Technisches Forum Sicherheit

Frage 70: Umgang mit unvorhersehbaren Naturgefahren

Naturereignisse können für eine Million Jahre nicht vorausgesehen werden. Ein Erdbeben kann eine Bruchlinie durch das Lager verursachen (Tiefenlager sind besonders gefährdet, weil die Stollen Schwachstellen darstellen) oder die geologische Umgebung eines Lagers so verändern, dass die Sicherheitsfunktion des Gesteins nicht mehr gewährleistet ist. Auch eine Bruchlinie in der Nähe des Lagers kann langfristig die Rückhaltefähigkeit (Dichtigkeit) des Gesteins beeinflussen und damit das Lagerkonzept und die Sicherheit in Frage stellen.

Das tektonische Regime kann in eine aktivere Periode übergehen – das kann nicht vorhergesagt werden und kann in 100 000 bis 1 000 000 Jahre geschehen. Es fehlt heute also eine ganzheitliche Gefährdungseinschätzung. Diese sollte unbedingt vor der Standorteinschränkung gemacht werden. Doch ist heute die Lagerarchitektur nicht bekannt, was eine wichtige Voraussetzung ist, um die Gefährdung des Lagers durch Erdbeben abschätzen zu können.

Es ist sicher, dass weitere Eiszeiten kommen. Unklar ist, wie schnell und wie heftig innerhalb einer Million Jahre. Insbesondere kann die Tiefenerosion der Gletscher nicht vorhergesagt werden – möglicherweise werden dadurch die geologischen Rahmenbedingungen verändert, so dass der Opalinuston seine Schutzwirkung nicht entfalten kann. Das bedeutet, dass Radioaktivität in die Umwelt gelangen kann.

  1. Wie kann mit unvorhersehbaren Naturgefahren umgegangen werden?
  2. Wird genügend auf die unvorhersehbaren Naturgefahren geachtet? Weiss man genügend darüber?
Thema , , , Bereich
Eingegangen am 9. Februar 2012 Fragende Instanz SES
Status beantwortet
Beantwortet am 7. März 2013 Beantwortet von , ,

Beantwortet von ENSI

a) und b)

Die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers ist durch ein System gestaffelter, passiv wirkender technischer und natürlicher Barrieren zu gewährleisten (Mehrfachbarrierensystem, Art.11 KEV). Wegen der sehr langen Zeiträume kommt der Geosphäre eine besondere Bedeutung zu. Sie muss so gewählt werden, dass sie für die erforderlichen Zeiträume den nötigen Schutz erbringen kann. Der Umgang mit Naturgefahren ist sowohl im Standortauswahlverfahren1 des Sachplans geologische Tiefenlager wie auch bei der Beurteilung der Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers gemäss den Anforderungen der Richtlinie ENSI-G03 an die Sicherheitsanalyse im Detail vorgesehen. Im Rahmen einer Störfallanalyse sind u.a. alle möglichen Gefährdungsbildern von Naturereignissen zu analysieren und deren Auswirkungen auf die Betriebs- und Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers aufzuzeigen. Mit diesem Vorgehen werden die in der Frage erwähnten Naturgefahren erfasst und bei der Beurteilung geeigneter geologischer Standortgebiete berücksichtigt (u.a. Meiden tektonischer Störungszonen, Meiden von Gebieten mit erhöhter seismischer Aktivität und erhöhten Hebungsraten, Meiden glazial übertiefter Felsrinnen, Festlegen von Sicherheitsabständen zu Rinnen und Störungen).

Für die Beurteilung der in der Frage aufgeführten Themenbereiche hat das ENSI in Etappe 1 des Sachplanverfahrens

  • umfassende Literaturrecherchen gemacht,
  • eigene Berechnungen durchgeführt, um die Angaben der Nagra nachzuvollziehen,
  • zusammen mit der damaligen KNE (heute EGT) öffentliche Seminare an der ETH zu aktuellen wissenschaftlichen Fragen der Themengebiete glazialer Tiefenerosion und Neotektonik/Erdbeben durchgeführt, um die Meinung breiter Fachkreise einzuholen und den Stand von Wissenschaft und Technik zu erfassen,
  • eigene Untersuchungen zu glazialer Tiefenerosion und langfristigem Klimawandel (über 10 000 Jahre hinaus) vorgenommen bzw. in Gang gesetzt, um zusätzliche Fragen zu klären,
  • externe Expertinnen und Experten beigezogen (KNE, swisstopo, Geologie- und Ingenieurbüros), um spezifische Fragestellungen zuhanden des ENSI beurteilen zu lassen.

