Einführung
Frage 70 fokussiert auf drei Typen von Naturgefahren, die die Fragestellerin als in den Langzeitszenarien nicht genügend berücksichtigt betrachtet und deshalb thematisiert wissen möchte. Die drei Typen sind die Naturgefahr „Erdbeben“, Naturgefahr „Veränderung des tektonischen Regimes“ und Naturgefahr „Eiszeiten und Tiefenerosion der Gletscher“. Die Frage bezieht sich darauf, wie mit „diesen unvorhersehbaren Ereignissen und Vorgängen“ über Zeiträume von 100 000 bis 1 000 000 Jahren in Bezug auf die Sicherheit von Tiefenlagerung umgegangen werden soll. Das Thema „Eiszeiten und Tiefenerosion der Gletscher“ wurde schon früher im Rahmen des TFS durch die KNE und im Rahmen von SGT-Fachtagungen an der ETH diskutiert (siehe Antworten zu Fragen 27, 38 und 45 und wird hier nicht weiter diskutiert. Die anderen zwei Themen sind Gegenstand der vorliegenden Antwort. Dabei geht es hauptsächlich um Frage a („Wie kann mit unvorhersehbaren Naturgefahren umgegangen werden?“) und weniger um die Beantwortung von Frage b („Wird genügend auf die unvorhersehbaren Naturgefahren geachtet? Weiss man genügend darüber?“). Wir geben weniger grundsätzliche methodische Antworten auf die gestellten Fragen (zum Umgang mit Naturgefahren), sondern wir versuchen, die heutigen Kenntnisse und Fragen zu Erdbeben und zur Veränderung des tektonischen Regimes im Betrachtungszeitraum von einer Million Jahren zu erläutern.
Naturgefahr: Erdbeben
Erdbeben und andere neotektonische Bewegungen können über eine Million Jahre nicht deterministisch vorausgesagt werden. Ein einzelnes Erdbeben kann überhaupt nicht vorausgesagt werden, sondern Häufigkeit und Stärke können nur auf statistische Weise angegeben werden. Die Erdbeben-Sicherheit für ein Tiefenlager einschließlich seiner Zugangsbauwerke kann für den Zeitraum des Baus, der Verfüllung und der Beobachtung (50 bis 100 Jahre) mit klassischen Verfahren analysiert und gewährleistet werden. Dazu sind die Methoden der seismischen Gefährdungsanalyse wie sie in der PEGASOS Studie für die Kernkraftwerke zur Anwendung kommen auf die Besonderheiten des Tiefenlagers anzupassen.
Der Nachweis der Langzeitsicherheit für die Nachverschlussphase ist schwieriger und erfordert neue Methoden und Untersuchungen. Die sehr lange zu betrachtende Zeit führt dazu, dass sich in diesem Zeitraum die Seismizität ändern kann, d.h. nicht stationär bleibt, sondern transient wird. Den entscheidenden Einfluss muss man dabei in der Belastung und Entlastung des Tiefenlagers und seiner Umgebung durch glaziale und postglaziale Prozesse sehen, und weniger in einer möglichen Veränderung des tektonischen Regimes. Der Einfluss von zukünftigen Gletschervorstössen und Rückzügen auf die hydrologischen und Spannungsverhältnisse im Untergrund und die sich dadurch verändernde Seismizität sollte quantitativ mit adäquaten Modellen der elastischen und nicht-elastischen Eigenschaften der Region analysiert werden (Wu et al. 1999, Lund & Näslund 2009).
Über die Untersuchung transienter Phänomene der Seismizität hinaus erfordert eine sehr lange Analysezeit die Entwicklung anderer Seismizitätsmodelle, als sie bisher für die Bewertung der Sicherheit der Kernkraftwerke (PEGASOS-Studie) benutzt werden. Die Zufallsverteilung von Erdbebenquellen in der gesamten Nordschweiz für alle Magnituden (Burkhard & Grünthal 2009) ist zu ersetzen durch ein gemischtes Modell, in dem zwar eine Hintergrundseismizität mit beliebiger räumlicher Verteilung für kleine Magnituden angenommen wird, die großen Ereignisse aber an den Störungen stattfinden, die sich im Laufe der langen geologischen Geschichte ausgebildet haben und dann je nach Spannungsfeld reaktiviert werden können.
