Frage 61: Problematik von aggressiven Bergwässern und Schlussfolgerungen zu deren Herkunft und Fliesswegen
Die Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone/Kantonale Expertengruppe Sicherheit (AG SiKa / KES) hielt in ihrem Fachbericht vom Mai 2011 fest, dass „ein einziger durchlässiger Freisetzungspfad als Pforte für die Ausbreitung von radioaktiven Stoffen wirken kann. Auch die ‚What-if’-Fälle, welche die Nagra definiert, werden einem solchen Szenario nicht gerecht, da ein allfälliger Mangel an Systemwissen auch nicht durch noch so ausgefallene Szenarien kompensiert werden.“
Als Beispiel für mangelndes Systemwissen kann das Auftreten von hochsalinarem, vermutlich aus dem Muschelkalk stammendem Tiefengrundwasser verstanden werden, das im Bözberg-Tunnel beim Durchörtern in einer über dem Opalinuston gelegenen Schicht (Molasse) festgestellt wurde.
In der Antwort des ENSI auf TFS-Frage 49 von Herrn Wyder zum im Bözberg-Tunnel (A3) angetroffenen Bergwasser mit hohen Chlorid- und Sulfat- Gehalten wurde zwar auf die Herkunft der Wässer (ENSI: „aggressives Tiefengrundwasser“) eingegangen und die Frage somit beantwortet.
Das ENSI ging dabei nicht auf die für die Sicherheit wesentlicheren Fragen bezüglich der Transportmechanismen dieser Tiefengrundwässer ein.
In Ergänzung zur Antwort des ENSI auf die TFS-Frage 49 (hochsalinare Bergwässer im Bözberg-Autobahntunnel) interessieren deshalb auch die Transportmechanismen und Transportwege der aggressiven Tiefengrundwässer nach oben und die Ansammlungsprozesse in oberen Grundwasseraquiferen (z.B. Molasse) nördlich der Jura-Hauptüberschiebung.
Zudem besteht ein besonderes Interesse am Prozess der Passage durch den Opalinuston und den damit verbundenen Gesteins-Wasser-Wechselwirkungen. Es stellen sich daher die folgenden Teilfragen:
Geht das ENSI davon aus, dass die im Bözberg-Autobahntunnel angetroffenen aggressiven Tiefengrundwässer aus Schichten des Muschelkalks oder aus noch tieferen Schichten stammen?
Was lässt sich über die Aufstiegswege dieser Wässer sagen? Gibt es dazu in Etappe 2 des SGT weitere Abklärungen?
Falls die Aufstiegswege den Opalinuston durchqueren, welches sind anzunehmende oder bekannte Wechselwirkungen zwischen den aggressiven Tiefenwässern und dem Opalinuston?
Falls räumlich konzentrierte Aufstiegswege der aggressiven Tiefengrundwässer angenommen werden müssen oder bereits bekannt sind, sind diese primär an tektonische Störungszonen gebunden?
Könnten diese Tiefengrundwässer zeitweise in hydraulischer Verbindung stehen mit thermalwasserführenden Aquiferen der Nordschweiz (z.B. Muschelkalk)?
Wie schätzt das ENSI die Wahrscheinlichkeit ein, dass hohe Bergwasserdrücke im Bereich von tektonischen Störungen dazu führen, dass künftige Gebirgsspannungen bevorzugt in solchen unter hydraulischem Druck stehenden Störungszonen abgebaut werden?
Zur Veranschaulichung wäre als Antwortbeilage ein Profilschnitt durch den Tunnel erwünscht.
Der Bözberg-Autobahntunnel wurde Anfang der 1990er Jahre erbaut. Er wurde von Südwesten nach Nordosten ansteigend aufgefahren (Figur 61-1) und erschliesst geologisch das Grenzgebiet von Falten- und Tafeljura. Die durchfahrenen Sedimentgesteine gehören dem Mesozoikum und dem Tertiär an, welche im südöstlichen Tunnelbereich (Faltenjura) tektonisch stark gestört sind (Aufschiebungen, Verschuppungen, überkippte Lagerung, Figur 61-2).
