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Frage 27: Quartärgeologie/Erosionsproblematik

Neueste quartärgeologische Erkenntnisse von Michele Koppes und David Montgomery (Universität von British Columbia) besagen, dass die Erosionsrate von Gletschereis nicht – wie bisher angenommen – deutlich grösser ist als diejenige von Wasser, sondern dass beide Erosionsraten in der gleichen Grössenordnung liegen, nämlich zwischen einem und zehn Millimetern pro Jahr.

Daraus stellt sich die Frage:

Halten die bisherigen Annahmen und die daraus resultierenden Anforderungen an ein Geologisches Tiefenlager diesen neuesten Erkenntnissen stand?

Thema , Bereich
Eingegangen am 9. Oktober 2009 Fragende Instanz Kanton Zürich
Status beantwortet
Beantwortet am 26. März 2010 Beantwortet von

Beantwortet von ENSI

Die Erkenntnisse von Koppes & Montgomery (Nature Geoscience, 2009) decken sich im Kern mit seit langen Jahren gültigen Lehrmeinungen der Fachwelt. In den letzten 10 Jahren hat der der Zweitautor einige Male die höhere Effektivität der Glazialerosion grundsätzlich in Frage gestellt und sich zunächst auf Modellierungen berufen. Tatsächlich liegt eine Reihe von Missverständnissen vor. Wichtig ist zunächst, dass nur die Erosionsleistung von Gletschern mit nasser Basis (temperierte Gletscher) mit der von Flüssen verglichen wird. Die geringe Erosionsleistung kalter Gletscher auf dauergefrorenem Boden, wie beispielsweise in Nordskandinavien ist bekannt.

Die zum Beweis angeführten natürlichen Gebirge mit hohen Hebungs- und Erosionsraten sind alle durch Massenbewegungen (Hangrutsche) gekennzeichnet und in diesen Fällen macht es in der Tat keinen Unterschied, ob Gletscher oder Flüsse das lockere Schuttmaterial abtransportieren. Aktive Tektonik als wichtigster Kontrollmechanismus der Erosion, viel wichtiger als Niederschlagsmengen oder Relief, ist weithin akzeptiert. Die angegebenen sehr hohen Denudationsraten (flächige Erosion) von 1 bis 10 mm pro Jahr werden in tektonisch sehr aktiven Gebirgen erreicht, die sehr hohe Hebungs- und Verformungsraten ausweisen und zudem niederschlagsreich sind (z.B. Neuseeland, Taiwan, Syntaxen des Himalaya). Die Hebungsraten übertreffen die der Alpen um den Faktor 5, unter Abzug der glazialisostatischen Hebungskomponente der Alpen um den Faktor 10.

Die Verformungsraten in den Alpen sind seit 5 Millionen Jahren um den Faktor 10 bis 20 geringer als in den angesprochenen sehr aktiven Gebirgen. In tektonisch völlig inaktiven Gebirgen mit hohem und steilem Relief und geringen flächigen Erosionsraten ist die prominente Rolle der Glazialerosion offensichtlich, wobei keine globale Kompilation über solche Beispiele vorliegt. Europa ist voll von Beispielen. Gut untersucht ist Korsika. In den Alpen ist die Effektivität glazialer gegenüber fluvialer Erosion quantifiziert: Glazialerosion in den Alpen ist auf der Zeitskala von 10 000 Jahren bis 1 Million Jahren doppelt so effektiv.

Die Bemerkung von Koppes & Montgomery (2009) über einen Trend zu abnehmender Erosion über einen glazialen Zyklus hinweg (ein bis zwei Grössenordnungen auf Zeitskalen bis eine Million Jahre) ist interessant und neu, dürfte aber Widerspruch hervorrufen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Erkenntnisse von Koppes & Montgomery (2009) keine direkten Konsequenzen für eine Neubewertung glazialer Tiefenerosion in den Alpen und ihrem Vorland haben. Hingegen sind detaillierte regionale Nachforschungen zum Thema glazialer Tiefenerosion weiterhin erforderlich, da dieser Prozess nachweislich hohe Erosionsraten hervorrufen kann. Eine vorläufige Analyse der Rinnenfüllungen der Nordschweiz sowie Auswertung neuer Literatur über die Alpen (ENSI 33/48) hat gezeigt, dass Eintiefungsraten 3 bis 5 mm pro Jahr in den Hauptphasen der Tiefenerosion, bezogen auf ca. 30 000 Jahre pro Eiszeitzyklus von 100 000 Jahren (also langfristig 1-2 mm pro Jahr, Häuselmann et al. 2007) erreicht werden können. Die Alpen heben sich langfristig als Folge glazialer Erosion und in geologischer Zukunft kann mit ähnlichen, langfristig (1 – 5 Millionen Jahre) auf 0.5 bis 1 mm pro Jahr zurückgehenden Einschneidungsraten in den schmalen Tälern gerechnet werden.

Dagegen hebt sich das Alpenvorland um den Faktor 3 bis 5 langsamer und der Prozess der Tiefenerosion scheint sich, mit Ausnahme der alpennäheren Thurtal-Rinne, im Verlauf der Kaltzeiten zu verringern. Als Folge wurde in den letzten 5 Kaltzeitzyklen (seit ca. 350 000 Jahren) selbst die Verfüllung aus Lockersedimenten nur teilweise ausgeräumt. Entsprechend wird für den Fall eines natürlichen Klimazyklus mit wiederkehrenden Eiszeiten seitens ENSI nicht mit weiterer Vertiefung der Rinnen im Felsuntergrund gerechnet (Ausnahme: Thurtal-Rinne). Im Fall eines durch den Ausstoss von Treibhausgasen verlängerten und wärmeren aktuellen Interglazials wird jedoch bei der Umstellung auf den natürlichen Klimazyklus mit einer starken Vereisung und neuerlicher glazialer Tiefenerosion gerechnet.

Die Sonderstellung der Thurtal-Rinne erklärt sich aus dem Umstand, dass der östliche und zentrale Teil vermutlich nur Ablagerungen der letzten Eiszeit enthält. Ältere Ablagerungen der nördlich in Richtung Schaffhausen abzweigenden Rinne sind deutlich oberhalb des heutigen Talniveaus der Thur gekappt. Daher ist nach Ablagerung dieser Schichten in der vorletzten Eiszeit noch erhebliche Tiefenerosion in der Thurtal-Rinne erfolgt.

Referenzen

ENSI 33/48: Draft: Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 1: Glaziale Tiefenerosion und relative Datierung von Talfüllungen im nordwestlichen Thurgau und bei Schaffhausen, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Aktennotiz, Würenlingen, 2009.

Häuselmann P., Granger D.E., Jeannin P.-Y., Lauritzen S.E. (2007): Abrupt glacial valley incision at 0.8 Ma dated from cave deposits in Switzerland. Geology 35, 143–146.

Koppes M.N., Montgomery D.R. (2009): The relative efficacy of fluvial and glacial erosion over modern to orogenic timescales. Nature Geoscience 2, 644-647.