Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle: Der Umgang mit Ungewissheiten im Sicherheitsnachweis

Die Nagra wird voraussichtlich 2024 beim Bund ein Rahmenbewilligungsgesuch für ein Tiefenlager einreichen. Anschliessend wird das ENSI den dazugehörigen Sicherheitsbericht prüfen. Die Beurteilung der verbleibenden Ungewissheiten in den Daten und im Prozessverständnis ist für das ENSI zentral.

Das Kernenergiegesetz schreibt vor, dass radioaktive Abfälle in der Schweiz in geologischen Tiefenlagern entsorgt werden. Die Suche nach einem geeigneten Standortgebiet ist im Sachplan geologische Tiefenlager geregelt. Voraussichtlich 2024 wird die Nationale Genossenschaft für die Entsorgung radioaktiver Abfälle (Nagra) beim Bund ein Rahmenbewilligungsgesuch für ein Tiefenlager einreichen. Zwei Dokumente des Gesuchs sind für die Sicherheitsbeurteilung des ENSI zentral: erstens der Bericht, mit dem die Standortwahl begründet wird, und zweitens der Sicherheitsbericht samt Sicherheitsnachweis für den gewählten Standort. Die gesetzlichen Vorgaben und das Regelwerk des ENSI sehen vor, dass die geologische Eignung des Standorts durch Daten und Verständnis der ablaufenden Vorgänge nachgewiesen wird.

Ann-Kathrin Leuz orientierte bei einem internationalen Workshop der Nuclear Energy Agency (siehe erster Klapptext) über die systematische Untersuchung der Ungewissheiten. Sie leitet die Sektion Tiefenlagerung und Sicherheitsanalysen beim ENSI. Bild: Ludivine Gilli/NEA

Die Eignung des Standortes für ein Tiefenlager muss durch erdwissenschaftliche Untersuchungen bestätigt und für die Rahmenbewilligung ein hinreichender Kenntnisstand über die sicherheitsrelevanten Elemente, Eigenschaften, Ereignisse und Prozesse vorhanden sein: Im Sachplan sind 13 sicherheitstechnische Kriterien festgehalten. Anhand dieser Kriterien wird die Eignung des Standorts beurteilt.

Ungewissheiten mit der Auslegung des Tiefenlagers minimieren

Das Tiefenlagersystem ist gegenüber dem Einfluss von Unsicherheiten robust auszulegen: Die Wahl eines geeigneten Wirtgesteins und seiner Rahmengesteine sorgen bereits dafür, dass allfällige Dosen für die Bevölkerung weit unterhalb des Schutzkriteriums für die Nachverschlussphase (0,1 mSv pro Jahr) liegen. Aber auch mit der Auslegung des Tiefenlagers kann die gesamte Unsicherheit des Tiefenlagersystems minimiert werden. Beispielsweise durch einen grösseren Abstand zwischen den Endlagerbehältern für hochradioaktive Abfälle. Damit wird die Temperatur im Umfeld des Tiefenlagers reduziert und Wechselwirkungen im Wirtgestein werden entsprechend schwächer.

Ungewissheiten durch systematische Analyse reduzieren

Unter dem Dach der Nuclear Energy Agency fand unter Teilnahme des ENSI, des Bundesamts für Energie und der Nagra (u.a.) der Workshop «Building Confidence in the Face of Uncertainty: The Role of the Safety Case» statt. Bild: Ludivine Gilli/NEA

In der Aufsichtspraxis werden die Entscheide bei der Projektierung und Realisierung des Tiefenlagers unter Einbezug von Ungewissheiten in Daten, Prozessen, Modellkonzepten und auch sehr unwahrscheinlichen Entwicklungsszenarien auf ihre Sicherheitsrelevanz geprüft. Um die Robustheit der Wirkung des Barrierensystems aufzuzeigen, werden demnach auch Entwicklungen betrachtet, die wenig wahrscheinlich oder sogar rein hypothetisch («What if»-Fälle) sind.

Gemäss den Vorgaben der Richtlinie ENSI-G03 und den Vorgaben für Etappe 3 haben die Sicherheitsanalysen für den Standortvergleich und den Sicherheitsnachweis für Tiefenlager mindestens die folgenden Aspekte zu umfassen: erstens eine systematische Analyse der vorhandenen Ungewissheiten in den Daten, Prozessen und Modellen und zweitens die Berechnung des daraus folgenden Variationsbereichs der Radionuklidfreisetzung beziehungsweise Dosen. Die Aussagen im Standortvergleich und im Sicherheitsnachweis müssen auch unter Berücksichtigung der bestehenden Variabilität und Unsicherheiten gültig sein.