Die im Sachplanverfahren festgehaltene Einengung möglicher Standortgebiete ist ein schrittweiser Prozess, welcher eine stufenweise Vertiefung der Kenntnisse und Sicherheitsbetrachtungen von Etappe 1 bis Etappe 3 vorsieht. Eine Gefährdungseinschätzung (einschliesslich der Naturgefahren unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens) erfolgt im Rahmen von standortspezifischen Sicherheitsanalysen, wie sie z. B. im Rahmen des HAA-Entsorgungsnachweises Projekt Opalinuston Zürcher Weinland anhand einer klar definierten Lagerarchitektur durchgeführt wurde oder jetzt in Etappe 2 (provisorische Sicherheitsanalyse gemäss ENSI 33/075) und dann in Etappe 3 (umfassende Sicherheitsanalyse gemäss ENSI-G03) gefordert werden. Für die Beurteilung der Langzeitsicherheit ist in Etappe 3 u.a. das gesamte Spektrum denkbarer geologischer Entwicklungen (sogenannte Szenarienanalyse, abgeleitet aus der erdgeschichtlichen Entwicklungsgeschichte) und der Einfluss von Ungewissheiten systematisch aufzuzeigen und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Langzeitsicherheit darzulegen. Dazu gehören auch die in dieser Frage aufgeführten Szenarien der möglichen Beeinträchtigung der Barrierenwirkung der Geosphäre durch Erdbeben oder glaziale Tiefenerosion.

Fazit:

Mit den im Sachplan formulierten sicherheitstechnischen Kriterien und den in der Richtlinie ENSI-G03 festgelegten Anforderungen an den Sicherheitsnachweis werden mögliche Auswirkungen von Naturgefahren auf die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers systematisch und umfassend erfasst.

Hinweis:

Im Rahmen des Technischen Forums Sicherheit wurden ähnliche Fragen bereits diskutiert und beantwortet. Zum Themenbereich Tektonik/Erdbeben/Geodynamik sind es die Fragen 10, 15, 16, 37, 44, 47 und 56, zum Thema glaziale Tiefenerosion die Fragen 27, 38 und 45. Zum letzten Thema fand ferner am 27. September 2010 eine Fachsitzung des Technischen Forums Sicherheit statt, deren Ergebnisse in einer Aktennotiz festgehalten sind (ENSI-AN-7411).


1 Für den Prozess der Standortwahl wurden im Sachplan vier Kriteriengruppen mit insgesamt 13 Kriterien hinsichtlich Sicherheit und technischer Machbarkeit festgelegt, welche in allen drei Etappen des Einengungsverfahrens zur Anwendung kommen. Die erste Kriteriengruppe bezieht sich auf die Barrierenwirkung des Wirtgesteins bzw. des einschlusswirksamen Gebirgsbereiches. Mit der zweiten Kriteriengruppe wird die Langzeitstabilität dieser Barrierenwirkung beurteilt. Dazu gehören die Beständigkeit der Standort- und Gesteinseigenschaften und die Erosionsdynamik. Auch das Verhalten gegenüber lagerbedingten Einflüssen, die das Barrierensystem schwächen könnten, ist zu berücksichtigen. Mit der dritten Kriteriengruppe wird die Zuverlässigkeit der geologischen Aussagen beurteilt. Die Zuverlässlichkeit bezieht sich zunächst auf die Erfassung der sicherheitsrelevanten Gesteinseigenschaften, dann aber auch auf die Explorierbarkeit der räumlichen Verhältnisse und auf die Prognostizierbarkeit der Langzeitveränderungen. Mit der vierten Kriteriengruppe muss schliesslich aufgezeigt werden, dass das geologische Tiefenlager sicher gebaut, betrieben und verschlossen werden kann. Im Rahmen von Etappe 1 SGT wurde aufgezeigt, welche geologischen Gebiete in der Schweiz die sicherheitstechnischen Kriterien erfüllen.