Die Stollen des Tiefenlagers stellen während und nach der Verfüllung mechanische Inhomogenitäten innerhalb des Wirtgesteins dar. Die Sicherheit der Stollen bis zur Verfüllung ist Gegenstand der oben genannten probabilistischen Gefährdungsanalyse für den relativ kurzen Zeitraum, der die Verfüllung selbst und die Beobachtungsphase einschließt. Für die Langzeitbetrachtungen ist es wichtig, das mechanische Verhalten des Systems „verfüllte Stollen im Opalinuston“ bezüglich dynamischen und statischen mechanischen Belastungen zu verstehen, um maximal akzeptable, seismische Erschütterungen begleitende Deformationen festzulegen.
Ein Bruch durch den Opalinuston, der bei einer größeren Magnitude (M = 6) zu erwarten ist, führt zu einer Bruchlinie durch den Ton und die darunter und darüber liegenden Schichten, die einen Versatz von ca. 50 cm aufweist. Das Sicherheitskonzept sieht einen Mindestabstand von 200 m von großen tektonischen Störungen dieses Typs vor. Innerhalb dieser 200 m sollte die Deformation entlang von sekundären Bruchflächen auf Werte abfallen, die die Integrität des Lagers nicht beeinträchtigt. Ein Nachweis müsste untersuchen, welche Scherverformungen die Integrität der Behälter nicht beeinträchtigen und welche Auswirkungen die in solchen Entfernungen auftretenden Deformationen auf die Verfüllung und das Wirtgestein, insbesondere auf deren Durchlässigkeit haben. Entsprechende Untersuchungen (Fälth & Hökmark 2006) bestehen zum Beispiel für das geplante Tiefenlager in Forsmark (Schweden).
Die Wirksamkeit des 200 m grossen Sicherheitsabstandes hängt von der Annahme ab, dass große Erdbeben nur an heute bekannten Störungen auftreten können. Ein Beben mit M = 6, dessen Bruchfläche direkt durch die verfüllten Stollen verläuft, würde vermutlich zeitweilig – bis der Opalinuston wieder abgedichtet ist – die Barrierenwirkung des Wirtsgesteins signifikant herabsetzen. Es kann heute davon ausgegangen werden, dass solche grossen Brüche mit detaillierten seismischen Erkundungen detektiert werden und dass diesen bei der Lokalisierung und Auslegung des Tiefenlagers ausgewichen werden kann.
Schlussfolgerungen
Ohne transiente Effekte ist die Wahrscheinlichkeit eines Bebens M > 6, in der Nähe eines Tiefenlagers, in 100 000 bis 1 000 000 Jahren sehr groß, wenn man annimmt, dass die Beben räumlich zufällig verteilt sind. Große Beben finden aber an vorhandenen Störungen statt, sodass die Annahme der Zufälligkeit, wie sie der PEGASOS-Studie zugrunde lag, zugunsten eines deterministischen regionalgeologischen Modells aufgegeben werden sollte. Ein solches Modell muss aber noch wissenschaftlich fundiert werden. Die transienten Effekte glazialer und post-glazialer hydrologischer und effektiver Spannungsänderungen sind quantitativ mit dem vorhandenen Störungsinventar zu analysieren. Die Wirkung eines großen Bruchs (Verstellung um mehr als 50 cm) durch den Opalinuston in 200 m Entfernung muss quantitativ verstanden werden. Dazu liefern die entsprechenden schwedischen Untersuchungen zu einem Tiefenlager in Forsmark bereits methodische Ansätze.
Die bisherigen Sicherheitsanalysen (Entsorgungsnachweis und SGT Etappe 1) behandeln das Erdbebenszenario nur sehr pauschal und verknüpfen es nicht mit Berechnungen zur Radionuklidausbreitung oder der Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden seismischen Dislokation im Lagerbereich.
