Technisches Forum Kernkraftwerke

Frage 28: Betriebliche Flexibilität und Netzregelung bei Schweizer Atomkraftwerken

Atomkraftwerke produzieren Bandenergie und laufen grundsätzlich im Grundlastbetrieb – also mit einer konstanten Energieproduktion. In Deutschland werden einzelne Reaktoren flexibel gefahren, um auf die Netzlastschwankungen reagieren zu können (Lastfolgebetrieb). Im Rahmen des TFK möchten wir die aktuelle Situation in der Schweiz diskutieren (Adressat der Frage in Klammern):

1. In welchen Bereichen können die Schweizer Reaktoren zur Netzregelung beitragen (in erster Linie aus technischer Sicht)? (Betreiber)
a. Primärregelung?
b. Sekundärregelung?
c. Tertiärregelung?

2. Ich welchem Leistungsbereich ist eine Regelung grundsätzlich möglich (Anteil Nennleistung) bzw. in welcher Zeitspanne? (Betreiber)
3. Was sind die technischen Voraussetzungen für den Lastfolgebetrieb? Unterscheiden sich da Siede- und Druckwassereaktoren? (ENSI)
4. Sind diese Voraussetzungen bei den Schweizer Reaktoren erfüllt? Sind sie auf einen flexiblen Betrieb ausgelegt? Sind entsprechende Anpassungen geplant, um diese Voraussetzungen zu erfüllen? (ENSI, Betreiber)
5. Wie wird der Einfluss eines Lastfolgebetriebs auf die Komponenten beurteilt (z. B. Ermüdung, Spannung)? (ENSI, Betreiber)
6. Die Lastdiagramme von Gösgen bzw. Leibstadt (Beispiel 2014) weisen Unterschiede auf. Während bei Gösgen die Leistung konstant bleibt, ist das Muster bei Leibstadt unregelmässig mit kleinen Leistungsschwankungen. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? (KKG, KKL)

Gösgen (Geschäftsbericht 2014)

KKG

Leibstadt (Geschäftsbericht 2013)

KKL

Thema Bereich
Eingegangen am 8. Juli 2016 Fragende Instanz Florian Kasser
Status beantwortet
Beantwortet am 15. März 2017 Beantwortet von | , , ,

Beantwortet von Kernkraftwerk Gösgen | Kernkraftwerk Leibstadt

Grundlagen: Grundlast- oder Lastfolgebetrieb

Generell können sowohl Druckwasserreaktoren (DWR) als auch Siedewasserreaktoren für einen Lastfolgebetrieb projektiert und eingesetzt werden. Wie Kernkraftwerke in einem elektrischen Verbundsystem eingesetzt werden, hängt von den Planungsvorgaben zum Zeitpunkt der Bestellung resp. Projektierung der jeweiligen Kernkraftwerke und damit letztlich vom Geschäftsmodell des Kraftwerksbetreibers ab. So werden z. B. in Frankreich seit langem die DWR im Lastfolgebetrieb eingesetzt, was dort aufgrund des hohen Beitrags der Kernenergie zur Stromerzeugung ein technisches Erfordernis ist. In Deutschland werden seit dem Entscheid über die Beendigung des Betriebs der Kernkraftwerke einige DWR ebenfalls im Lastfolgebetrieb eingesetzt.

Aus verfahrens- und sicherheitstechnischer Sicht ist für Druckwasserreaktoren wie beim KKG ein Lastfolgebetrieb innerhalb bestimmter Grenzen möglich. Die Reaktoranlage des KKG ist eine Exportversion eines KWU-DWR, dessen Auslegung seinerzeit bei der Planung an die erhöhten sicherheitstechnischen Anforderungen in der Schweiz angepasst wurde. Das grundlegende Blockregelkonzept wurde aber nicht verändert. Die KWU-Reaktoranlagen wurden in den Siebzigerjahren für einen Einsatz im Mittellastbetrieb und verfahrenstechnisch für einen Lastfolgebetrieb ausgelegt. Der Grund hierfür war, dass ursprünglich in Deutschland von der Regierung Brandt (SPD) geplant war, ca. 50 GW elektrische Leistung in Kernkraftwerken zu installieren (Bau von 40 bis 50 Reaktoranlagen). Aufgrund des in diesem Fall sehr hohen Anteils der Kernenergie an der Stromerzeugung wäre ein Lastfolgebetrieb der Anlagen zu einem technischen Erfordernis geworden [1]. Das Teillastdiagramm des KKG zeigt, dass auch hier ein möglicher Einsatz im Mittellastbereich in der Projektierung berücksichtigt worden ist.