Beantwortet von KNS

a)

Ein fundamentaler Bestandteil des Sicherheitskonzepts eines Tiefenlagers ist das Multibarrieren-konzept, in welchem die geologische Barriere des Wirtgesteins eine wichtige Rolle spielt. Deshalb sollte die Funktionalität der geologischen Barriere eines Tiefenlagers auch unter Einbezug möglicher Auswirkungen von Naturgefahren über die relevanten Betrachtungszeiträume Bestand haben. Daneben dürfen auch in der Bau- und Betriebsphase eines Tiefenlagers durch die Einwirkung von Naturgefahren keine relevanten Einschränkungen der Sicherheit resultieren. In diesem Zusammenhang ist der Einfluss zumindest folgender Naturgefahren in Betracht zu ziehen:

Erdbeben

Erdbeben können zu Versatz im Gestein und zu hydraulisch wirksamen Wegsamkeiten im Wirtgestein und den Rahmengesteinen führen. Während der Bau- und Betriebsphase eines Tiefenlagers kann dies neben Stabilitätsproblem zur Gefährdung durch Wassereinbrüche führen, die – je nach Ausmass – die bereits bestehenden Lagerteile fluten könnten. In der Nachbetriebsphase können Wegsamkeiten im Wirtgestein und den Rahmengesteinen bevorzugte Fliess- und Transportpfade darstellen, welche durch die Verminderung der Barrierenwirkung entsprechend negative Auswirkungen auf die Langzeitsicherheit eines Tiefenlagers nach sich ziehen.

Aus genannten Gründen sollte einerseits die Problematik von unvorhergesehenen Wassereinbrüchen während der Bau- und Betriebsphase in der Planung eines Tiefenlagers adäquat berücksichtigt werden. Zum anderen sollten die Auswirkungen von hydraulisch wirksamen Wegsamkeiten, welche ein Tiefenlager schneiden, auf dessen Langzeitsicherheit untersucht und bewertet werden. Die Eingrenzung bzw. Präzisierung der möglichen seismischen Gefährdung eines Tiefenlagers wäre ebenfalls wünschenswert. In diesem Bereich besteht nach Ansicht der KNS noch Forschungsbedarf.

Vergletscherung

Eiszeiten mit einer Eisbedeckung der Nordwestschweiz können auch in Zukunft auftreten. Eine Vergletscherung wird sich vor allem nahe der heutigen Oberfläche auswirken. Bei einer zukünftigen Vergletscherung – vor allem wenn diese eine grössere Ausdehnung hat als die letzte – ist aber nicht auszuschliessen, dass in die Tiefe erodiert wird. Zu den gravierendsten möglichen Konsequenzen gehört die lineare Tiefenerosion. In deren Folge ist nicht auszuschliessen, dass die Barrierewirkung des Wirtgesteins und der oberen Rahmengesteine bis hin zur partiellen Freilegung des Lagers reduziert werden könnte.

Bezüglich der Gefährdung durch lineare Tiefenerosion hat die KNS ein neues Forschungsvorhaben zur Anwendung und Auswertung kosmogener Nuklide vorgeschlagen, mit welchem eine bessere Datierung der glazialen Erosionsereignisse in der Vergangenheit geben werden kann, und mit dessen Ergebnissen das Verständnis für die Prozesse und Abläufe, die zur Bildung einer übertieften glazialen Rinne führen, verbessert werden kann.

Tektonische Prozesse

Die zukünftige tektonische Entwicklung im Bereich der Nordwestschweiz ist mit Unsicherheiten behaftet, die eine Prognostizierbarkeit einer als wahrscheinlich einzustufenden Entwicklung insbesondere über lange Zeiträume hinweg erschwert. Da durch solche Prozesse negative Auswirkungen auf die Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers nicht ausgeschlossen werden können, sollte angestrebt werden, durch Forschung den Kenntnisstand in diesem Bereich zu vertieften. Als Beispiel für die Auswirkung tektonischer Prozesse ist die flächenhafter Erosion infolge grossräumiger Hebung zu nennen.

Die KNS erwartet, dass die zusätzlich durchgeführten seismischen Untersuchungen neue Erkenntnisse zur Tektonik in der Nordwestschweiz liefern.

b)

Der Frage des Gefährdungspotentials durch kerntechnischen Einrichtungen infolge von Naturgefahren wird aktuell in der öffentlichen Diskussion eine grosse Bedeutung zugemessen. Die KNS unterstützt das Anliegen, dieses Gefährdungspotential im Rahmen von fundierten Risikoanalysen nach Stand von Wissenschaft und Technik zu bewerten und wenn nötig Massnahmen zur Verringerung des Gefährdungspotenzials zu ergreifen. Bezüglich der Sicherheit von Tiefenlagern sieht die KNS ein eingeschränktes Spektrum an möglichen Konsequenzen aus der Einwirkung von Naturgefahren, welches zu berücksichtigen ist (siehe Antwort auf Frage a). Die KNS befürwortet weitere Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet, um die damit verbundenen Unsicherheiten weiter reduzieren zu können.