Naturgefahr: Veränderung des tektonischen Regimes
Die heutige regionale Verteilung von Erdbeben und grossen Brüchen in der Nordschweiz ist ein Teilaspekt des tektonischen Regimes, bedingt durch die Nähe der alpinen Gebirgskette und des Rheingrabens. „Tektonik“ bezeichnet hier die grossräumige Struktur der Erdkruste und die daraus abgeleiteten grossräumigen Prozesse (z.B. Plattenbewegungen, Isostasie, Bruchbildung, Faltung, usw., auf regionalem Massstab). Der Begriff wird manchmal auch für kleinräumigere Erscheinungen angewendet (z.B. die „Tektonik“ von einzelnen Standortgebieten). „Tektonisches Regime“ bezeichnet typische Kombinationen von krustalen Strukturen und Prozessen, die sich immer wieder, in verschiedenen Regionen und Epochen, in der geologischen Geschichte der Erde abgespielt haben. Das tektonische Regime der Nordschweiz ist durch das Kollisionsregime der Alpen und das Extensionsregime des Rhein-Bresse-Grabensystems (Pfiffner et al. 1997, Pfiffner 2009) charakterisiert.
Der Begriff „Neotektonik“ bezeichnet tektonische Erscheinungen, die auf sehr junge Bewegungen hinweisen, die bis in die Gegenwart aktiv sein können, aber nicht von dynamischen Phänomenen (messbare Hebung/Senkung, Seismizität, usw.) begleitet sein müssen (z.B. Madritsch et al. 2010, Bauve et al. 2012). Der Begriff „rezente Tektonik“ wird für Krustenbewegungen der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit benutzt, die mittels der Analyse von dynamischen Daten (aus der Seismologie, Geodäsie, usw.) bestimmt wurden. Man spricht auch von „aktiver Tektonik“ oder auf grösserem Massstab von „Geodynamik“ (z.B. Becker 2000, Kastrup et al. 2004, Burkhard & Grünthal 2009). Diese Nomenklatur nutzend, spricht man oft von einem „tektonischen Szenario“ für die zukünftige tektonische (geodynamische) Entwicklung eines Gebiets oder einer Region (im Kontext einer Sicherheitsanalyse eines Standortgebietes, z.B. Müller et al. 2002, vergl. Milnes 2004). Die Fragestellerin vermutet, dass die Gefahr besteht, dass sich das heutige tektonische Regime der Nordschweiz über den Zeitraum einer Million Jahren grundlegend ändern oder wieder aktiv werden könnte.
Änderungen im tektonischen Regime mit der Zeit sind zwar eine geologische Tatsache, aber solche Veränderungen ereignen sich sehr langsam. Über den Zeitraum von einer Million Jahren ändert sich auf plattentektonischer Zeitskala quasi nichts, insbesondere in Regionen, die weit weg von aktiven Plattenrändern liegen. Eine signifikante Veränderung des tektonischen Regimes wird darum im Betrachtungszeitraum (100 000 bis 1 000 000 Jahren) nicht stattfinden. Deshalb ist es zulässig, ein tektonisches Szenario für die Nordschweiz auf Grund unserer Kenntnisse der heutigen Verhältnisse zu konstruieren. Das Charakteristikum dieses Szenarios ist die Lage der Nordschweiz am äussersten Rand der alpinen Kollisionszone in einem (noch nicht ganz abgeschlossenen) Endstadium des alpinen Gebirgsbildungsprozesses, ausserhalb des unmittelbaren Einflussbereiches des Rheingrabens, welcher sich ebenfalls in einem (noch nicht ganz abgeschlossenen) geologischen Endstadium der Grabenbildung befindet. Endstadium bedeutet dabei, dass die Annahme einer Fortsetzung der heutigen tektonischen und geodynamischen Verhältnisse eine konservative Annahme ist. Realistischer ist die Prognose, dass sich die tektonische Aktivität eher weiter abschwächt.
