Technisches Forum Kernkraftwerke

Frage 2: Anforderungen an Sicherheit

Im Gegensatz zum deutschen Atomrecht sieht das Schweizer Kernenergierecht keine Restlaufzeiten für die bestehenden Kernkraftwerke (KKW) vor. Schweizer KKW können so lange betrieben werden, wie sie nach dem geltenden Regelwerk als sicher gelten. Das ENSI kann eine Außerbetriebnahme eines KKW nur verfügen, wenn eine unmittelbare Gefährdung für die nukleare Sicherheit besteht (11.4170 – Interpellation von Nationalrat Eric Nussbaumer „Sicherheitstechnische Lebensdauer von Kernkraftwerken“). Im Auftrag des Umweltministeriums Baden-Württemberg hat das Öko-Institut ein Gutachten erstellt, das für die grenznahen Kernkraftwerke Beznau (CH) und Fessenheim (F) eine Bewertung der Ergebnisse des EU-Stresstests vornahm. Für das KKW Beznau wurde in dem Gutachten aufgezeigt, dass diese Altanlage geringere Sicherheits-reserven und ein geringeres Robustheitsniveau gegenüber den in Deutschland am Netz verbliebenen – neueren – KKW aufweist. Während es in der Verordnung des UVEK über Außerbe-triebnahmekriterien für KKW vom 16. April 2008 normativ eindeutige Kriterien für die Alterungsschäden an KKW gibt, ist das konzeptionelle Altern von Altanlagen nicht derart eindeutig geregelt.

  1. Anhand welcher fachlichen Kriterien beurteilt das ENSI das konzeptionelle Altern von Altanlagen?
  2. Welche Abstriche am Sicherheitsniveau sind nach der Praxis des ENSI gegenüber dem Niveau von Neuanlagen hinnehmbar, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik heute genehmigt werden.
  3. Welche Sicherheitsreserven und welches Robustheitsniveau müssen die Altanlagen für den Weiterbetrieb aufweisen?
  4. Wird dem Vorsorgegebot rechtlich noch ausreichend Rechnung getragen, wenn die Außerbetriebnahme eines KKW nur bei einer unmittelbaren Gefährdung der Sicherheit möglich ist?
Thema , Bereich
Eingegangen am 23. Januar 2013 Fragende Instanz Landkreis Waldshut
Status beantwortet
Beantwortet am 12. September 2013 Beantwortet von

Beantwortet von ENSI

Die Vorgehensweise des Ökoinstituts konzentrierte sich auf die Robustheit der fest installierten Systeme zur Erfüllung von Sicherheitsfunktionen. Aus Sicht des ENSI sind im Gutachten die technischen Merkmale der fest installierten Sicherheitssysteme der Anlage Beznau überwiegend richtig dargestellt und die Bewertungsergebnisse im Sinne eines Vergleichs zu spezifisch deutschen Sicherheitsanforderungen im Wesentlichen korrekt. Die Ergebnisse des Vergleichs ergaben für das ENSI jedoch keine neuen Erkenntnisse. Dem Kritikpunkt der fehlenden Erfüllung des Instandhaltungskriteriums nach deutschen Vorgaben ist entgegenzuhalten, dass bei schweizerischen Kernkraftwerken keine Instandhaltung während des Betriebs durchgeführt werden darf, falls das Instandhaltungskriterium nicht erfüllt ist. Somit muss die Instandhaltung in den Störfallanalysen auch nicht unterstellt werden.

Zudem berücksichtigt das Gutachten des Ökoinstituts die im Kernkraftwerk Beznau implementierten umfangreichen Massnahmen des vorbeugenden und mitigativen Accident Managements nur in reduziertem Umfang. Damit wird die Ebene 4 des gestaffelten Sicherheitskonzepts nicht ausreichend berücksichtigt. Während die deutschen Sicherheitsvorgaben sich bis vor kurzem auf die Sicherheitsausrüstungen der Sicherheitsebene 3 des gestaffelten Sicherheitskonzepts konzentrierten, fordern die Schweizer Sicherheitsregeln schon seit langem von den Werken ein hohes Niveau auf allen Sicherheitsebenen.