Beantwortet von EGT (ehem. KNE)

Einführung

Frage 70 fokussiert auf drei Typen von Naturgefahren, die die Fragestellerin als in den Langzeitszenarien nicht genügend berücksichtigt betrachtet und deshalb thematisiert wissen möchte. Die drei Typen sind die Naturgefahr „Erdbeben“, Naturgefahr „Veränderung des tektonischen Regimes“ und Naturgefahr „Eiszeiten und Tiefenerosion der Gletscher“. Die Frage bezieht sich darauf, wie mit „diesen unvorhersehbaren Ereignissen und Vorgängen“ über Zeiträume von 100 000 bis 1 000 000 Jahren in Bezug auf die Sicherheit von Tiefenlagerung umgegangen werden soll. Das Thema „Eiszeiten und Tiefenerosion der Gletscher“ wurde schon früher im Rahmen des TFS durch die KNE und im Rahmen von SGT-Fachtagungen an der ETH diskutiert (siehe Antworten zu Fragen 27, 38 und 45 und wird hier nicht weiter diskutiert. Die anderen zwei Themen sind Gegenstand der vorliegenden Antwort. Dabei geht es hauptsächlich um Frage a („Wie kann mit unvorhersehbaren Naturgefahren umgegangen werden?“) und weniger um die Beantwortung von Frage b („Wird genügend auf die unvorhersehbaren Naturgefahren geachtet? Weiss man genügend darüber?“). Wir geben weniger grundsätzliche methodische Antworten auf die gestellten Fragen (zum Umgang mit Naturgefahren), sondern wir versuchen, die heutigen Kenntnisse und Fragen zu Erdbeben und zur Veränderung des tektonischen Regimes im Betrachtungszeitraum von einer Million Jahren zu erläutern.

Naturgefahr: Erdbeben

Erdbeben und andere neotektonische Bewegungen können über eine Million Jahre nicht deterministisch vorausgesagt werden. Ein einzelnes Erdbeben kann überhaupt nicht vorausgesagt werden, sondern Häufigkeit und Stärke können nur auf statistische Weise angegeben werden. Die Erdbeben-Sicherheit für ein Tiefenlager einschließlich seiner Zugangsbauwerke kann für den Zeitraum des Baus, der Verfüllung und der Beobachtung (50 bis 100 Jahre) mit klassischen Verfahren analysiert und gewährleistet werden. Dazu sind die Methoden der seismischen Gefährdungsanalyse wie sie in der PEGASOS Studie für die Kernkraftwerke zur Anwendung kommen auf die Besonderheiten des Tiefenlagers anzupassen.

Der Nachweis der Langzeitsicherheit für die Nachverschlussphase ist schwieriger und erfordert neue Methoden und Untersuchungen. Die sehr lange zu betrachtende Zeit führt dazu, dass sich in diesem Zeitraum die Seismizität ändern kann, d.h. nicht stationär bleibt, sondern transient wird. Den entscheidenden Einfluss muss man dabei in der Belastung und Entlastung des Tiefenlagers und seiner Umgebung durch glaziale und postglaziale Prozesse sehen, und weniger in einer möglichen Veränderung des tektonischen Regimes. Der Einfluss von zukünftigen Gletschervorstössen und Rückzügen auf die hydrologischen und Spannungsverhältnisse im Untergrund und die sich dadurch verändernde Seismizität sollte quantitativ mit adäquaten Modellen der elastischen und nicht-elastischen Eigenschaften der Region analysiert werden (Wu et al. 1999, Lund & Näslund 2009).

Über die Untersuchung transienter Phänomene der Seismizität hinaus erfordert eine sehr lange Analysezeit die Entwicklung anderer Seismizitätsmodelle, als sie bisher für die Bewertung der Sicherheit der Kernkraftwerke (PEGASOS-Studie) benutzt werden. Die Zufallsverteilung von Erdbebenquellen in der gesamten Nordschweiz für alle Magnituden (Burkhard & Grünthal 2009) ist zu ersetzen durch ein gemischtes Modell, in dem zwar eine Hintergrundseismizität mit beliebiger räumlicher Verteilung für kleine Magnituden angenommen wird, die großen Ereignisse aber an den Störungen stattfinden, die sich im Laufe der langen geologischen Geschichte ausgebildet haben und dann je nach Spannungsfeld reaktiviert werden können.

