Technisches Forum Sicherheit

Frage 152: Risiken ionisierender Strahlung im Niedrigdosisbereich

Was ist der aktuelle Stand der Forschung zum Themenbereich gesundheitliche Effekte bei Menschen, die langfristig schwachen ionisierenden Strahlungen ausgesetzt sind?

Thema Bereich
Eingegangen am 19. November 2020 Fragende Instanz FG Si NL
Status beantwortet
Beantwortet am 25. März 2021 Beantwortet von

Beantwortet von ENSI

Der Bundesrat hat am 2. März 2018 vom Bericht zum «Kenntnisstand betreffend Risiken ionisierender Strahlung im Niedrigdosisbereich» in Erfüllung des Postulats Fehr 08.3475 Kenntnis genommen. Der Bericht gelangt zum Schluss, dass die neusten Studien die Anwendung des linearen Modells ohne Schwellenwert als Basis für den Strahlenschutz in der Schweiz stützen. Nach diesem Modell erhöht jede Exposition mit ionisierender Strahlung, selbst bei niedrigen Dosen, das Risiko für Krebs oder Erbkrankheiten linear.

Niedrige Dosen ionisierender Strahlung ergeben sich aus Expositionen, die entweder natürlichen Ursprungs sind oder aus der üblichen Verwendung von Röntgenstrahlen und Radioaktivität im Nuklearbereich, in der Industrie und in der Medizin hervorgehen. Sie betreffen somit bestimmte Berufsgruppen, die Bevölkerung wie auch Patientinnen und Patienten.

Dieser Bericht bestätigt, dass die aktuelle Risikoeinschätzung, auf der die Strahlenschutzgesetzgebung aufgebaut ist, auf einer soliden Grundlage beruht. Die Schweizer Bevölkerung ist somit wirksam vor den schädlichen Folgen von Strahlung geschützt.

Die geologische Tiefenlagerung gewährleistet den gesetzlich geforderten Schutz von Mensch und Umwelt.

Die Resultate internationaler Studien stützen die Anwendbarkeit des im Strahlenschutz angewendeten linearen Ansatzes für Risiken im Niedrigdosisbereich.

Jährliche radiologische Belastung der Schweizer Bevölkerung

Das BAG macht zur mittleren natürlichen radiologische Belastung der Schweizer Bevölkerung folgende Aussagen (BAG: Strahlenschutz und Überwachung der Radioaktivität in der Schweiz – Ergebnisse 2017, Broschüre Bundesamt für Gesundheit, 2018): Die Strahlenexposition der Bevölkerung wird aus den Strahlendosen natürlicher und künstlicher Strahlungsquellen ermittelt. Die drei wichtigsten Ursachen sind das Radon in Wohnungen, die medizinische Diagnostik sowie die natürliche Strahlung. Die durchschnittliche „Radondosis“ für die Schweizer Bevölkerung beträgt heute etwa 3,2 mSv pro Jahr. Die Radonbelastung der Bevölkerung ist nicht einheitlich. Die Dosis aufgrund medizinischer Anwendungen (Diagnostik) beträgt auf die gesamte Bevölkerung umgerechnet 1,4 mSv pro Jahr pro Person.

Die Dosis aufgrund der terrestrischen Strahlung (d. h. Strahlung aus Boden und Fels) macht im Mittel 0,35 mSv pro Jahr aus und hängt davon ab, wie der Untergrund zusammensetzt ist. Die Dosis durch kosmische Strahlung beträgt im Mittel etwa 0,4 mSv pro Jahr. Radionuklide gelangen auch über die Nahrung in den menschlichen Körper und führen zu Dosen von rund 0,35 mSv. Zu den bisher erwähnten Strahlendosen kommt ein geringer Beitrag von maximal 0,1 mSv pro Jahr aus den Strahlenexpositionen durch Kernkraftwerke, Industrie, Forschung, Medizin, Konsumgüter und Gegenstände des täglichen Lebens sowie künstliche Radioisotope in der Umwelt.

Zusammen beträgt die durchschnittliche Strahlenexposition der Schweizer Bevölkerung heute also 5,8 mSv pro Jahr.

Radiologische Auswirkungen der geologischen Tiefenlagerung

Gemäss der Richtlinie ENSI-G03 darf keine zukünftige Entwicklung eines Tiefenlagers zu einer Individualdosis grösser als 0,1 mSv pro Jahr führen.  Ein geologisches Tiefenlager ist gemäss den Vorgaben der IAEA so auszulegen, dass das resultierende strahleninduzierte Krebsmortalitätsrisiko beziehungsweise das Risiko für ernsthafte strahleninduzierte vererbbare Effekte 10-5 pro Jahr nicht übersteigt. Die radiologischen Auswirkungen eines Tiefenlagers betragen gemäss den Vorgaben des ENSI maximal nur rund ein 1/50 der jährlichen mittleren Strahlendosis der Schweizer Bevölkerung. Mit der geologischen Tiefenlagerung werden radioaktive Abfälle so entsorgt, dass der Schutz von Mensch und Umwelt vor deren ionisierender Strahlung dauerhaft gewährleistet ist.