Das Gutachten des Ökoinstituts vermittelt damit kein vollständiges Bild der Widerstandsfähigkeit des Kernkraftwerks Beznau gegen auslegungsüberschreitende Störfälle.

Zu den einzelnen Fragen nimmt das ENSI wie folgt Stellung: Fragen 1 und 2: Generell sind die Betreiber der Schweizer KKW gemäss Art. 22 Bst. g KEG verpflichtet, die Anlage soweit nachzurüsten, als dies nach der Erfahrung und dem Stand der Nachrüsttechnik notwendig ist, und darüber hinaus, soweit dies zu einer weiteren Verminderung der Gefährdung beiträgt und angemessen ist.

Trotz der zur Kompensation der ursprünglichen Auslegungsschwächen durchgeführten Ertüchtigungs- und Ersatzmassnahmen verfügt ein 40-jähriges Kernkraftwerk nicht über alle Auslegungsmerkmale eines Kernkraftwerks der neuesten Generation. Die Unterschiede betreffen typischerweise:

  • den Redundanzgrad, die funktionale Unabhängigkeit und räumliche Trennung von Sicherheitssträngen;
  • den Automatisierungsgrad der Sicherheitssysteme;
  • die Erdbeben- und Flugzeugabsturzsicherheit; sowie
  • die Vorsorge gegen auslegungsüberschreitende Störfälle.

Die Beurteilung der konzeptionellen Alterung erfolgt üblicherweise im Rahmen der alle 10 Jahre durchzuführenden periodischen Sicherheitsüberprüfung (https://www.ensi.ch/de/2012/06/04/periodische-sicherheitsueberpruefung-von-kernkraftwerken/) oder im Rahmen des Langzeitbetriebsnachweises (https://www.ensi.ch/de/2012/12/20/sicherheitdes- betriebs-uber-40-jahre-muss-nachgewiesen-werden/), den jedes KKW vor Ablauf der 40-jährigen Betriebsdauer einreichen muss. Sie beinhaltet die Überprüfung der Frage ob ein Kernkraftwerk mindestens auf den Stand der Nachrüsttechnik gebracht wurde. Dabei geht das ENSI in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt wird überprüft, ob die in der Gesetzgebung konkretisierten Anforderungen an ein neues KKW erfüllt sind. Diese Anforderungen sind auf gesetzlicher Ebene wie auch in Regelwerken des ENSI festgelegt.

Falls dies nicht der Fall ist, wird im zweiten Schritt überprüft, ob die Nachrüstungen umgesetzt wurden, die in mehreren westlichen Ländern in KKW gleichen Typs durchgeführt wurden. Falls es hier Defizite geben sollte, werden entsprechende Nachrüstungen gefordert. Inwieweit die verbleibenden Unterschiede zu den Anforderungen an ein neues Kernkraftwerk vertretbar sind, wird aufgrund der Ergebnisse der probabilistischen Sicherheitsanalyse beurteilt.

Das ENSI richtet sich somit bei seiner Beurteilung grundsätzlich an den Anforderungen für Neuanlagen aus. Die Bewertung der Umsetzung der nuklearen Auslegungsgrundsätze (Konservativität, Redundanz, Diversität, funktionale und räumliche Trennung) erfolgt jedoch pragmatisch im Hinblick auf die Angemessenheit einer allfälligen Massnahme.