Die Stollen des Tiefenlagers stellen während und nach der Verfüllung mechanische Inhomogenitäten innerhalb des Wirtgesteins dar. Die Sicherheit der Stollen bis zur Verfüllung ist Gegenstand der oben genannten probabilistischen Gefährdungsanalyse für den relativ kurzen Zeitraum, der die Verfüllung selbst und die Beobachtungsphase einschließt. Für die Langzeitbetrachtungen ist es wichtig, das mechanische Verhalten des Systems „verfüllte Stollen im Opalinuston“ bezüglich dynamischen und statischen mechanischen Belastungen zu verstehen, um maximal akzeptable, seismische Erschütterungen begleitende Deformationen festzulegen.

Ein Bruch durch den Opalinuston, der bei einer größeren Magnitude (M = 6) zu erwarten ist, führt zu einer Bruchlinie durch den Ton und die darunter und darüber liegenden Schichten, die einen Versatz von ca. 50 cm aufweist. Das Sicherheitskonzept sieht einen Mindestabstand von 200 m von großen tektonischen Störungen dieses Typs vor. Innerhalb dieser 200 m sollte die Deformation entlang von sekundären Bruchflächen auf Werte abfallen, die die Integrität des Lagers nicht beeinträchtigt. Ein Nachweis müsste untersuchen, welche Scherverformungen die Integrität der Behälter nicht beeinträchtigen und welche Auswirkungen die in solchen Entfernungen auftretenden Deformationen auf die Verfüllung und das Wirtgestein, insbesondere auf deren Durchlässigkeit haben. Entsprechende Untersuchungen (Fälth & Hökmark 2006) bestehen zum Beispiel für das geplante Tiefenlager in Forsmark (Schweden).

Die Wirksamkeit des 200 m grossen Sicherheitsabstandes hängt von der Annahme ab, dass große Erdbeben nur an heute bekannten Störungen auftreten können. Ein Beben mit M = 6, dessen Bruchfläche direkt durch die verfüllten Stollen verläuft, würde vermutlich zeitweilig – bis der Opalinuston wieder abgedichtet ist – die Barrierenwirkung des Wirtsgesteins signifikant herabsetzen. Es kann heute davon ausgegangen werden, dass solche grossen Brüche mit detaillierten seismischen Erkundungen detektiert werden und dass diesen bei der Lokalisierung und Auslegung des Tiefenlagers ausgewichen werden kann.

Schlussfolgerungen

Ohne transiente Effekte ist die Wahrscheinlichkeit eines Bebens M > 6, in der Nähe eines Tiefenlagers, in 100 000 bis 1 000 000 Jahren sehr groß, wenn man annimmt, dass die Beben räumlich zufällig verteilt sind. Große Beben finden aber an vorhandenen Störungen statt, sodass die Annahme der Zufälligkeit, wie sie der PEGASOS-Studie zugrunde lag, zugunsten eines deterministischen regionalgeologischen Modells aufgegeben werden sollte. Ein solches Modell muss aber noch wissenschaftlich fundiert werden. Die transienten Effekte glazialer und post-glazialer hydrologischer und effektiver Spannungsänderungen sind quantitativ mit dem vorhandenen Störungsinventar zu analysieren. Die Wirkung eines großen Bruchs (Verstellung um mehr als 50 cm) durch den Opalinuston in 200 m Entfernung muss quantitativ verstanden werden. Dazu liefern die entsprechenden schwedischen Untersuchungen zu einem Tiefenlager in Forsmark bereits methodische Ansätze.

Die bisherigen Sicherheitsanalysen (Entsorgungsnachweis und SGT Etappe 1) behandeln das Erdbebenszenario nur sehr pauschal und verknüpfen es nicht mit Berechnungen zur Radionuklidausbreitung oder der Wahrscheinlichkeit einer entsprechenden seismischen Dislokation im Lagerbereich.