Entsprechend dem stationären Teillastdiagramm wird die Kühlmittel-Temperatur im Leistungsbereich zwischen 100% und 60% konstant gehalten. Dies führt zu einem praktisch konstanten Kühlmittelvolumen im Reaktorkühlkreislauf in diesem Leistungsbereich und damit zu einer guten Regelbarkeit der Reaktorleistung, da keine grösseren Volumenänderungen kompensiert werden müssen (kleines Druckhaltervolumen). Ein Leistungsbetrieb mit reduzierter Leistung bis auf ein Niveau von ca. 60% der Nennleistung war also im Auslegungskonzept vorgesehen. Die atomrechtliche Bewilligung für den Betrieb des KKG gestattet einen Betrieb der Anlage auch bei Leistungen unterhalb der Nominalleistung [2].

Naturgemäss müssen die Regelungseinrichtungen der Anlage (Turbinen- und Reaktorleistungsregelung) in einer konkreten Reaktoranalage so ausgeführt sein, dass die verfahrenstechnisch zulässigen Laständerungsgeschwindigkeiten auch technisch realisiert werden können.

Entsprechend diesen Anforderungen wurden für KWU-DWR-Anlagen Regelungskonzepte entwickelt und die wünschenswerten Laständerungsgeschwindigkeiten, wie in Abbildung 2 dargestellt, nachgewiesen.

Die Schweizer Kernkraftwerke wurden zu einem Zeitpunkt errichtet, wo das Geschäftsmodell der Betreiber der Kraftwerke (in Personalunion zugleich die Netzbetreiber) primär eine Kombination von Grundlastkraftwerken für Bandenergie in Kombination mit Wasserkraft und Spitzenlastkraftwerken für Spitzenlast vorgesehen hat. Für die Grundlastversorgung wurden Kernkraftwerke vorgesehen. Für die Bereitstellung von Energie im Regelbereich waren kleinere zuschaltbare Laufkraftwerke und für Spitzenlasten zusätzlich Pumpspeicherwerke vorgesehen, wobei die für die Speicherung der benötigten Wasserreserven benötigte Pumpleistung durch die im Grundlastbetrieb laufenden Kernkraftwerke sichergestellt wurde. Die Ausnutzung der Preisdifferenz zwischen der für die Pumpleistung benötigten Menge an Elektroenergie, die zu Zeiten eines niedrigen Leistungsbedarfs bereitgestellt wurde, und dem Verkaufspreis von Elektroenergie zu Spitzenlastzeiten war ein wesentliches Element des Geschäftsmodells der Eigentümer der Kernkraftwerke und Netzbetreiber in der Schweiz. Demenentsprechend erfolgte die Auslegung des KKG insbesondere der Regelsysteme ohne Berücksichtigung eines automatischen Lastfolgebetriebs.

Auch bei der Planung des KKL war ursprünglich die Durchführung eines Lastfolgebetriebs vorgesehen. Aufgrund der veränderten Randbedingungen – es wurden weniger Kernkraftwerke in der Schweiz gebaut als ursprünglich einmal geplant – wurde ähnlich wie beim KKG auf eine Umsetzung verzichtet.

