Technisches Forum Sicherheit

Frage 94: Nutzungskonflikte nach mehreren Jahrtausenden

Wie will die Nagra sicherstellen, dass auch nach mehreren, je über 10’000 Jahre dauernde Eiszeiten am Bözberg

  1. kein Kalk abgebaut wird?
  2. keine Tiefengeothermie genutzt wird?
Thema , Bereich
Eingegangen am 19. Oktober 2012 Fragende Instanz Fragen aus der Bevölkerung
Status beantwortet
Beantwortet am 8. März 2016 Beantwortet von ,

Beantwortet von ENSI

Nutzungskonflikte sind ein im Sachplan berücksichtigtes Sicherheitskriterium. Ausgangspunkt sind dabei die heutigen und absehbaren Bedürfnisse des Menschen. Eine Abschätzung von Nutzungskonflikten über mehrere 10’000 Jahre ist nur mit grossen Unsicherheiten und Annahmen möglich. Ein optimaler Schutz vor menschlichem Eindringen wird durch einen raumplanerischen Schutzbereich, eine Markierung, eine geschickte Lagerauslegung sowie Dokumentation und Archivierung aller relevanten Information zum Lager angestrebt. Nutzungskonflikte benötigen jedoch immer eine Interessensabwägung. Eine solche ist am Ort eines geologischen Tiefenlagers auch in Zukunft vorzunehmen. Ein 100%-iger Schutz vor menschlichem Eindringen kann ebenso wenig gewährleistet werden wie eine 100%-ige Sicherheit.

Die Frage wurde an die Nagra gestellt, wird aber vom ENSI beantwortet. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist die Interessensabwägung bei Nutzungskonflikten nicht nur ein sicherheitstechnischer Aspekt, sondern muss auch von der Gesellschaft getragen werden und der Bund (nicht die Nagra) muss gegebenenfalls entsprechende Vorgaben zum Schutz des geologischen Tiefenlagers machen. Zweitens wird die Nagra in der Richt­li­nie ENSI-G03 aufgefordert, im Rahmen des Baubewilligungsgesuchs ein Konzept für die Markierung des geologischen Tiefenlagers vorzulegen. Damit ist sie nach gegenwärtigem Projektstand der Lagerrealisierung noch nicht verpflichtet, Fragen wie die oben gestellte zu beantworten.

Ein Nutzungskonflikt liegt vor, wenn die drei folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens gibt es einen Nutzen aus einem in den Standortgebieten vorhandenen Rohstoff. Zweitens gibt es für diesen Rohstoff eine Technik zur Gewinnung des Rohstoffs. Drittens ist für den Rohstoff gegenwärtig ein Be-
darf vorhanden. Alle drei Voraussetzungen sind kontinuierlich von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft abhängig. Da die Bedürfnisse einer menschlichen Gesellschaft in ferner Zukunft nicht oder nur im Ansatz abschätzbar sind, wird der plausibelste Ansatz verfolgt und von den heutigen Bedürfnissen ausgegangen. In diesem Sinne ist der von der Fragestellerin verfolgte Ansatz in der Frage zum Kalkabbau (der im Standortgebiet Jura Ost bereits heute stattfindet) und zur Nutzung der Tiefengeothermie (diese wird schweizweit in verschiedenen Projekten verfolgt) korrekt.

Eine langfristige Prognose, welche Rohstoffe wann von einer menschlichen Zivilisation gebraucht werden, ist kaum möglich. Bezüglich der Nutzungskonflikte müssen bereits heute bei der Standortsuche Interessensabwägungen stattfinden. Das Lager muss ausserdem langfristig vor menschlichem Eindringen bestmöglich geschützt werden. Dies geschieht hauptsächlich durch eine geschickte Lagerauslegung, durch einen raumplanerischen Schutzbereich, eine Markierung (vgl. Art. 40 KEG), die Archivierung und Dokumentierung aller relevanten Informationen zu einem geologischen Tiefenlager (vgl. Art. 38 KEG und ENSI-G03). Das für ein Tiefenlager beanspruchte Gebiet ist relativ klein (maximal ca. 2 km2) und lässt damit bezüglich der potenziellen Rohstoffe auch noch viel Raum zu einer Gewinnung an derswo zu.