Bericht «Kenntnisstand betreffend Risiken ionisierender Strahlung im Niedrigdosisbereich»

Der Bericht des Bundesrats «Kenntnisstand betreffend Risiken ionisierender Strahlung im Niedrigdosisbereich» vom 2. März 2018 macht zu einigen im TFS diskutierten Punkten folgende Aussagen:

  • Schätzung des Krebsrisikos auf der Grundlage epidemiologischer Studien

Im Niedrigdosisbereich unterhalb von 100 mSv sind die im Rahmen der Life Span Study (LSS)[1] gemessenen Wirkungen nicht signifikant, vielleicht wegen einer zu geringen Aussagekraft dieser Studie. Die Risikofaktoren hängen vom Alter zum Zeitpunkt der Exposition, vom erreichten Alter und vom Geschlecht ab. Die neueste und wichtigste Studie über Arbeiter in Kernkraftwerken, die 300’000 Menschen in Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA umfasst (INWORKS-Studie), weist ein Krebsrisiko bei Niedrigdosen nach (< 100 mSv), bestätigt die Ergebnisse der LSS und stützt die Hypothese einer linearen Dosis-Risiko-Beziehung.

  • Verursachung von Erbschäden

Beim Menschen wurde bisher keine vererbte Wirkung der Strahlung nachgewiesen. Weil aber die Belastung mit ionisierender Strahlung auch bei Keimzellen Mutationen verursacht, wie dies bei Tierversuchen belegt wurde, und weil Mutationen in den Keimzellen vererbbare Auswirkungen haben können, lässt sich die logische Schlussfolgerung ziehen, dass die Strahlenbelastung der Geschlechtsdrüsen beim Menschen zu vererbbaren Schäden führen kann. Da keine Daten aus epidemiologischen Studien zu Erbschäden vorliegen, stützt sich die Bestimmung der Häufigkeit von Erbschäden auf Daten aus Versuchen bei Tieren, hauptsächlich bei Mäusen, und auf die Übertragung dieser Information auf den Menschen. Die entsprechenden Modelle für die Bedürfnisse des Strahlenschutzes werden in Anhang A der ICRP-Publikation 103 beschrieben.

  • Empfindlichkeit von Kindern/Jugendlichen und Föten/Embryonen gegenüber einer Krebsinduktion durch Strahlung

Ein systematischer Überblick über die Empfindlichkeit junger Personen (Kleinkinder, Kinder und Jugendliche) wird in Anhang B des 2013 veröffentlichten UNSCEAR-Berichts vermittelt (UNSCEAR 2013). Diese Analyse zeigt, dass das Verhältnis der Empfindlichkeit junger Personen zur Empfindlichkeit der Gesamtbevölkerung bei etwa 2 bis 3 liegt.

Die Empfindlichkeit von Fötus/Embryo gegenüber der Krebsinduktion wurde bei medizinischen Bestrahlungen der Gebärmutter in utero untersucht (Rajaraman 2011). Diese Studie war mit beträchtlichen Unsicherheiten verbunden. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass das Risiko einer Krebsinduktion bei einer Bestrahlung in utero gleich gross ist wie mit der Strahlenbelastung bei einem Kleinkind, also in der Grössenordnung von 3 Mal höher als bei der Gesamtbevölkerung.

  • Verursachung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Für ein mechanistisches Modell zur Erklärung von Strahlenwirkungen auf das Herz wird eine Schädigung durch mikrovaskuläre Veränderungen vorgeschlagen. Bei der Autopsie junger verstorbener Patienten, deren Herz einer Dosis in der Grössenordnung von 35 Sv ausgesetzt war, wurde die Bildung von fasrigem Bindegewebe festgestellt.

Zusammenfassend zeigen einige Studien, einschliesslich der LSS, das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Dosen unter einigen Sv. Da bisher aber keine Mechanismen bekannt sind, die für diese Wirkung verantwortlich sein könnten, verzichten UNSCEAR und ICRP gegenwärtig darauf, diese Auswirkungen in der Schätzung der Risiken schwacher Dosen zu berücksichtigen.