Die verfahrenstechnischen Grenzen eines Lastfolgebetriebs sind primär durch die geplante Lebensdauer der Anlage und dabei insbesondere durch die Lebensdauer von nicht mit vertretbarem Aufwand ersetzbaren Grosskomponenten bestimmt. Bei einem Lastwechsel erfolgt eine transiente Belastung der Anlage, die bei Einhaltung definierter Laständerungsgeschwindigkeiten weder zu unzulässigen Reaktorkernzuständen noch zu einer unzulässigen Ermüdungsbeanspruchung der massgebenden mechanischen Komponenten führen darf. Die Zahl zulässiger Lasttransienten ist begrenzt und bestimmt damit die Lebensdauer einer Komponente. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Ersatz von Grosskomponenten zwar oft technisch möglich, aber häufig ökonomisch nicht vertretbar ist.

Ursprünglich waren die KWU-Anlagen für eine Lebensdauer von maximal 40 Jahren ausgelegt und die Zahl der zulässigen Lasttransienten für diese Lebensdauer bemessen worden. Ein Lastfolgebetrieb einer DWR-Anlage und die damit verbundenen transienten Beanspruchungen, die zu einer Materialermüdung beitragen und der mit jedem Lastwechsel zum „Verbrauch“ der verbleibenden zulässigen Zahl von Transienten beiträgt, beeinflusst somit die verfügbare Restlebensdauer einer Reaktoranlage. Eine Flexibilisierung der Elektroenergieerzeugung mit dem Ziel der Gewährleistung der Netzstabilität steht somit in einem gewissen Zielkonflikt mit dem alternativen Ziel eines Anlagenbetreibers, eine Reaktoranlage möglichst lange sicher betreiben zu können. In Deutschland wurde dieser Interessenkonflikt durch den politischen Entscheid der Beendigung des Betriebs der Reaktoranlagen vor dem Ablauf der projektierten Lebensdauer gelöst. Dies hat die Folge, dass ein Lastwechselbetrieb praktisch ohne Rücksicht auf eine mögliche Reduktion der Restlebensdauer durchgeführt werden kann.

Für Anlagen, die wie das KKG lange Zeit im Grundlastbereich betrieben worden sind, gibt es grosse Reserven, da die Zahl der zulässigen Lasttransienten bei weitem nicht ausgeschöpft ist. Zudem ist die Zahl zugelassener Lasttransienten generell sehr hoch. Für das KKG wurden für die ermüdungsrelevanten Komponenten die in Tabelle 1 angegebenen Häufigkeiten spezifiziert. Nachfolgend werden diese Zahlen mit der Zahl der aktuell total registrierten Transienten verglichen.

Die Bewertung der Ausnutzung der zulässigen Zahl der Transienten (Transientenbuchhaltung) gibt einen ersten Anhaltspunkt über die vorhandenen Lebensdauerreserven. Für eine Detailbewertung sind die detaillierten Ermüdungsbewertungen heranzuziehen. Diese beruhen auf realen Anlagenmessungen registrierter Transienten (aufgetretene wärmetechnische Belastungen) und einer Detailbewertung des Ermüdungszustands der relevanten „empfindlichen“ Komponenten an den „höchstbelasteten“ Stellen. Im KKG liegen auch Prognosen für den Ermüdungszustand bei derzeitiger Betriebsweise bis zum Jahr 2039 vor (Annahme: 60 Jahre Leistungsbetrieb).

Aktuell wird vom KKG lediglich Tertiär-Minus-Regelleistung angeboten. Bei Erfordernis (Energiewende) oder bei einer Beschränkung der Laufzeit (Initiative: Beschränkung auf 45 Jahre) ist jedoch ein Übergang auf einen Lastfolgebetrieb nach gewissen technischen Anpassungen der Regelungssysteme möglich.

 

Beantwortung der Teilfragen

Frage 1

a) Primärregelung

Die Primärregelung (1) dient der Wiederherstellung des Gleichgewichtes zwischen Erzeugung und Verbrauch nach Störeinwirkungen innerhalb von Sekunden in einem Energieverbundsystem. Die Netzfrequenz wird dabei im Bereich der zulässigen Grenzwerte stabilisiert. Die Aktivierung der Regelleistung erfolgt direkt in den eingebundenen Kraftwerken mittels Turbinenregler. Gemäss Angaben von Swissgrid (Überblick Systemdienstleistungen: Quelle für die hier angeführte Diskussion) hält Swissgrid ca. 70 MW installierter Leistung für Aufgaben der Primärregelung im Netz als Reserve vor.