Gemäss Art. 40 des Kernenergiegesetzes ist eine dauerhafte Markierung des geologischen Tiefenlagers vorzusehen. Richtlinie ENSI-G03 fordert dazu, dass die Nagra mit dem Baubewilligungsgesuch ein Konzept zur Umsetzung einer Markierung einzureichen hat. Da Überlegungen zu einer Markierung seitens Nagra im laufenden Verfahren also noch nicht aktuell sind, liegen zur Frage, wie eine solche Markierung aussehen soll, auch noch keine konkreten Vorschläge der Nagra vor. Wie in der Antwort zur TFS-Frage 67 „Markierung des Lagers“ ausgeführt, laufen internationale Projekte zum Thema Markierung. Die Resultate aus diesen Projekten sind durch die Nagra bei ihrer Konzeptualisierung zu berücksichtigen. Inwiefern eine Markierung oberflächlich oder auch in der Tiefe erfolgt und einen oberflächlichen Kalkabbau verhindern kann, ist dannzumal anzugehen.

 Nach mehreren 10‘000 Jahren (wie von der Fragestellerin angedacht) wird eine oberflächliche Markierung (siehe auch die Antwort auf die TFS-Frage 67 „Markierung des Lagers“) aufgrund oberflächlicher Erosionsprozesse, insbesondere aufgrund einer nächsten Eiszeit mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht
mehr vorhanden sein. Eine in der Tiefe eingesetzte Markierung wäre jedoch weiterhin vorhanden und würde zusätzlich vor einem menschlichen Eindringen schützen. Nach der genannten Zeitspanne hat die Radiotoxizität bereits stark abgenommen, so dass die radiologischen Auswirkungen im Falle des Anbohrens eines SMA- oder HAA-Lagers beschränkt wären.

Eine Aussage über die menschlichen Bedürfnisse nach Rohstoffen ist über einen Zeitraum von 10‘000 Jahren sehr ungewiss. Das Beispiel der Nutzungskonflikte illustriert, warum in der Schweiz die Lösung der geologischen Tiefenlagerung angestrebt wird: Der grösste Unsicherheitsfaktor, auch langfristig, ist der Mensch selber.

Ergänzung durch Rückmeldung der Fragestellerin

Das ENSI erläutert in seiner Antwort, dass die Radiotoxizität nach mehreren 10‘000 Jahren bereits stark abgenommen hat, so dass die radiologischen Auswirkungen im Falle des Anbohrens eines SMA- oder HAA-Lagers beschränkt wären. Die Fragestellerin will wissen, was genau geschehen würde, wenn ein HAA-Lager nach diesem Zeitraum angebohrt würde oder durch Fracking beschädigt würde und z.B. eine Tonne Plutonium ins Trinkwasser gelangen würde. Die Fragestellerin verweist dabei auf eine Stellungnahme vom Bundesamt für Gesundheit (BAG), welche die Gefährlichkeit von Plutonium 239 quantifiziert. Das ENSI nimmt im Rahmen der Beantwortung einer neuen Frage (TFS-Frage 133) zu diesem Thema Stellung.

Referenzen:

ENSI-G03: Spezifische Auslegungsgrundsätze für geologische Tiefenlager und Anforderungen an den Sicherheitsnachweis, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Richtlinie, Würenlingen, 2009.

KEG : Kernenergiegesetz vom 21. März 2003, Schweiz, SR 732.1.

NTB 02-05: Project Opalinus Clay: Safety Report Demonstration of Disposal feasibility for spent fuel; vitrified high-level waste and long-lived intermediate level waste (Entsorgungsnachweis), Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Nagra Technischer Bericht, Wettingen, 2002.

Beantwortet von Nagra

Die Nagra unterstützt die Antwort des ENSI. Ergänzend möchte sie festhalten, dass selbst bei einem vollständigen Abbau der abbauwürdigen Kalke und Mergel immer noch eine Schutzschicht von mehr als 100 m über dem Opalinuston liegt und die durch den Abbau bedingte Entlastung keine sicherheitstechnisch unzulässige Durchlässigkeitserhöhungung bewirken würde. Die Lagerperimeter für das SMA und das HAA-Lager wurden so abgegrenzt, dass sie ausserhalb von möglichen geothermischen Zielstrukturen liegen.

Betreffend Teilfrage (a) kann festgehalten werden dass selbst bei einem vollständigen Abbau der abbauwürdigen Kalke und Mergel der Wildegg-Formation (Effinger Schichten) immer noch eine Schutzschicht von mehr als 100 m nichtabbauwürdiger Gesteinsformationen (Passwang- bis Ifenthal-Formation) über dem Opalinuston liegt (Nagra 2014a, Dossier II, Anhang A3). Betroffen wäre der nördlichste Bereich des Lagerperimeters für das SMA-Lager. Untersuchungen von Hekel (1994) in zahlreichen Bohrungen im Opalinuston zeigen, dass dieser bei einer vollständigen Entlastung (Opalinuston an der Erdoberfläche) in den obersten 10 – 30 m markante Durchlässigkeitserhöhungen zeigen kann. Darunter sind die Durchlässigkeiten sehr gering und die Porenwässer sind salin. Die mehr als 100 m mächtige verbleibende Schutzschicht über dem Opalinuston nach einem angenommenen Abbau der Kalke und Megel verhindert eine solche durch die Entlastung bedingte signifikante Durchlässigkeitserhöhungen.