Auch bei den rechnerischen Sicherheitsnachweisen werden Abweichungen zu den Anforderungen an Neuanlagen zugelassen. So wird in Einzelfällen eine Nachweisführung mit realistischen statt konservativen Anfangs- und Randbedingungen akzeptiert. Auch Handeingriffe von Operateuren innerhalb der ersten dreissig Minuten dürfen in Einzelfällen unterstellt werden. Zudem ist für bestehende Kernkraftwerke kein Vollschutz gegen Flugzeugabsturz nachzuweisen. Frage 3: Die Beurteilung der Sicherheitsreserven und des Robustheitsniveau von KKW im Hinblick auf einen Betrieb über 40 Jahre hinaus erfolgt im Rahmen der Langzeitbetriebsnachweises. Darin ist insbesondere aufzuzeigen, dass die Auslegungsgrenzen der sicherheitstechnisch relevanten Anlageteile auch in einer verlängerten Betriebsdauer nicht erreicht werden. Konkret fordert das ENSI die Erneuerung der zeitlich befristeten Nachweise für die folgenden schwer austauschbaren Grosskomponenten:

  • Werkstoffzustand des Reaktordruckbehälters
  • Integrität des Reaktordruckbehälters
  • Integrität der Kerneinbauten
  • Ermüdungssicherheit von Behältern und Rohrleitungen
  • Integrität des Nuklearen Dampferzeugungssystems
  • Integrität der Stahldruckschale des Containments
  • Integrität der Betonhülle des Containments

Alle Nachweise sind gemäss dem Stand von Wissenschaft und Technik für den auf 20 zusätzliche Betriebsjahre prognostizierten Materialzustand zu führen. Dabei ist aufzuzeigen, dass die Auslegungsgrenzen der sicherheitstechnisch relevanten Anlageteile und insbesondere auch die Ausserbetriebnahmekriterien zur Primärkreislauf- und Containmentintegrität in der verlängerten Betriebsdauer nicht erreicht werden.

Zudem wird der Sicherheitsstatus des KKW mit deterministischen und probabilistischen Sicherheitsanalysen überprüft. Hierbei wird insbesondere untersucht, ob die wirksame und zuverlässige Beherrschung der Auslegungsstörfälle und ausgesuchter auslegungsüberschreitender Störfälle gewährleistet ist und die Anlage ein ausreichendes Sicherheitsniveau und ein ausgewogenes Risikoprofil aufweist. Mit den deterministischen Störfallanalysen ist nachzuweisen, dass die auf gesetzlicher Ebene festgelegten Kriterien für den Schutz gegen Auslegungsstörfälle eingehalten werden. Der Nachweis der Einhaltung dieser Kriterien ist unter Berücksichtigung der jeweils aktuellsten Gefährdungsannahmen zu führen.

Für die Beurteilung des Sicherheitsstatus aus probabilistischer Sicht sind folgende Kriterien festgelegt:

  • Die Kernschadenshäufigkeit für bestehende Kernkraftwerke soll kleiner als 10E-4 pro Jahr sein. Falls die CDF grösser als 10E-5 pro Jahr ist, sind Massnahmen zur Reduzierung des Risikos zu identifizieren und sofern angemessen umzusetzen.
  • Falls die Häufigkeit früher grosser Freisetzungen im Leistungsbetrieb grösser als 10E-6 pro Jahr ist, sind Massnahmen zur Reduzierung des Risikos zu identifizieren und sofern angemessen umzusetzen.
  • Falls die Brennstoffschadenshäufigkeit (ein Risikomass für die Bewertung der Betriebszustände Stillstand und Schwachlast) grösser als 10E-5 pro Jahr ist, sind Massnahmen zur Reduzierung des Risikos zu identifizieren und sofern angemessen umzusetzen.

Angemessen sind Massnahmen, die verhältnismässig sind. Die Verhältnismässigkeit ist in der Schweizer Verfassung verankert. Damit eine Massnahme verhältnismässig ist, muss sie geeignet sein, das im öffentlichen Interesse liegende Ziel zu erreichen. Eine Massnahme darf zudem nicht über das Erforderliche hinausgehen. Und schliesslich ist eine Verwaltungsmassnahme nur gerechtfertigt, wenn ein vernünftiges Verhältnis zwischen dem angestrebten Ziel und der Belastung für den Privaten gewahrt wird. Die Beurteilung der Angemessenheit einer Massnahme erfolgt im Einzelfall unter Abwägung von insbesondere folgenden Kriterien: Sicherheitsgewinn, Sicherheitsniveau vor Massnahmenumsetzung, Aufwand, Umsetzungsrisiken, realisierungsbedingte Strahlenbelastung für das Personal.