Die Kernkraftwerke in der Schweiz sind bisher für diese Aufgabe nicht vorgesehen. Wenn man zukünftig auf einen Betrieb des KKG bei reduzierter Leistung übergehen würde, könnte das KKG nach entsprechenden Anpassungen der Turbinen- und Reaktorleistungsregelung auch einen Beitrag zur Primärregelung leisten. Postuliert man z. B einen Leistungsbetrieb bei ca. 97% der Nennleistung könnte eine Regelreserve von etwa 30 MW zur Verfügung gestellt werden. Diese könnte bei einer Störung innerhalb von ca. 18 s rampenförmig hochgefahren werden.

Generell wären für die Primärregelung auch Lastsprünge technisch realisierbar (bis maximal ca. 100 MW). Die erforderlichen technischen Anpassungen in den Regelsystemen sind nicht aufwändig.

Bisher ist ein derartiger Einsatz weder für das KKG noch für das KKL vorgesehen.

b) Sekundärregelung

Die Sekundärregelung dient der Einhaltung des gewollten Energieaustauschs einer Regelzone mit dem übrigen Energieverbundsystem bei gleichzeitig integraler Stützung der Frequenz bei 50 Hz. Im Falle eines Ungleichgewichts zwischen Erzeugung und Verbrauch wird Sekundärregelleistung durch den zentralen Netzregler automatisch bei den eingebundenen Kraftwerken abgerufen. Als Voraussetzung müssen diese Kraftwerke in Betrieb stehen, dürfen aber nicht die maximal oder minimal mögliche Nennleistung erzeugen, um jederzeit die Anforderungen des zentralen Netzreglers erfüllen zu können.

Kernkraftwerke in der Schweiz sind bisher für diese Aufgabe nicht vorgesehen. Wenn man zukünftig auf einen Betrieb des KKG bei reduzierter Leistung übergehen wurde, könnte KKG nach entsprechenden Anpassungen der Turbinen- und Reaktorleistungsregelung auch einen Beitrag zur Sekundärregelung leisten. Im Zeitbereich von ca. 2 Minuten könnte die elektrische Leistung z. B. automatisch von 800 Mwe (Betrieb bei 80% der Nennleistung) auf 1000 MWe hochgefahren werden, ohne das verfahrenstechnische Grenzen verletzt werden.

c) Tertiärregelung

Tertiärregelreserve wird zur Ablösung der Sekundärregelreserve und damit zur Wiederherstellung eines ausreichenden Sekundärregelbandes eingesetzt. Tertiärregelreserve ist vor allem notwendig, um grössere, länger andauernde Regelabweichungen, insbesondere nach Erzeugungsausfällen oder unvorhergesehenen lang anhaltenden Laständerungen, auszugleichen (nach: Überblick Systemdienstleistungen).

Auf Abruf durch Swissgrid stellt das KKG Tertiärregelungsleistung (Tertiär-Minus) zur Verfügung. Zu diesem Zweck wurde eine Rahmenvereinbarung mit Swissgrid abgeschlossen.

Die Bereitstellung der Tertiärregelleistungsreserve erfolgt auf Anfrage von Swissgrid. Aktuell werden durch das KKG die folgenden Leistungen angeboten:

Analoge Leistungsangebote bestehen auch für die anderen Kernkraftwerke in der Schweiz.

 

 

(1) Die Begriffsdefinitionen entsprechen den Sprachregelungen von Swissgrid.