Im Zusammenhang mit der Fragestellung stehen verschiedene Beobachtungen, die während und nach dem Bau des Bözberg-Autobahntunnels gemacht wurden:
Die angetroffenen Wässer waren teilweise hochsalinar.
Wasserzutritte wurden in den Bereichen des Faltenjuras und des Tafeljuras beobachtet.
Die Wässer waren aggressiv gegenüber Beton und Stahl (Korrosion).
Die Wassermengen waren vor allem im Bereich des Tafeljuras sehr gering.
Das ENSI betrachtet «Tiefengrundwasser» als dasjenige Grundwasser, das in Festgesteinen auftritt, d.h. unterhalb einer allfälligen quartären Lockergesteinsbedeckung und der teilgesättigten Bodenzone. Zum Tiefengrundwasser zählen daher Wässer oberhalb des Opalinustons (Molasse, Malm, Hauptrogenstein) und unterhalb des Opalinustons (Muschelkalk, Kristallin). Zum Tiefengrundwasser können auch Mineral- und Thermalwasser zählen.
Die Region Jura-Ost (Bözberg) lag vor Beginn des Sachplans geologische Tiefenlager nicht im Fokus der Untersuchungen für geologische Tiefenlager. Herkunft und Entwicklung der im Bözbergtunnel angetroffenen Wässer sind noch nicht geklärt. Das ENSI hat darum entsprechende Untersuchungen für Etappe 2 des Sachplans gefordert (hydrogeologische Synthesen, ENSI 33/115). Die folgenden Ausführungen sind daher noch nicht abschliessend und zeigen somit einen Zwischenstand der Untersuchungen auf. Es wird erwartet, dass künftige Ergebnisse eine präzisere Antwort erlauben werden.
a) Geht das ENSI davon aus, dass die im Bözberg-Autobahntunnel angetroffenen aggressiven Tiefengrundwässer aus Schichten des Muschelkalks oder aus noch tieferen Schichten stammen?
Die bisherigen Untersuchungen zeigen eine ausgeprägte Stockwerktrennung im Bereich des Tafeljuras. Die Erkenntnisse stützen sich auf:
Beim Bau des Bözbergtunnels stand eine hydrochemische Interpretation nicht im Vordergrund, vor allem nicht im Bereich des Tafeljuras ausserhalb der Schutzzone für das Thermalwasser von Bad Schinznach. Die Beobachtungen des Wassers aus dem Bözbergtunnel sind unvollständig dokumentiert und sorgfältig zu interpretieren: Der Einsatz einer Tunnelbohrmaschine erschwerte eine fachgerechte Probenahme. Die hinter Tübbingen und Schneidrad entnommenen Proben konnten oft nicht gut den tatsächlichen Wasserzutritten zugeordnet werden (Umläufigkeiten). Baustoffe (Zement, Beton) konnten den Wasserchemismus beeinflussen. Querkontaminationen konnten durch Mischungen verschiedener Wässer entstehen (Ablaufen längs des geneigten Tunnels).
Die Wässer im Bereich der Schuppenzone («Gipswässer») sind jung und werden vom Niederschlag bestimmt. Im Bereich der Schuppenzone existieren Wasserwegsamkeiten, die zu einer Mischung aus Muschelkalkwasser, anderen Tiefenaquiferen und jungen Wässern (Tritium nachgewiesen) führen (Figur 61-3). Das Wasser kann sich beim Aufsteigen im Bereich des Exfiltrationsgebiets (Aare, Bad Schinznach) mischen (z.B. NTB 92-08) Ähnliche Verhältnisse wurden auch im SBB-Tunnel angetroffen (Hauber 1991, 1994).
Die Tiefengrundwässer im Bereich des Tafeljuras sind anderen sedimentären Na-Cl-Tiefengrundwässern der Nordschweiz ähnlich. Ihre Verweilzeit ist beträchtlich (> 1000 Jahre, vermutlich voreiszeitlich, Wegmüller 2001, vgl. Figur 61-2). Die Wässer können Anteile aus der Molasse enthalten.