Bestimmung der berechneten Dosisbandbreiten aufgrund angenommener Unsicherheiten in den Daten für die untersuchten Standortgebiete in Etappe 2. Die Auswahl wurde in den ersten beiden Etappen des Sachplanverfahrens auf die drei rechts abgebildeten Standortgebiete Nördlich Lägern (NL), Zürich Nordost (ZNO) und Jura Ost (JO) reduziert. Die Resultate zeigen, dass die berechneten Dosen trotz den angenommenen Unsicherheiten rund 100 Mal kleiner als das Schutzkriterium von 0.1 mSv/Jahr sind. (Siehe auch sicherheitstechnisches Gutachten ENSI 33/540). Zum Vergleich: Die durchschnittliche jährliche Dosis der Schweizer Bevölkerung umfasst gemäss Bundesamt für Gesundheit 6 mSv.

Sicherheitsnachweis: Ungewissheiten müssen im Sicherheitsbericht ausgewiesen werden

Wie mit Ungewissheiten umgegangen wird, ist auch Bestandteil des Sicherheitsnachweises. Insbesondere die Robustheit des Tiefenlagers und seiner Umgebung sowie die Unempfindlichkeit gegenüber einer Vielzahl möglicher Entwicklungsszenarien müssen aufgezeigt werden. Darauf hat das ENSI bei der Prüfung ein besonderes Augenmerk. Ziel ist es, die Ungewissheiten aufzuzeigen, ihren möglichen Einfluss auf die Sicherheit zu bewerten und so weit notwendig zu reduzieren.

Der Sicherheitsbericht ist das zentrale Dokument für den Sicherheitsnachweis in den Bewilligungsverfahren. Er ist eine Grundlage für den Entscheid zum Rahmenbewilligungsgesuch. Im Sicherheitsbericht wird das Tiefenlagerprojekt beschrieben und er beinhaltet den Nachweis für die Betriebs- und Langzeitsicherheit. Darin wird insbesondere die sicherheitstechnische Relevanz von bestehenden Ungewissheiten ausgewiesen.

Das ENSI im Dialog – NEA-Workshop «Building Confidence in the Face of Uncertainty: The Role of the Safety Case»

Ein internationaler Workshop am 18. und 19. Mai 2022 in Bern widmete sich der Bedeutung des Sicherheitsnachweises bei der Realisierung von geologischen Tiefenlagern und damit der Frage, wie mit den Ungewissheiten umgegangen werden soll: «Building Confidence in the Face of Uncertainty: The Role of the Safety Case». Hinter dem Workshop stehen zwei Gremien der Nuclear Energy Agency (NEA): einerseits das technische Beratungsorgan der NEA zur Entsorgung radioaktiver Abfälle in geologischen Tiefenlagern, der Integration Group for the Safety Case (IGSC), andererseits das NEA-Fachorgan für partizipative Methoden, mit denen die Öffentlichkeit in die Entsorgung einbezogen wird, das Forum on Stakeholder Confidence (FSC).

Gastgeber des Treffens in Bern waren neben dem ENSI das Bundesamt für Energie und die Nagra. Das ENSI machte bei der Veranstaltung unter anderem Ausführungen zur Bedeutung der systematischen Bewertung von Ungewissheiten bzw. Unsicherheiten in der Datenlage und im Prozessverständnis und wie man von dieser für die weiteren Schritte der Realisierung eines Tiefenlagers lernen kann.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten die Bedeutung des Sicherheitsnachweises bei der Realisierung von geologischen Tiefenlagern und die Frage, wie mit Ungewissheiten umgegangen werden soll. Bild: Bundesamt f¨ür Energie

Die systematische Untersuchung des Einflusses der Ungewissheiten auf die Langzeitsicherheit dient dazu, die Gültigkeit der Aussagen zur Langzeitsicherheit zu stärken, den zukünftigen Forschungsbedarf aufzuzeigen und die Auslegung des geologischen Tiefenlagers zu optimieren. Sensitivitäts- und Unsicherheitsanalysen geben wertvolle Hinweise auf eventuell notwendige weitere Untersuchungen und Methodenentwicklungen, um die bestehenden Unsicherheiten der Eingabewerte und Modelle zu reduzieren.

Unsicherheiten durch Forschung reduzieren

Für die Realisierung eines Tiefenlagers müssen offene sicherheitsrelevante Fragen umfassend geklärt werden. Aufschluss über die noch notwendige Forschung und Datenerhebung gibt der Bericht zum Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsprogramm der Entsorgungspflichtigen. Der sogenannte RD&D-Bericht (Research, Development and Demonstration) der Nagra wird vom ENSI geprüft und muss mindestens alle fünf Jahre aktualisiert werden.

