Antwort (KKL/KKM):
Einleitung:
Die Beantwortung der Frage 19 wurde am 25.09.2015 von den KKW Leibstadt und Mühleberg als Wiederholung des prinzipiell ähnlichen Fragekomplexes 9 (Füllstandsmessungen Reaktordruckbehälter) vom 7. Mai 2013 und 10 (Leck in der Umwälzschleife) vom 7. Mai 2013 dem TFK darstellt. Der Referent macht zu Anfang des Vortrages klar, dass das KKL und KKM für eine künftige Wiederholung dieses Themas (ohne explizit neue Sachlage) nicht mehr zur Verfügung stehen.
Die in Frage 19 von Herrn Füglister (Kampagnenforum) unterstellte „Überheblichkeit“ des KKW-Referenten gegenüber den japanischen Betreibern in Bezug auf den Verlauf des Fukushima-Unfalls 2011 deutet auf ein gewisses Miss- und Falschverständnis zu den Abläufen und dem Unfallhergang in Fukushima hin.
Ablauf Unfall Fukushima:
Zur wiederholten Beantwortung ist der aktuelle, zusammenfassende Fukushima-Bericht der IAEA vom August 2015 heran gezogen worden. Dieser Bericht unterstützt alle bisher von den Schweizer KKW dargelegten Fakten zur Nichtanwendbarkeit der Füllstandsmessung (FSM) in Fukushima sowie die gültigen schweizerischen Severe Accident-Vorgehensweisen in Siedewasserreaktoren für den Fall eines ähnlich schweren, auslegungsüberschreitenden Unfalls, wie er in Fukushima passierte. Dementsprechend kommt die neuerliche Antwort zu keinen anderen Ergebnissen als die früheren Beantwortungen.
Es wird betont, dass weder eine korrekte noch eine inkorrekt anzeigende FSM in Fukushima Daiichi Block 1, 2 und 3 einen vor- oder nachteiligen Einfluss auf den Unfallablauf und auf die Entscheidungsprozesse der Schichtmannschaft ausgeübt hatte. Der wesentliche Grund lag in einem mangelhaft gestalteten Defense-in-Depth-(DiD)-Konzept. Dabei stach die mangelhafte Schutz- und Barrierewirkung der Gebäude gegen Überflutung hervor, die in der Folge für die Systeme auf der Sicherheitsebene 3 der gestaffelten Sicherheitsvorsorge das Gesamtversagen der AC- und DC- Stromversorgung nach sich zog. Weiterhin wurden bei Block 1 auf dieser Sicherheitsebene bereits vor dem Tsunami verschiedene Fehlleistungen begangen: z.B. wurde der essentiell wichtige Isolationskondensator zu einem frühen Zeitpunkt irreversibel ausgeschaltet. Obschon die Unabhängigkeit der Sicherheitsebenen ein wichtiges Postulat im DID-Konzept darstellt, ist es eine einfache Erkenntnis, dass auf der vorgelagerten Ebene 3 nicht zu viele Sicherheitselemente verloren gegangen sein dürfen, damit die Vorkehrungen auf der Sicherheitsebene 4 noch funktionieren können.
In der nicht ausreichend sicherheitstechnisch nachgerüsteten Anlage Fukushima Daiichi waren aber zu viele Systeme und sonstige Vorkehrungen auf Sicherheitsebene 3 und 4 (SE 3 und 4) nach Erdbeben und Tsunami nicht mehr verfügbar oder von vorn herein gar nicht vorhanden gewesen. Die FSM hatte während des Unfallablaufes weder einen positiven noch einen negativen Einfluss auf die Betriebsschicht ausgeübt. Auch ist dem neuen IAEA-Bericht „The Fukushima Daiichi Accident“ http://www-pub.iaea.org/books/IAEABooks/10962/The-Fukushima-Daiichi-Accident nicht zu entnehmen, dass die Schicht durch irgendwelche FSM-Zwischenablesungen während des Unfallablaufes zu „falschen“ Schlussfolgerungen geleitet worden war – oder zumindest zeitweilig in die Irre geführt worden wäre und damit „falsche“ Entscheidungen zustande gekommen wären. Tatsache ist, dass die Schichten aufgrund des maximalen Ausfalls aller wichtigen Versorgungssysteme auf SE3 und aufgrund einer defizitären Ausrüstung und ungenügenden Notfallpraxis auf der SE4 a und b keine effektive Möglichkeit mehr hatten, irgendetwas „falsch zu interpretieren“ oder etwas „falsch zu entscheiden“. Unter Massgabe der stark reduzierten Möglichkeiten hatten die Betriebsschichten während des Unfallablaufes alles Erdenkliche probiert, was die Situation überhaupt zuliess. Sie hatten mit diesen wenigen Möglichkeiten und deren schnellen Reduktion während der Unfallprogression kaum eine reelle Chance den Unfall ohne Kernschmelzen zu beenden.
Die Richtigkeit obiger FSM-Argumentation wird in diesem Zusammenhang vorallem durch den zeitlichen Ablauf und die spezifischen Bedingungen bei Fukushima Block 2 und Block 3 unterstützt. So hatte die FSM-Instrumentierung selbst bei den Aktivitäten während der wesentlich längeren kernschadensfreien Phasen bei den Unfallabläufen der Fukushima Blöcke 2 und 3 (verglichen mit Block 1) keine Rolle gespielt. Bei diesen beiden Anlageblöcken konnte mittels RCIC-Umlaufkühlung zwischen RDB und Containmenttorus ein Kernschaden noch viele Stunden verzögert werden. So trat der Kernschaden bei Block 2 erst ca. 65 h und bei Block 3 ca. 30 h nach der 2. Tsunamiwelle ein.
Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass in Block 3 die DC-Versorgung nicht verloren ging. Somit war die FSM-Instrumentierung in einer Zeitspanne von sicherlich 15 -20 std. unter den Temperaturverhältnissen im Containment des Blocks 3 noch mit korrekter Anzeige im Kommandoraum vorhanden. Selbst diese „Zeitreserve“ half der Schicht nicht bei der Bewältigung des Unfalles, da eine rechtzeitige und dauerhafte Druckreduzierung der RDB (von Block 2 und 3) über die Öffnung der Sicherheitsabblaseventile (SRV) – trotz vorhandenen DC Stroms – zum Zweck der alternativen Niederdruckeinspeisung bis zum Zeitpunkt des Kernschmelzens nicht gelang. Dies belegt nochmals eindrücklich, dass die FSM keinen Einfluss auf den Ablauf des Unfalls hatte.[1]
Der RDB- Druck von rund 70 bar war erst nach dem Schmelzvorgangs, vermutlich aufgrund des Durchbruchs der 3 Kernschmelzen durch die untere RDB-Kalotte markant gesunken.
Vorgehensweise in den Schweizer Siedewasserreaktoren:
Im Folgenden wird deshalb noch einmal die Vorgehensweise am Beispiel des KKL bei einem Auslegungsstörfall und einem auslegungsüberschreitenden Unfall dargestellt. Diese Vorgehensweise gilt unter Anwendung anderer technischer Begriffe prinzipiell auch so im KKM.
Dabei werden die zutreffenden symptomorientierten Störfallanweisungen (SFA) und Accident Manangement Anweisungen (AM) konsequent Punkt für Punkt abgearbeitet, bis der Störfall schliesslich beherrscht (Schutzziel 1- 3 erreicht) resp. massgeblich gelindert ist (übergeordnetes Schutzziel 4 erreicht). Jeder Operateur weiss dabei aus seiner Ausbildung und der Simulatorschulung, dass er sich im fortgeschrittenen Verlauf eines schweren auslegungsüberschreitenden Unfalles prinzipiell nicht mehr auf FSM- Anzeigen verlassen darf, da es bei hohen Containment-Temperaturen zu Verdampfungserscheinungen in der FSM-Berohrung kommt. Dies bestätigte auch der Unfallablauf von Fukushima.
Die Containment-Temperaturwerte, ab welchem eine FSM-Anzeige als ausgefallen (weil bereits im verbotenen Bereich) zu bewerten ist, sind den Operateuren innerhalb der betreffenden Störfallanweisung ausdrücklich ersichtlich. Für einen solchen FSM-Ausfall gibt die Störfallanweisung nur noch den Weg des „Niederdruck Reaktorflutens“ nach dem Öffnen einzelner Sicherheitsabblase-Ventile (SRVs) vor, bei dem der Reaktor bis hoch zu den Frischdampfleitungen (dies ist eine von mehreren alternativen diversitären Möglichkeiten den Füllstand des RDB zu bestimmen) gefüllt wird.
Falls die Versorgung des gesamten Wechselstroms ausgefallen ist (T-SBO), und somit eine ND-Einspeisung durch interne Noteinspeisesysteme (incl. des Notstandssystems SEHR (KKL) nicht möglich ist, wird auf die SFA/AM-Anweisung „Station Black Out“ gewechselt. Dadurch erhält die Schichtmannschaft klare Vorgaben, wie (1) mittels des restdampf-getriebenen RCIC als Hochdruckeinspeisesystem Kaltkondensat in den Reaktor eingespeist wird, und (2) dem Öffnen eines oder max. zweier SRV über mehrere Stunden der RDB-Druck soweit abgesenkt ist, dass das Reaktorniveau stets oberhalb der Kernoberkante gehalten bleibt. Während dessen wird durch die Notfallmannschaft eine alternative ND-Einspeisung (KKL: Feuerwehrlöschfahrzeug, Kühlturmtasse, Grundwasserbrunnen, Rhein) auf der Basis weiterer SFA/AM vorbereitet. Zeitlich parallel dazu wird die Notfallmannschaft mittels einer spezifischen SFA/AM die sofortige Bereitstellung der externen SAM Diesel initiieren, um den Ladungserhalt der sicherheitsrelevanten Gleichstromversorgung (Batterien) zu gewährleisten.
Zusammenfassung:
Die Befürchtung einer Belastung der Schichtmannschaft während eines Unfalls durch falsche oder nicht interpretierbare Anzeigen der FSM mit potentiell nachfolgendem Fehlentscheid ist in den Schweizer Siedewasserreaktoren unbegründet. Die Beherrschung schwerer Unfallszenarien resp. deren Linderungsmassnahmen geschehen nicht auf der Basis von FSM-Ablesungen, sondern gehen vielmehr von einem Ausfall der betreffenden Instrumentierungen während des Unfallablaufes aus. Genau derart ist auch das Schichtpersonal geschult und sind die Störfall-/Notfallanweisungen gestaltet. Bei kritischen Containment-T-Verhältnissen wird deshalb sicherheitsgerichtet immer auf die SFA/AM Flutung des Reaktors und/oder des Containments übergegangen.
[1] Einfügung: Anlässlich eines eintägigen Treffens einer Delegation des japanischen Sicherheitsinstitutes JANSI (Japan Nuclear Safety Institute) am 09. Oktober 2015 mit Vertretern des KKL wurde das Thema FSM in Fukushima am Rande der Tagung mit den japanischen Sachverständigen diskutiert. Die oben gelieferte FSM-Argumentation von KKM und KKL wurde dabei von den japanischen Spezialisten in allen Punkten für zutreffend beurteilt.