Frage 141: Theoretisches Gedankenexperiment zu Suspension des radioaktiven Inventars in Wasser
Im Rahmen der Kommentierung der Antworten zu den TFS-Fragen 111 bis 120 hat der Fragesteller festgehalten, dass mit den vorliegenden Antworten seine übergeordnete Frage nach dem theoretischen Gefährdungspotential nicht oder nur teilweise beantwortet wurden. Entsprechend hat er im Rahmen der Rückmeldung fünf ergänzende Fragen (TFS-Frage 138 bis 142) eingereicht.
Abgeleitet aus der TFS-Frage 117 sowie losgelöst von Szenarien stellt sich folgende Frage:
Für ein unrealistisches und theoretisches Gedankenexperiment wird angenommen, dass jeweils folgende Aktivitätsinventare in Wasser suspergiert werden:
Aktivitätsinventar von 10 Endlagerbehälter für BE
Aktivitätsinventar von 10 Endlagerbehälter für HAA
Aktivitätsinventar von 10 Endlagerbehälter für SMA
Die entstandene Suspension werde sodann in ein Fliessgewässer (Referenz Rhein) abgegeben. Die Fachgruppe bittet das TFS, die Entwicklung der Aktivitätsverteilung mit der Zeit auszuweisen. Des Weiteren wird das TFS gebeten, allgemeine Ausführungen über die strahlenbiologischen Auswirkungen auf Fische (Inkorporation) und die gesamte Aquasphäre zu machen. Wie würden die Auswirkungen aussehen, wenn die Aktivitätsmengen von 100 anstatt 10 Behälterinventaren gelöst würden.
Das ENSI hat in seiner Aktennotiz ENSl-AN-8093 (Radiologische Konsequenzen einer Freisetzung des Fukushima-Wasserpfad-Quellterms in Aare/Rhein am Standort der schweizerischen Kernkraftwerke) untersucht, welche radiologischen Konsequenzen eine Einleitung von grossen Mengen an radioaktiven Stoffen in die Aare bzw. den Rhein an einem schweizerischen Kernkraftwerksstandort zur Folge hätte.
Die Berechnung der Ingestionsdosis über den Wasserpfad erfolgte nach der Richtlinie ENSI-G14. Sofern von einem quasikontinuierlichen Nahrungsmittelverzehr ausgegangen wird, spielt die Dauer der Abgaben keine Rolle. Für die Ingestion werden Trinkwasser- und Fischverzehr sowie die Ingestion von Milch und Fleisch von Tieren, die mit Flusswasser getränkt wurden, berücksichtigt. Für den Transfer vom Trinkwasser in tierische Produkte wird dabei ein identischer Transferfaktor wie zwischen Futter und tierischen Produkten angenommen. Das Modell berücksichtigt keine Ablagerungsprozesse von radioaktiven Stoffen im Bielersee und in den Flüssen Aare und Rhein. Sämtliche Werte für die Parameter wurden aus der Richtlinie ENSI-G14 entnommen.
Als Quellterm wurden 3,6×1015 Bq 131I und 1,1×1015 Bq 137Cs verwendet. Diese Radioaktivität wurde nach Angaben des Betreibers von Fukushima zwischen dem 1. und 6. April 2011 mit etwa 500 Tonnen Wasser ins Meer abgegeben. Zusätzlich wurde in der Aktennotiz ein Tritium-Quellterm verwendet, der auf der Basis eines Siedewasserreaktors mit einer elektrischen Leistung von 1000 MW abgeschätzt wurde. Das gesamte Tritium-Inventar eines solchen Reaktors in den Brennelementen und Steuerstäben ist ungefähr 4,3×1013 Bq.
Durch den Konsum von Flusswasser, Fisch sowie Fleisch- und Milchprodukten, die über den Wasserpfad kontaminiert werden, ergibt sich für einen Erwachsenen bei der Nutzung der Aare oberhalb des Bielersees eine berechnete Dosis von 44,0 mSv, bei der Nutzung des Bielersees oder der Aare bis Brugg von 18,5 mSv, bei der Nutzung zwischen Brugg und Koblenz von 9,2 mSv sowie bei der Nutzung des Rheins von Koblenz bis Basel von 5,2 mSv für das Ereignis (Tabelle 141-1). Die Dosen für ein Kleinkind sind leicht höher (51,0 mSv, 21,6 mSv, 10,8 mSv und 5,8 mSv). Die berechneten Dosen sind sehr konservativ. Dies gilt insbesondere für den durch 131I verursachten Dosisanteil. Bei den Berechnungen wurden der radioaktive Zerfall von 131I während der Reisezeit im Fluss und die Verweilzeit im Bielersee nicht berücksichtigt. Zum Vergleich: Die jährliche, durchschnittliche Belastung für die Bevölkerung in der Schweiz beträgt rund 5 mSv (5000 Mikrosievert, μSv).
In einer japanischen Arbeit wurde untersucht, wie sich das Risiko der radioaktiven Kontamination von Meereslebewesen im Laufe der Zeit entwickelt (Figur 141-1). Die Autoren beobachteten einen starken Abfall innerhalb von rund zwei Jahren. Ein Grund ist die Verdünnung der radioaktiven Stoffe im Meerwasser, auch im Süsswasser sieht man analoges Verhalten.
Da die in der ENSI-Aktennotiz dargestellten Sachverhalte die grundlegenden Einsichten und Schutzmassnahmen beschreiben, verzichtet das ENSI auf eine detaillierte Berechnung des im Gedankenexperiment dargelegten Szenariums. Bei einem schweren Unfall würden zeitgerecht Schutzmassnahmen, wie z.B. die vorsorgliche Unterbrechung der Trinkwasseraufbereitungen stromabwärts aus dem Rhein bei Basel eingeleitet werden. Die Auswirkungen wären rund zehn Mal grösser, wenn die Aktivitätsmengen von 100 anstatt 10 Behältern gelöst würden.
Das ENSI hat weiterführende Informationen zur Schadstoffausbreitung in Fliessgewässern auf seiner Webseite aufgeschaltet.
Okamura H, Ikeda S, Morita T, Eguchi S (2016): Risk assessment of radioisotope contamination for aquatic living resources in and around Japan. PNAS 2016 April, 113 (14) 3838-3843. https://doi.org/10.1073/pnas.1519792113