Das ENSI betreibt und unterstützt seinerseits im Bereich Entsorgung regulatorische Sicherheitsforschung – Projekte, die es ermöglichen, potenzielle Problembereiche zu erkennen, mögliche Verbesserungen zu erarbeiten, Unsicherheiten zu verringern und Verfahren zu optimieren. Die Forschungsprojekte liefern Grundlagen und Hilfsmittel, etwa Simulationsprogramme für Sicherheitsanalysen, die das ENSI zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt.

Beispiele der regulatorischen Sicherheitsforschung im Bereich der Entsorgung

Ermüdungs- und Kriecheigenschaften des Hüllrohrmaterials

Die in Leichtwasserreaktoren zum Einsatz kommenden Brennstab-Hüllrohre werden in der Regel aus einer Zirkonium-Legierung gefertigt. Die Auswirkungen von im Hüllrohrmaterial vorhandenem Wasserstoff sind durch Forschungsarbeiten auf dessen Ermüdungs- und Kriecheigenschaften zu untersuchen.

Weil ein geologisches Tiefenlager erst in einigen Jahrzehnten zur Verfügung stehen wird, gerät die trockene Langzeit-Zwischenlagerung immer weiter in den Fokus der Aufsicht. Das Forschungsprojekt NEA SMILE soll dabei helfen, Prognosen über das Verhalten von Brennelementen in Transport- und Lagerbehältern zu treffen. Eine weitere Erforschung der Kriech- und Ermüdungseigenschaften von bestrahlten Hüllrohren (Projekt NEA FIDES) ist daher eine logische Konsequenz. Die Forschungsarbeiten dienen dazu, Ausmass und Auswirkungen auf die Ermüdungs- und Kriecheigenschaften zu bewerten, um Aussagen über die Hüllrohrintegrität bei der Langzeit-Trockenlagerung abgebrannter Brennelemente treffen zu können.

Untersuchungen liefern eine exzellente Wissensbasis, was den Zustand der Brennelemente vor der trockenen Zwischenlagerung anbelangt. Dieses Wissen ist vonnöten, um die Einhaltung der heute gültigen Sicherheitskriterien für die Zwischenlagerung unabhängig zu überprüfen und Sicherheitsmargen im Hinblick auf mögliche Schadensmechanismen abzuschätzen. Relevant sind diese Arbeiten ebenfalls zur Untersuchung möglicher Auswirkungen der verlängerten Zwischenlagerung bis zur Inbetriebnahme des geologischen Tiefenlagers.

Eigenschaften des Wirtgesteins – Experimente im Felslabor Mont Terri

Das Felslabor Mont Terri in St.Ursanne (Kanton Jura) hat für das schweizerische Entsorgungsprogramm eine zentrale Bedeutung. Die dort durchgeführten Experimente liefern wichtige Grundlagen zu den Eigenschaften des Opalinustons und damit für die Beurteilung der Sicherheit und bautechnischen Machbarkeit eines geologischen Tiefenlagers in diesem Wirtgestein. Sie ermöglichen wichtige Erkenntnisse zur Gesteinsbeschaffenheit, zur Felsmechanik, zur Hydrogeologie und Geochemie sowie zum Einschlussvermögen eines tonreichen Wirtgesteins.

Projekt DECOVALEX – Gekoppelte thermische, hydraulische, mechanische und chemische Prozesse

Das Projekt DECOVALEX ist eine internationale Forschungskooperation, die vom Lawrence Berkeley National Laboratory koordiniert wird. Sie soll das Verständnis für gekoppelte thermische, hydraulische, mechanische und chemische Prozesse in geologischen Systemen vertiefen und die Fähigkeit zur numerischen Modellierung dieser Prozesse verbessern. DECOVALEX steht für «DEvelopment of COupled models and their VALidation against EXperiments in nuclear waste isolation». Das Projekt hat entscheidend dazu beigetragen, Rechenprogramme zur numerischen Modellierung gekoppelter Prozesse zu entwickeln, zu verbessern und anzuwenden. An dem Projekt sind Entsorgungspflichtige für radioaktive Abfälle, Aufsichtsbehörden sowie Forschungseinrichtungen aus verschiedenen Ländern Europas, Asiens und Amerikas beteiligt.

Das ENSI wird sich mit den thermisch-hydraulisch-mechanisch gekoppelten Prozessen im Nahbereich der Tiefenlagerbehälter für hochaktive Abfälle vertieft auseinandersetzen, um allfällige sicherheitsrelevante Prozesse besser zu verstehen und um die Bedeutung der Unsicherheiten beurteilen zu können.

Die Projekte der ENSI-Forschung zum Tiefenlager behandeln somit die Eigenschaften der relevanten Gesteine, die Auslegung und Überwachung eines Tiefenlagers und die Prozesse, welche die Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers längerfristig beeinträchtigen können.