  • Veränderungen des Geschlechterverhältnisses bei der Geburt

In einem kürzlich erschienen Artikel (Scherb 2011) wurde ein Zusammenhang zwischen dem Verhältnis der Anzahl Knaben zur Anzahl Mädchen bei der Geburt (Geschlechterverhältnis) und einer Strahlenexposition vermutet. Die Autoren stellten eine relative Erhöhung der Anzahl Knaben nach der Exposition der Bevölkerung der nördlichen Hemisphäre mit radioaktiven Niederschlägen aufgrund von Atomtests in der Atmosphäre in den 60er-Jahren fest. Eine vergleichbare Erhöhung beobachteten sie auch in der Bevölkerung Europas nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, sowie in der Wohnbevölkerung in der Umgebung von Kernkraftwerken in der Schweiz und Deutschland.

Der Bericht verweist zu diesem Thema auch auf die Stellungnahme der Eidgenössische Kommission für Strahlenschutz (KSR 2011), welche zu folgendem Fazit kommt:

„Zusammenfassend ist die KSR der Meinung, dass kein Beweis dafür erbracht wurde, dass das Geschlechterverhältnis durch ionisierende Strahlung verändert wird. Die Schlussfolgerungen von Scherb und Voigt sind nicht überzeugend und liefern keine zwingenden Argumente dafür, dass die von internationalen Organisationen wie ICRP oder UNSCEAR publizierten Einschätzungen des Risikos angezweifelt werden müssten. Die Schlussfolgerungen der Studie sind deshalb für das Schweizer Gesundheitswesen nicht beunruhigend. Zur Verbesserung unseres Verständnisses der genetischen Auswirkungen ionisierender Strahlung empfiehlt die KSR, statt der Finanzierung einer weiteren Studie zum Geschlechterverhältnis besser Forschungsgebiete wie die Radiobiologie zu unterstützen, die zielgerichteter sind und eine wesentlich grössere Aussagekraft haben.“

Risiko eines tödlichen Unfalls

Der Fragesteller wünschte sich einen Vergleich zum Risiko eines tödlichen Unfalls. Gemäss der Unfallstatistik UVG 2020 der Suva hat sich das Risiko, an den Folgen eines Berufsunfalles zu sterben, in den letzten Jahren bei 2 bis 3 Fällen je 100’000 Vollbeschäftigte eingependelt (Figur 152-1). In der NBUV nimmt das Todesfallrisiko weiter ab und liegt im Jahr 2012 erstmals bei unter 10 Todesfällen je 100’000 Vollbeschäftigte. Nach wie vor ereignen sich rund vier Mal so viele tödliche Unfälle in der Freizeit wie im Beruf.

Figur 152-1: Todesfälle je 100’000 Vollbeschäftigte in der Berufsunfallversicherung (BUV) und der Nichtberufsunfallversicherung (NBUV) (Quelle: Unfallstatistik UVG 2020).
Figur 152-1: Todesfälle je 100’000 Vollbeschäftigte in der Berufsunfallversicherung (BUV) und der Nichtberufsunfallversicherung (NBUV) (Quelle: Unfallstatistik UVG 2020).

[1] Die von der Radiation Effects Research Foundation (RERF) durchgeführte LSS Studie (Life Span Study) über die Überlebenden der Bombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki, ist die wichtigste Studie, mit der sich das Krebsinduktionsrisiko am besten abschätzen lässt.

Referenzen

UNSCEAR (2013): Rapport 2013 du Comité scientifique des Nations unies pour l’étude des effets des rayonnements ionisants, Annexe B : Effects of radiation exposure of children. Nations unies, New York, NY. http://www.unscear.org/docs/publications/2013/UNSCEAR_2013_Annex-B.pdf

Rajaraman P et al. (2011): Early life exposure to diagnostic radiation and ultrasound scans and risk of childhood cancer: case–control study. BMJ, 342:d472. http://www.bmj.com/content/bmj/342/bmj.d472.full.pdf

Scherb H. and Voigt K. (2011): The human sex odds at birth after the atmospheric atomic bomb tests, after Chernobyl, and in the vicinity of nuclear facilities, Environ Sci Pollut Res 18:697–707.doi 10.1007/s11356‐011‐0462‐z. https://link.springer.com/article/10.1007/s11356-011-0462-z

KSR (2011): Stellungnahme der KSR/CPR zur Publikation von Scherb und Voigt über einen möglichen Zusammenhang zwischen Strahlung und Geschlechterverhältnis. https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/str/kommission-strahlenschutz/stellungnahmen-strahlenschutz/2011-11-04-stellungnahme-publikation-scherb-voigt-geschlechter-strahlung.pdf.download.pdf/2011-11-04-stellungnahme-publikation-scherb-voigt-geschlechter-strahlung.pdf

Suva: Unfallstatistik UVG 2020, ISSN 1424-5132 (deutsch). https://www.suva.ch/de‑CH/material/Dokumentationen/unfallstatistik-uvg-ssuv-2020