Die im Bözbergtunnel beobachteten Bergwasserzuflüsse sind in den Figuren 61-4 bis 61-6 dargestellt.
b) Was lässt sich über die Aufstiegswege dieser Wässer sagen? Gibt es dazu in Etappe 2 des SGT weitere Abklärungen?
d) Falls räumlich konzentrierte Aufstiegswege der aggressiven Tiefengrundwässer angenommen werden müssen oder bereits bekannt sind, sind diese primär an tektonische Störungszonen gebunden?
Bedeutende Wasseraufstiege sind nach heutiger Kenntnis an aufgelockerte Störungszonen gebunden. So können im Bereich der Schuppenzone (Figur 61-2) Wässer aus tieferen Grundwasserleitern aufsteigen (Thermalquellen Bad Schinznach). Im Opalinuston wurden solche Zonen auch in tektonisch gestörter Lage bisher nicht beobachtet. Als Ursache wird das Selbstabdichtungsvermögen angesehen (vgl. Situation im Felslabor Mont Terri oder Opalinuston im Bözbergtunnel). Im Tafeljura und der Vorfaltenzone sind derartige Fliesswege unwahrscheinlich, aber heute nicht auszuschliessen.
Eine genauere Abklärung der tektonischen Situation wird von den seismischen Untersuchungen in Etappe 2 erwartet. Für Etappe 2 wurden ausserdem hydrogeologische Synthesen (u.a. für das Standortgebiet Jura-Ost) gefordert, welche die aktuellen Daten (also auch die Erkenntnisse aus dem Bau des Bözbergtunnels) berücksichtigen (Nachweis des Stockwerkbaus, ENSI 33/115).
Ein bereits bestehendes seismisches Profil mit seiner geologischen Interpretation ist in Figur 61-7 dargestellt.
c) Falls die Aufstiegswege den Opalinuston durchqueren, welches sind anzunehmende oder bekannte Wechselwirkungen zwischen den aggressiven Tiefenwässern und dem Opalinuston?
Heute geht das ENSI nicht von Aufstiegswegen (aktive hydraulische Verbindungen) aus, die den Opalinuston im Bereich der geologischen Standortgebiete (Tafeljura) durchqueren. Im Einengungsverfahren wird hydraulisch wirksamen Störungszonen ausgewichen.
e) Könnten diese Tiefengrundwässer zeitweise in hydraulischer Verbindung stehen mit thermalwasserführenden Aquiferen der Nordschweiz (z.B. Muschelkalk)?
Im Bereich der Jura-Hauptüberschiebung und des Rands des Permokarbontrogs sind hydraulische Verbindungen bekannt. Hydraulische Fliesssysteme sind über lange Zeiträume stabil.
f) Wie schätzt das ENSI die Wahrscheinlichkeit ein, dass hohe Bergwasserdrücke im Bereich von tektonischen Störungen dazu führen, dass künftige Gebirgsspannungen bevorzugt in solchen unter hydraulischem Druck stehenden Störungszonen abgebaut werden?
Mögliche Ursachen aufsteigender Tiefenwässer sind erhöhte hydraulische Potenziale (piezometrische Druckhöhen, evtl. artesisch gespannt wie Muschelkalk bei Schinznach, Baden und Zurzach) und/oder thermische Effekte (instabile Dichteschichtung). Erhöhte hydraulische Potenziale in Störungen entsprechen erhöhten Porenwasserdrücken gegenüber den um- und überliegenden Schichten. Es bestehen Rückkoppelungen zwischen Porenwasserdrücken, Reaktivierung und Durchlässigkeit von Störungen. Das entsprechende gekoppelte Verhalten von Tonsteinen ist komplex – insbesondere aufgrund rasch ablaufender chemischer Prozesse (Selbstheilung durch Quellung, Mineralreaktionen auf Kluftoberflächen).