Naturgefahr: Veränderung des tektonischen Regimes

Die heutige regionale Verteilung von Erdbeben und grossen Brüchen in der Nordschweiz ist ein Teilaspekt des tektonischen Regimes, bedingt durch die Nähe der alpinen Gebirgskette und des Rheingrabens. „Tektonik“ bezeichnet hier die grossräumige Struktur der Erdkruste und die daraus abgeleiteten grossräumigen Prozesse (z.B. Plattenbewegungen, Isostasie, Bruchbildung, Faltung, usw., auf regionalem Massstab). Der Begriff wird manchmal auch für kleinräumigere Erscheinungen angewendet (z.B. die „Tektonik“ von einzelnen Standortgebieten). „Tektonisches Regime“ bezeichnet typische Kombinationen von krustalen Strukturen und Prozessen, die sich immer wieder, in verschiedenen Regionen und Epochen, in der geologischen Geschichte der Erde abgespielt haben. Das tektonische Regime der Nordschweiz ist durch das Kollisionsregime der Alpen und das Extensionsregime des Rhein-Bresse-Grabensystems (Pfiffner et al. 1997, Pfiffner 2009) charakterisiert.

Der Begriff „Neotektonik“ bezeichnet tektonische Erscheinungen, die auf sehr junge Bewegungen hinweisen, die bis in die Gegenwart aktiv sein können, aber nicht von dynamischen Phänomenen (messbare Hebung/Senkung, Seismizität, usw.) begleitet sein müssen (z.B. Madritsch et al. 2010, Bauve et al. 2012). Der Begriff „rezente Tektonik“ wird für Krustenbewegungen der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit benutzt, die mittels der Analyse von dynamischen Daten (aus der Seismologie, Geodäsie, usw.) bestimmt wurden. Man spricht auch von „aktiver Tektonik“ oder auf grösserem Massstab von „Geodynamik“ (z.B. Becker 2000, Kastrup et al. 2004, Burkhard & Grünthal 2009). Diese Nomenklatur nutzend, spricht man oft von einem „tektonischen Szenario“ für die zukünftige tektonische (geodynamische) Entwicklung eines Gebiets oder einer Region (im Kontext einer Sicherheitsanalyse eines Standortgebietes, z.B. Müller et al. 2002, vergl. Milnes 2004). Die Fragestellerin vermutet, dass die Gefahr besteht, dass sich das heutige tektonische Regime der Nordschweiz über den Zeitraum einer Million Jahren grundlegend ändern oder wieder aktiv werden könnte.

Änderungen im tektonischen Regime mit der Zeit sind zwar eine geologische Tatsache, aber solche Veränderungen ereignen sich sehr langsam. Über den Zeitraum von einer Million Jahren ändert sich auf plattentektonischer Zeitskala quasi nichts, insbesondere in Regionen, die weit weg von aktiven Plattenrändern liegen. Eine signifikante Veränderung des tektonischen Regimes wird darum im Betrachtungszeitraum (100 000 bis 1 000 000 Jahren) nicht stattfinden. Deshalb ist es zulässig, ein tektonisches Szenario für die Nordschweiz auf Grund unserer Kenntnisse der heutigen Verhältnisse zu konstruieren. Das Charakteristikum dieses Szenarios ist die Lage der Nordschweiz am äussersten Rand der alpinen Kollisionszone in einem (noch nicht ganz abgeschlossenen) Endstadium des alpinen Gebirgsbildungsprozesses, ausserhalb des unmittelbaren Einflussbereiches des Rheingrabens, welcher sich ebenfalls in einem (noch nicht ganz abgeschlossenen) geologischen Endstadium der Grabenbildung befindet. Endstadium bedeutet dabei, dass die Annahme einer Fortsetzung der heutigen tektonischen und geodynamischen Verhältnisse eine konservative Annahme ist. Realistischer ist die Prognose, dass sich die tektonische Aktivität eher weiter abschwächt.