 

Frage 2

Der zulässige Regelbereich für Laständerungen umfasst den gesamten Leistungsbereich von 0 bis 100%. Die zulässigen Laständerungsgeschwindigkeiten (Prozentangabe bezieht sich auf die jeweilige Momentanleistung) und die spezifizierte zulässige Zahl von Lasttransienten sind in Tabelle 1 dargestellt. Eine Detailbewertung der Zulässigkeit eines automatischen Lastfolgebetriebs erfolgt im Rahmen detaillierter Ermüdungsbewertungen. Der bevorzugte Regelbereich für das KKG liegt im Leistungsbereich von 60% und 100% Nennleistung (ca. ± 400 MW) mit konstanter Kühlmitteltemperatur mit Laständerungsgeschwindigkeiten von 10%/min (% bezieht sich auf die jeweilige Momentanleistung). Leistungssprünge im Bereich von ± 10% sind praktisch uneingeschränkt (eine Million Lastfälle, bisher sieben registrierte Fälle im Leistungsbetrieb) möglich. Die Praxis des Lastfolgebetriebs in deutschen Kernkraftwerken hat gezeigt, dass Laständerungsgeschwindigkeiten bis maximal 40 MW/min von praktischem Interesse sind. Dies entspräche einer Laständerungsgeschwindigkeit von 10%/min bei Betrieb der Anlage des KKG mit 400 MWe. Die Abbildung 3 zeigt beispielhaft einen Vergleich der Laständerungsgeschwindigkeiten von Kohlekraftwerken mit den im europäischen Verbundsystem massgebenden Mitbewerbern, den Kohlekraftwerken. Dieser Vergleich zeigt, dass DWR im oberen Leistungsbereich regelungstechnisch wünschenswerte Laständerungen schneller umsetzen können.

 

Frage 4 (bezogen auf das KKG)

Die verfahrenstechnische Auslegung des KKG (KWU-DWR) hat von Anfang an die Möglichkeit eines automatischen Lastfolgebetriebs und eines Betriebs der Reaktoranlage im Mittellastbereich eingeschlossen. Da das Einsatzkonzept der Schweizer Kernkraftwerke bisher primär auf die Erzeugung von Bandenergie ausgerichtet war, bestehen zurzeit keine direkten automatischen Eingriffsmöglichkeiten über einen Netzlastregler in die Regelsysteme des KKG. Bei häufigen Laständerungen ist es sinnvoll, die vorhandenen Leistungsregelsysteme zu optimieren, insbesondere um Personaleingriffe bei Laständerungsanforderungen zu vermeiden. Um schnelle automatische Laständerungen und einen nachfolgenden kurzzeitigen Betrieb der Reaktoranlage bei einem Lastfolgebetrieb gewährleisten zu können, ist der Kompensation des Xenonaufbaus Beachtung zu schenken. Xenon ist ein sogenanntes Neutronengift (Absorber), das sich bei Lastabsenkungen zeitlich verzögert durch den radioaktiven Zerfall von Spaltprodukten aufbaut. Die Kompensation des Xenonaufbaus erfolgt über eine Anpassung der Regelungen für die Steuerstabbewegungen (D-Bank) und für die Deionateinspeisung auf der Basis einer Reaktivitätsbilanz. Die Reaktivitätsbilanz schliesst ein Vorhersagemodell („Prädiktor“) für den Xenonaufbau ein und gestattet somit eine fein abgestimmte Leistungsregelung unter Einhaltung geforderter Laständerungsgeschwindigkeiten. In deutschen Kernkraftwerken wurden vor dem Übergang zur Lastwechselfahrweise entsprechende Anpassungen in der Reaktorregelung realisiert.

An Hand der Betriebserfahrungen des KKG mit der seit 2014 im Einsatz befindlichen neuen digitalen Reaktorleistungsregelung und aufgrund eines Erfahrungsaustauschs mit deutschen Kernkraftwerken und dem Anlagenlieferanten AREVA hat das KKG festgestellt, dass viele der in deutschen Anlagen vorgenommenen regelungstechnischen Anpassungen sicherheitstechnisch nützlich sind und zu einer Entlastung des Betriebspersonals führen. Daher werden gegenwärtig im Rahmen des Projekts ALV (Adaptive Leistungsverteilungs- und Bankstellungsregelung) vergleichbare Optimierungen der Reaktorregelung vorgenommen. Eine Anbindung an einen externen Netzlastregler ist zurzeit nicht vorgesehen. Zum Projekt ALV läuft aktuell ein atomrechtliches Freigabeverfahren des KKG beim ENSI. Die Einführung eines automatischen Lastfolgebetriebs ist nicht Gegenstand des Verfahrens.