In der Nordschweiz gemessene Überdrücke sind teilweise artesisch (Druckhöhe über Oberkante Terrain, ü OKT), teilweise gespannt (Druckhöhe oberhalb Grundwasserleiter):
Störungen können reaktiviert werden, wenn ihre Scherfestigkeit überschritten wird, wobei erhöhte Porenwasserdrücke das Scherpotenzial (Slip Potential) vermindern. Das Scherpotenzial hängt ausserdem von der Lage der Hauptspannungsrichtungen ab (Figur 61-8).
Im Tafeljura und der Vorfaltenzone variieren die horizontalen Hauptspannungsrichtungen (σH, σh) substanziell. Die bevorzugte Orientierung der maximalen Horizontalspannung (σH) ist in Richtung NS (Evans und Roth 1998). In den mesozoischen Sedimenten werden die lokalen Spannungen stark von den mechanischen Eigenschaften der Gesteine (Wileveau et al. 2007) und der Versenkungsgeschichte kontrolliert. Benken: σH = 1.3σV, σh = 0.9σV (NTB 00-01, Blattverschiebung?)
Die artesischen Überdrücke in tiefen Grundwasserleitern betragen etwa 1 MPa (100 m). Diese Überdrücke verändern die Stabilitätsverhältnisse tiefreichender Störungen nur marginal (Figur 61-9). Die grössten Einflüsse auf die mögliche Reaktivierung bestehender Störungen (oder den Spannungsabbau) haben die relative Orientierung der Störungen gegenüber den Hauptspannungen sowie die Beträge der Deviatorspannungen. Im Tafeljura sind in dieser Hinsicht die rheinisch orientierten Störungen möglicherweise kritisch orientiert. Diese zeigten z.T. Hinweise auf neotektonische Bewegungen. Analysen der heutigen und zukünftigen Spannungsvariationen innerhalb der mechanisch heterogenen Schichtabfolgen im Tafeljura sind wichtig.
Ausblick
Die Region Jura-Ost (Bözberg) lag vor Beginn des Sachplans geologische Tiefenlager nicht im Fokus der Untersuchungen für geologische Tiefenlager. Herkunft und Entwicklung der im Bözbergtunnel angetroffenen Wässer sind noch nicht geklärt. Das ENSI hat darum entsprechende Untersuchungen für Etappe 2 des Sachplans u.a. für das Standortgebiet Jura-Ost gefordert (hydrogeologische Synthesen, Nachweis des Stockwerkbaus, ENSI 33/115). Die Erkenntnisse aus dem Bau des Bözbergtunnels sind dabei zu berücksichtigen.
Eine genauere Abklärung der tektonischen Situation wird von den seismischen Untersuchungen in Etappe 2 erwartet.
Analysen der heutigen und zukünftigen Spannungsvariationen innerhalb der mechanisch heterogenen Schichtabfolgen im Tafeljura sind ebenfalls wichtig und werden durch Experten des ENSI beurteilt.
Evans K.F., Roth P. (1998): The state of stress in northern Switzerland inferred from earthquake seismological data and in-situ stress measurements – Final report.
Hauber L. (1991): Geologie des Bözbergtunnels, Frühjahrstagung des Schweizerischen Ingenieur- und Architekten-Vereins – N3: Bözberg- und Habsburgtunnel.
Hauber L. (1994): Die Geologie des Bözbergtunnels der Nationalstrasse N3. Brugger Neujahrsblätter 104, 85-104.
NTB 00-01: Sondierbohrung Benken – Untersuchungsbericht (Textband & Beilagenband), Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Nagra Technischer Bericht, Wettingen, 2001.
NTB 92-08: Hydrochemische Synthese Nordschweiz – Dogger-;Lias-;Keuper- und Muschelkalk-Aquifere, Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Nagra Technischer Bericht, Wettingen, 1993.
Wegmüller M.C. (2001): Einflüsse des Bergwassers auf Tiefbau / Tunnelbau. Zürich, Stäubli AG.
Wileveau Y., Cornet F.H., Desroches J., Blümling P. (2007): Complete in situ stress determination in an argillite sedimentary formation. Physics and Chemistry of the Earth 32, 566-878.