Schlussfolgerungen

Obwohl eine eindeutige Prognose über 1 Million Jahre nicht gemacht werden kann, zeigen die geowissenschaftlichen Daten, dass dieser Zeitraum sehr kurz ist im Vergleich zu den bekannten Geschwindigkeiten von tektonischen Prozessen wie Gebirgsbildung (Alpen) und Grabenbildung (Rhein-Bresse). Solche tektonischen Regimes bleiben über sehr lange Zeiträume bestehen (Alpen ca. 100 Ma, Rhein-Bresse ca. 30 Ma) und klingen sehr langsam aus. Wir befinden uns zurzeit in der Ausklingphase dieser zwei tektonischen Systeme und eine Reaktivierung oder das plötzliche Eintreten eines neuen, davon abweichenden tektonischen Regimes in so kurzer Zeit (1 Million Jahre) ist nicht vorstellbar. Deshalb sollte nach Ansicht der EGT die „Veränderung des tektonischen Regimes“, in Bezug auf die Langzeitsicherheit eines HAA-Lagers, nicht als Naturgefahr eingestuft werden. Trotzdem gibt es noch etliches zu tun, bevor die heutige Geodynamik der Nordschweiz und der bevorzugten Standortgebiete so gut bekannt ist, dass sie als Basis einer quantitativen Szenarienanalyse verwendet werden kann. Die folgenden Themen sollten weiter verfolgt werden, bevor ein belastbares „Tektonisches Szenario Nordschweiz“ entworfen werden kann:

  • die Neotektonik und Kinematik der Nordschweiz, insbesondere des Tafeljuras und der Vorfaltenzone
  • die regionalen und lokalen Spannungsfelder und ihre Bedeutung für die Interpretation von Erdbeben-Herdflächenlösungen und Bruchreaktivierung
  • die Beziehung zwischen Krustenbewegung, Bruchbildung und Erdbeben, besonders in Zusammenhang mit einer zukünftigen Eiszeit

Alle hier diskutierten Fragen beziehen sich auf die gesamte Region der Nordschweiz. Ihre Beantwortung liefert daher kein Auswahlkriterium für Standorte in dieser Region.

Referenzen

Bauve, V., Rolland, Y., Sanchez, G., Giannerini, G., Schreiber, D., Corsini, M., Perez, J.-L., Romangy, A., 2012. Pliocene to Quaternary deformation in the Var Basin (Nice, SE France) and its interpretation in terms of „slow-active“ faulting. Swiss Journal of Geosciences, 105, 361-376.

Becker, A., 2000. The Jura Mountains – an active foreland fold-and-thrust belt? Tectonophysics, 321, 381-406.

Burkhard, M., Grünthal, G., 2009. Seismic source zone characterization for the seismic hazard assessment project PEGASOS by the Expert Group 2 (EG 1b). Swiss Journal of Geosciences, 102, 149-188.

Fälth, B., Hökmark, H., 2006. Seismically induced slip on rock fractures. Results from dynamic discrete fracture modelling. Swedish Nuclear Fuel and Waste Management Company (SKB), Rapport R-06-48.

Kastrup, U., Zoback, M.L., Deichmann, N., Evans, K.F., Giardini, D., Michael, A.J., 2004. Stress field variations in the Swissd Alps and the northern Alpine foreland from inversion of fault plane solutions. Journal of Geophysical Research, 109, B01402, doi:10.1029/2003JB002550.

Lund, B., Näslund, J.-O., 2009. Glacial isostatic adjustment: Implications for glacially induced faulting and nuclear waste repositories. In Volcanic and Tectonic Hazard Assessment for Nuclear Facilities (C. Connor, N. Chapman, and L. Connor, Eds.). Cambridge University Press, Cambridge (UK), 142-155.

Madritsch, H., Preusser, F., Fabbri, O., Bichet, V., Schlunegger, F., Schmid, S.M., 2010. Late Quaternary folding in the Jura Mountains: evidence from syn-erosional deformation of fluvial meanders. Terra Nova, 22, 147-154.

Milnes, A.G., 2004. Review comments on Nagra Technical Report NTB 99-08 „Geologische Entwicklung der Nordschweiz, Neotektonik und Langzeitszenarien Zürcher Weinland“. Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen, Expert Report HSK 35/96.

Müller, W.H., Naef, H., Graf, H.R., 2002. Geologische Entwicklung der Nordschweiz, Neotektonik und Langzeitszenarien Zürcher Weinland. Nagra Technischer Bericht NTB 99-08.

Pfiffner, O.A., 2009. Geologie der Alpen. Haupt Verlag (Bern, Stuttgart, Wien), pp. 359.

Pfiffner, O.A., Lehner, P., Heitzmann, P., Mueller, S., Steck, A. (eds.), 1997. Deep Structure of the Alps. Birkhäuser Verlag (Basel, etc.), pp. 380.

Wu, P., Johnston, P., Lambeck, K., 1999. Postglacial rebound and fault instability in Fennoscandia. Geophysical Journal International, 139, 657–670.