 

Frage 5

Die Frage wird exemplarisch für das KKG beantwortet. Für das KKL gelten bei Beachtung der technologischen Unterschiede zu einem DWR ähnliche Aussagen.

Ein Übergang auf den Betrieb des KKG im Mittellastbereich mit automatischem Lastfolgebetrieb hatte einen vielfältigen Einfluss auf das Betriebsverhalten von Ausrüstungen und Komponenten. Dabei sind sowohl günstige als auch nachteilige Auswirkungen zu erwarten.

a) Sicherheitstechnik/Störfallanalysen

Ein Betrieb der Reaktoranlage bei reduzierter Leistung (Annahme für das KKG im Bereich zwischen 60 und 100% mit konstanter Kühlmitteltemperatur) wirkt sich für die Mehrzahl aller Störfallabläufe günstig aus, da sich nach einer Reaktorschnellabschaltung die abzuführende Nachwärme reduziert.

Da ein Lastfolgebetrieb im Vergleich zum Grundlastbetrieb zu einer erhöhten Zahl von Regelanforderungen und Steuerstabbewegungen führt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Häufigkeit von Regler- und Reaktivitätsstörungen erhöht. Dem kann durch die Optimierung der Leistungsregelung entgegengewirkt werden.

Wenn sich die Betriebsbedingungen der Anlage (z. B. langandauernder Betrieb bei deutlich reduziertem Leistungsniveau) stärker verändern, sind die Störfallanalysen zu aktualisieren und Teile der Notfalldokumentation (wegen der günstigeren Karenzzeiten für Gegenmassnahmen) anzupassen.

b) Mechanische Beanspruchung von Komponenten und Ausrüstungen

Eine Erhöhung der Zahl von Lastzyklen im Lastfolgebetrieb führt zu einer erhöhten mechanischen Beanspruchung von Komponenten und Ausrüstungen. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen:

  • Materialermüdung, die zu einer Beschränkung der technischen Lebensdauer von Komponenten und Rohrleitungen führen kann,
  • mechanischem Verschleiss von aktiven Komponenten, die in die Leistungsregelung eingebunden sind, infolge einer erhöhten Zahl von Bewegungsanforderungen (z. B. Regelventile und zugehörige Stellantriebe).

Zusätzliche Lasttransienten führen infolge Materialermüdung zu einer Reduktion der Restlebensdauer der Anlage und somit zu einem gewissen Zielkonflikt zwischen dem Ziel, einen möglichst langen Betrieb des Kraftwerks zu gewährleisten, und dem Ziel, mit einer Flexibilisierung der Fahrweise zur Netzstabilisierung des elektrischen Verbundsystems beizutragen (vgl. Kapitel 2).

Bei Einhaltung der in der Auslegung spezifizierten zulässigen Häufigkeit von Lasttransienten (vgl. Tabelle 1 für das KKG) sind über eine mögliche Einschränkung der Restlaufzeit hinaus keine sicherheitstechnisch relevanten Auswirkungen zu erwarten.

Der nicht auszuschliessende erhöhte mechanische Verschleiss einiger aktiver Komponenten führt zu erhöhten Wartungskosten und kann potenziell zu einem erhöhten Risiko für einen Produktionsausfall führen. Dieses Risiko kann durch eine gezielte Überwachung und eine entsprechende lnstandhaltungsplanung vermieden werden.

Da sich die wesentlichen Betriebsparameter (Druck, Temperatur) im Leistungsbetrieb (im Leistungsbereich zwischen 60 und 100%) für die massgebenden Systeme und Komponenten nicht verändern, ergeben sich keine relevanten Veränderungen der mechanischen Spannungen in Systemen und Komponenten.