Frage 4: Das Kernenergiegesetz vom 21. März 2003 (KEG, SR 732.1) sieht keine gesetzliche Laufzeitbeschränkung für bestehende Kernkraftwerke vor. In der Schweiz darf ein Kernkraftwerk betrieben werden, solange es sicher ist. Dem Vorsorgegebot wird über eine ganze Reihe von im Folgenden näher ausgeführten Abschalt- bzw. Ausserbetriebnahmegründen Rechnung getragen:

  • Abschaltkriterien der Technischen Spezifikation und des Kraftwerksreglements: Gemäss Art. 22 Abs. 2 Bst. a KEG muss der Bewilligungsinhaber der nuklearen Sicherheit stets den gebotenen Vorrang beim Betrieb einräumen und die vorgegebenen betrieblichen Grenzen und Bedingungen einhalten. Die zulässigen Betriebsbedingungen und Sicherheitsgrenzen sind in der Technischen Spezifikation und im Kraftwerksreglement genau festgelegt. Gemäss Art. 43 KEV muss der Bewilligungsinhaber das Kernkraftwerk abschalten, wenn eines dieser Abschaltkriterien erreicht wird. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, ordnet das ENSI umgehend die Abschaltung des Kernkraftwerks an.
  • Ausserbetriebnahmekriterien: Gestützt auf Art. 22 Abs. 3 KEG hat der Bundesrat in Art. 44 KEV die Kriterien festgelegt, bei deren Erreichen der Bewilligungsinhaber einen Kernreaktor vorläufig ausser Betrieb nehmen und nachrüsten muss. Kommt der Bewilligungsinhaber dieser Pflicht nicht nach, ordnet das ENSI die vorläufige Ausserbetriebnahme an.
  • Unmittelbare Gefahr: Gemäss Art. 72 KEG ordnen die Aufsichtsbehörden alle zur Einhaltung der nuklearen Sicherheit notwendigen und verhältnismässigen Massnahmen an (Abs. 2); droht eine unmittelbare Gefahr, so können sie umgehend Massnahmen anordnen, die von der erteilten Bewilligung abweichen (Abs. 3). Der gesetzlichen Regelung lässt sich entnehmen, dass die Aufsichtsbehörden grundsätzlich an den durch die Bewilligung gesteckten Rahmen gebunden sind. Abweichungen von einer erteilten Bewilligung, etwa das Untersagen des Weiterbetriebs, dürfen sie nur ausnahmsweise anordnen, wenn unmittelbare Gefahr droht. Angesprochen sind somit Fälle, in denen sofortiges Handeln geboten ist und eine Änderung (bzw. ein Entzug) der Bewilligung im hierfür vorgesehenen Verfahren nicht abgewartet werden kann.
  • Entzug der Betriebsbewilligung (Nichterfüllen der Bewilligungsvoraussetzungen): Ein Kernkraftwerk darf nur so lange betrieben werden, als es über eine gültige Betriebsbewilligung verfügt. Gemäss Art. 67 Abs. 1 KEG wird die Bewilligung entzogen, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung nicht oder nicht mehr erfüllt sind oder wenn der Bewilligungsinhaber eine Auflage oder eine verfügte Massnahme trotz Mahnung nicht erfüllt. Zuständig für den Entzug ist die Bewilligungsbehörde (UVEK). Soweit das ENSI im Rahmen der laufenden Aufsicht Kenntnis von Sachverhalten erlangt, die einen Entzug der Betriebsbewilligung zur Folge haben können, informiert es umgehend das UVEK, damit dieses die erforderlichen Schritte in die Wege leitet.
  • Ausserordentliche Lagen: Gemäss Art. 25 KEG kann der Bundesrat in ausserordentlichen Lagen das vorsorgliche Abstellen von Kernkraftwerken anordnen. Diese Regelung ist auf kriegerische oder machtpolitische Bedrohungslagen zugeschnitten