Schlussfolgerungen
Obwohl eine eindeutige Prognose über 1 Million Jahre nicht gemacht werden kann, zeigen die geowissenschaftlichen Daten, dass dieser Zeitraum sehr kurz ist im Vergleich zu den bekannten Geschwindigkeiten von tektonischen Prozessen wie Gebirgsbildung (Alpen) und Grabenbildung (Rhein-Bresse). Solche tektonischen Regimes bleiben über sehr lange Zeiträume bestehen (Alpen ca. 100 Ma, Rhein-Bresse ca. 30 Ma) und klingen sehr langsam aus. Wir befinden uns zurzeit in der Ausklingphase dieser zwei tektonischen Systeme und eine Reaktivierung oder das plötzliche Eintreten eines neuen, davon abweichenden tektonischen Regimes in so kurzer Zeit (1 Million Jahre) ist nicht vorstellbar. Deshalb sollte nach Ansicht der EGT die „Veränderung des tektonischen Regimes“, in Bezug auf die Langzeitsicherheit eines HAA-Lagers, nicht als Naturgefahr eingestuft werden. Trotzdem gibt es noch etliches zu tun, bevor die heutige Geodynamik der Nordschweiz und der bevorzugten Standortgebiete so gut bekannt ist, dass sie als Basis einer quantitativen Szenarienanalyse verwendet werden kann. Die folgenden Themen sollten weiter verfolgt werden, bevor ein belastbares „Tektonisches Szenario Nordschweiz“ entworfen werden kann:
- die Neotektonik und Kinematik der Nordschweiz, insbesondere des Tafeljuras und der Vorfaltenzone
- die regionalen und lokalen Spannungsfelder und ihre Bedeutung für die Interpretation von Erdbeben-Herdflächenlösungen und Bruchreaktivierung
- die Beziehung zwischen Krustenbewegung, Bruchbildung und Erdbeben, besonders in Zusammenhang mit einer zukünftigen Eiszeit
Alle hier diskutierten Fragen beziehen sich auf die gesamte Region der Nordschweiz. Ihre Beantwortung liefert daher kein Auswahlkriterium für Standorte in dieser Region.
Referenzen
Bauve, V., Rolland, Y., Sanchez, G., Giannerini, G., Schreiber, D., Corsini, M., Perez, J.-L., Romangy, A., 2012. Pliocene to Quaternary deformation in the Var Basin (Nice, SE France) and its interpretation in terms of „slow-active“ faulting. Swiss Journal of Geosciences, 105, 361-376.
Becker, A., 2000. The Jura Mountains – an active foreland fold-and-thrust belt? Tectonophysics, 321, 381-406.
Burkhard, M., Grünthal, G., 2009. Seismic source zone characterization for the seismic hazard assessment project PEGASOS by the Expert Group 2 (EG 1b). Swiss Journal of Geosciences, 102, 149-188.
Fälth, B., Hökmark, H., 2006. Seismically induced slip on rock fractures. Results from dynamic discrete fracture modelling. Swedish Nuclear Fuel and Waste Management Company (SKB), Rapport R-06-48.
Kastrup, U., Zoback, M.L., Deichmann, N., Evans, K.F., Giardini, D., Michael, A.J., 2004. Stress field variations in the Swissd Alps and the northern Alpine foreland from inversion of fault plane solutions. Journal of Geophysical Research, 109, B01402, doi:10.1029/2003JB002550.
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Madritsch, H., Preusser, F., Fabbri, O., Bichet, V., Schlunegger, F., Schmid, S.M., 2010. Late Quaternary folding in the Jura Mountains: evidence from syn-erosional deformation of fluvial meanders. Terra Nova, 22, 147-154.
Milnes, A.G., 2004. Review comments on Nagra Technical Report NTB 99-08 „Geologische Entwicklung der Nordschweiz, Neotektonik und Langzeitszenarien Zürcher Weinland“. Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen, Expert Report HSK 35/96.
Müller, W.H., Naef, H., Graf, H.R., 2002. Geologische Entwicklung der Nordschweiz, Neotektonik und Langzeitszenarien Zürcher Weinland. Nagra Technischer Bericht NTB 99-08.
Pfiffner, O.A., 2009. Geologie der Alpen. Haupt Verlag (Bern, Stuttgart, Wien), pp. 359.
Pfiffner, O.A., Lehner, P., Heitzmann, P., Mueller, S., Steck, A. (eds.), 1997. Deep Structure of the Alps. Birkhäuser Verlag (Basel, etc.), pp. 380.
Wu, P., Johnston, P., Lambeck, K., 1999. Postglacial rebound and fault instability in Fennoscandia. Geophysical Journal International, 139, 657–670.