c) Kraftwerkschemie und Werkstoffverhalten

Im Mittellastbetrieb können sich insbesondere im Bereich der Turbinenanlage (Kondensat- und Speisewasser-Vorwärmung) die thermischen und hydraulischen Einsatzbedingungen verändern, was Rückwirkungen auf die Wasserchemie und das Werkstoffverhalten haben kann. In einer deutschen Anlage kam es aufgrund veränderter wasserchemischer Bedingungen zur mehrfachen Rohrleckage im Turbinenzwischenüberhitzer infolge laugeninduzierter Spannungsrisskorrosion. Mit Hilfe des in Kernkraftwerken implementierten chemischen Überwachungsprogramms lassen sich derartige Phänomene erkennen und bei Bedarf Korrekturmassnahmen einleiten.

d) Brennstoffeinsatzplanung

Die Brennstoffeinsatzplanung muss auf eine Lastwechselfahrweise umgestellt werden, um eine ökonomisch günstige Brennstoffnutzung zu erreichen.

e) Überwachungsmassnahmen

Im KKG ist bereits heute ein umfassendes Alterungsüberwachungsprogramm implementiert. Über Erkenntnisse aus diesem Programm wird dem ENSI jährlich Bericht erstattet.

Für den Fall zukünftiger vermehrter Laständerungen (z. B. häufigerer Abruf von Tertiär-Minus-Regelleistung durch Swissgrid) plant das KKG die Einführung zusätzlicher gezielter Überwachungsmassnahmen auf Basis der heute bereits installierten Betriebsmess- und Überwachungssysteme. Neben der Fortführung des Alterungsüberwachungsprogramms (Lebensdauerüberwachung) schliesst dieses Programm eine Überwachung des Betriebsverhaltens konventioneller Komponenten (Turbinen- und Speisewasseranlage) und Ausrüstungen ein, welche einen Einfluss auf die Verfügbarkeit der Reaktoranlage haben und die einem höheren Verschleiss ausgesetzt sein konnten. Das Programm wird auch eine Bewertung der Kraftwerkschemie und des Werkstoffverhaltens im konventionellen Teil der Anlage sowie des Verhaltens elektrotechnischer Ausrüstungen umfassen. Damit wird sichergestellt, dass bei Bedarf erforderliche Gegenmassnahmen eingeleitet werden können

Aufgrund des fehlenden aktuellen Handlungsbedarfs wird dieses Programm zurzeit mit niedriger Priorität bearbeitet.

 

Frage 6

Die minimalen Unterschiede in den Lastdiagrammen zwischen dem KKG und dem KKL sind auf die unterschiedlichen verfahrens- und regelungstechnischen Konzepte eines DWR und eines SWR zurückzuführen. Die elektrische Leistung eines Kernkraftwerks hängt von vielen Einflussgrössen ab, deren Werte sich im Laufe des Betriebes ständig verändern (z. B. Lufttemperatur, Kühlwassertemperatur, Oszillationen der mittleren thermischen Leistung, Parameterfluktuationen infolge der Dynamik rotierender Maschinen, „Neutronenrauschen“ etc.). Die vorhandenen Regeleinrichtungen korrigieren diese Änderungen (Störgrössen), die zu Abweichungen vom Leistungssollwert führen. Während der Korrekturphase treten jedoch minime Abweichungen vom Sollwert der Leistung auf. Auch im KKG sind Schwankungen der thermischen Reaktorleistung beobachtbar. Diese schlagen sich jedoch wegen den zusätzlich vorhandenen Dampferzeugern (Zweikreislaufanlage) mit ihrer Füllstandsregelung weniger deutlich im Verlauf der elektrischen Leistung nieder als es in der Einkreislaufanlage eines GE SWR zu beobachten ist. Zudem ist wegen dem stark negativen Dampfblasen-Reaktivitätskoeffizienten (Voidkoeffizient) die physikalische Rückkopplung zwischen Änderungen der thermohydraulischen Bedingungen im Reaktorkern und der Leistung in einem SWR wesentlich stärker als in einem Druckwasserreaktor. Gleich grosse Schwankungen in Parametern der Turbogeneratoranlage „schlagen“ daher stärker auf die Parameter der Reaktoranlage und damit direkt auf die in einem SWR produzierte Dampfmenge „durch“. Letztere bestimmt die erzeugte elektrische Leistung. Der korrigierende Eingriff der Regelung zum Erreichen des Leistungssollwerts erfolgt in einem SWR wegen der vergleichsweise grösseren Regelabweichung „stärker zeitversetzt“, was sich in visuell erkennbaren minimen Leistungsoszillationen im Lastdiagramm bemerkbar macht.