Der minimale Effekt, den ein Abbau der Kalke und Mergel auf die hydraulische Durchlässigkeit des Opalinustons haben könnte, wird in der Sicherheitsanalyse durch obere Eckwerte hydraulischen Durchlässigkeit abgedeckt (Nagra 2014b). Im Rahmen des Entsorgungsnachweises wurden auch Rechenfälle mit bis zu 100-fach erhöhter Durchlässigkeit durchgeführt, ohne dass das behördliche Dosis-Schutzziel überschritten wurde (Nagra 2002).

Betreffend Teilfrage (b) kann festgehalten werden, dass die Lagerperimeter HAA und SMA ausserhalb von möglichen Zielgebieten für eine hydrothermale geothermische Nutzung liegen und somit keine offensichtlichen Nutzungskonflikte vorliegen. Als Zielgebiete im, bzw im Umfeld des Standortgebiets Jura Ost sind die Randzonen des Nordschweizer Permokarbontrogs in Diskussion. Bis heute liegen jedoch noch keine positiven Befunde betreffend geothermischer Eignung dieser Zonen vor. Im Rahmen der Beantwortung von Frage 125 wird noch detaillierter auf derartige potenzielle Nutzungskonflikte eingegangen, und es werden auch Aspekte einer durch die geothemische Nutzung induzierten Seismizität behandelt.

Ergänzung aufgrund Rückmeldung der Fragestellerin

Die Nagra schreibt, dass wenn der Kalk abgebaut würde dann wäre nur noch eine Schutzschicht von mehr als 100 Meter vorhanden, und dass diese Schutzschicht genügen würde. Betreffend Erosion ist aber eine Überdeckung von 200 bis 300 Meter nötig. Gemäss Fragestellerin wäre diese Überdeckung somit ungenügend.

Die Nagra nimmt wie folgt Stellung:

Die von der Nagra in Etappe 1 des Sachplans angegebenen Mindestanforderung an die Gesteinsüberdeckung beinhalten sehr grosse Reserven. Das heisst, dass das System so robust ist, dass auch Erosion oder ein Kalkabbau keine massgebliche Beeinträchtigung des Barrierensystems bewirken würde. Bei der Abgrenzung der Lagerperimeter in Etappe 2 bedeutet das, dass für das SMA-Lager eine Überdeckung der Obergrenze des Opalinustons von mindestens 350 m vorhanden sein muss, für das HAA-Lager 450 m (NTB 14-01, Seite 167).

Anhand von orientierenden Sicherheitsbetrachtungen (Sensitivitätsstudien) im Anhang 5 des NTBs 08-05 (z.B. Figur A5.3-1) geht hervor, dass der Opalinuston als Radionuklidtransportbarriere vollständig genügt um die Sicherheit eine Tiefenlagers zu gewährleisten, selbst wenn ein Teil des Opalinustons aufgrund von Dekompaktionseffekten beeinträchtigt wäre. Der nach einem Kalkabbau verbleibende Schichtstapel von mehr als 100 m oberhalb des Opalinustons würde eine signifikante Dekompaktion des Opalinustons verhindern. Die Schichten oberhalb des Opalinustons müssen keine Barrierenfunktion haben, um die Sicherheit eines Tiefenlagers zu gewährleisten, sie können als eine willkommene Zusatzbarriere im Sinn eines Bonus betrachtet werden.

Referenzen

Hekel, U. (1994): Hydrogeologische Erkundung am Beispiel des Opalinustons (Unteres Aalenium). Tübinger geowiss. Arb. C18, Univ. Tübingen.

Nagra (2002): Project Opalinus Clay: Safety Report Demonstration of Disposal feasibility for spent fuel; vitrified high-level waste and long-lived intermediate level waste (Ent­sorgungsnachweis).  Nagra Technischer Bericht NTB 02-05.

Nagra (2014a): SGT Etappe 2: Vorschlag weiter zu untersuchender geologischer Standortgebiete mit zugehörigen Standortarealen für die Oberflächenanlage. Geologische Grundlagen. Nagra Technischer Bericht NTB 14-02.

Nagra (2014b): SGT Etappe 2: Vorschlag weiter zu untersuchender geologischer Standortgebiete mit zugehörigen Standortarealen für die Oberflächenanlage. Charakteristische Dosisintervalle und Unterlagen zur Bewertung der Barrierensysteme. Nagra Technischer Bericht NTB 14-03.