nordsee entwässern, wie der Rhein oder auch die Themse, mit einem Ärmelkanalsystem verbunden, das zusammen in den Atlantik mündete. Der Gewinn an zusätzlicher Flusslänge beträgt dadurch > 500 km, was einem Erosionssignal durch Absenkung entgegenwirkt.
Figur 160-8: Kartenausschnitt von NW-Europa mit den grössten, in Nordsee und Ärmelkanal einmündenden Flüssen (A) und während des letzten glazialen Maximums (LGM) vor ca. 20 ka (B, vereinfacht nach Gibbard 2007). Während der Meeresspiegelabsenkung waren Flüsse, die normalerweise in die Nordsee entwässern, wie der Rhein oder auch die Themse, mit einem Ärmelkanalsystem verbunden, das zusammen in den Atlantik mündete. Der Gewinn an zusätzlicher Flusslänge beträgt dadurch > 500 km, was einem Erosionssignal durch Absenkung entgegenwirkt.

So ein Szenario ist bei zukünftigen Vergletscherungen ebenfalls denkbar. Dazu kommt die vermutete zeitliche Verzögerung des Eintretens zukünftiger Vergletscherungen aufgrund des anthropogenen CO2-Gehalts der Atmosphäre (siehe Antwort zu Frage 160b).

Referenzen

Egli, D., Mosar, J., Ibele, T., & Madritsch, H. (2017): The role of precursory structures on Tertiary deformation in the Black Forest—Hegau region. International Journal of Earth Sciences, 106(7), 2297-2318.

Finnegan, N. J., Schumer, R., & Finnegan, S. (2014): A signature of transience in bedrock river incision rates over timescales of 104–107 years. Nature, 505(7483), 391-394.

Gibbard, P. (2007): Europe cut adrift. Nature, 448(7151), 259-260.

Nagra (2014a): SGT Etappe 2: Vorschlag weiter zu untersuchender geologischer Standortgebiete mit zugehörigen Standortarealen für die Oberflächenanlage: Charakteristische Dosisintervalle und Unterlagen zur Bewertung der Barrierensysteme.  Nagra Technischer Bericht NTB 14–03.

Nagra (2014b): Drainage system and landscape evolution of northern Switzerland since the Late Miocene. Nagra Arbeitsbericht. NAB 12-20.

Nativ, R., & Turowski, J. M. (2020): Site dependence of fluvial incision rate scaling with timescale. Journal of Geophysical Research: Earth Surface, 125(11), e2020JF005808.

Schlunegger, F., & Mosar, J. (2011): The last erosional stage of the Molasse Basin and the Alps. International Journal of Earth Sciences, 100(5), 1147-1162.

Sternai, P., Sue, C., Husson, L., Serpelloni, E., Becker, T. W., Willett, S. D., … & Castelltort, S. (2019): Present-day uplift of the European Alps: Evaluating mechanisms and models of their relative contributions. Earth-Science Reviews, 190, 589-604.

Talento, S., & Ganopolski, A. (2021): Reduced-complexity model for the impact of anthropogenic CO 2 emissions on future glacial cycles. Earth System Dynamics, 12(4), 1275-1293.

Willett, S. D., McCoy, S. W., Perron, J. T., Goren, L., & Chen, C. Y. (2014): Dynamic reorganization of river basins. Science, 343(6175), 1248765.