Diese minimen Oszillationen schränken die Fähigkeiten eines SWR für einen Lastfolgebetrieb nicht ein.

 

Verzeichnisse

Abkürzungsverzeichnis

 

DWR Druckwasserreaktor

KKG Kernkraftwerk Gösgen

KKL Kernkraftwerk Leibstadt

KWU Kraftwerk Union AG (heute Areva NP)

SWR Siedewasserreaktor

 

Literaturverzeichnis

[1] W. Timpf und M. Fuchs, „Lastwechselfähigkeiten von Kernkraftwerken – Erfahrungen und Ausblick“, atw 57 (5), pp. 313-316, Mai 2012.

[2] W. Aleite, „Lastfolgefähigkeit von Kernkraftwerken mit Druckwasserreaktoren“, in VGB Kongress Kraftwerke 1985, Erlangen, 1985.

Beantwortet von Kernkraftwerk Mühleberg

Frage 1

a) Das KKM wird in der Regel mit maximaler Leistung (Nennleistung) betrieben und leistet keinen Beitrag zur Primärregelung.

b) Das KKM wird in der Regel mit maximaler Leistung (Nennleistung) betrieben und leistet keinen Beitrag zur Sekundärregelung.

c) Das KKM wird in der Regel mit maximaler Leistung (Nennleistung) betrieben. Bei Bedarf kann das KKM „nur“ zur negativen Tertiärregelung beitragen.

 

Frage 2

Da die Lieferung von Tertiärenergie innerhalb von 15 Minuten erfolgen muss, gibt es gewisse Einschränkungen. Wir leisten bei Bedarf bis -13% negative Tertiärenergie für zwei bis sechs Stunden innerhalb eines Zeitraums von 24 Stunden.

 

Frage 4

Die Voraussetzungen für einen automatischen Lastfolgebetrieb sind nicht erfüllt und die Anlage ist auch nicht dafür ausgelegt. Es sind keine Anpassungen vorgesehen.

 

Frage 5

Jede Laständerung hat Änderungen im thermischen Kreislauf der Anlage zur Folge. Die Druck- und Temperaturänderungen „belasten“ die Komponenten. Wir würden daher erwarten, dass bei Kraftwerken, die einen Lastfolgebetrieb fahren, Anpassungen bei den Instandhaltungszyklen einzelner Komponenten erforderlich sein könnten. Da diese Thematik für das KKM nicht relevant ist, können wir diese Effekte nicht im Detail beurteilen.

 

Beantwortet von Kernkraftwerk Beznau

Frage 1

Kernkraftwerk Beznau (KKB): Aktuell werden die Anlagen zur Produktion von Tertiärregelleistung negativ eingesetzt. Zusätzliche Einsatzmöglichkeiten sind nicht freigegeben und sind für die Zukunft kein Thema.

 

Frage 2

KKB: SDL tertiär negativ, min. 5 MW, max. 50 MW pro Block und nicht in beiden Blöcken gleichzeitig

Beantwortet von ENSI

Die festgelegten Grenzen für einen sicheren Betrieb sind als Voraussetzung für einen Lastfolgebetrieb der Schweizer Kernkraftwerke jederzeit einzuhalten. Generell liefern die Schweizer Kernkraftwerke keinen Beitrag zur Primär- und Sekundärregelung. Damit sind sowohl schnellere Leistungsänderungen, die höhere Anforderungen an die Regelsysteme stellen, als auch der aus ENSI Sicht kritisch beurteilte direkte Zugriff des Lastverteilers auf die Anlagen ausgeschlossen. Die internationalen Erfahrungen deuten darauf hin, dass die aus einem Lastfolgebetrieb resultierenden zusätzlichen Belastungen der Kernkraftwerke durch deren Auslegung und die kontinuierlichen Überwachungsprogramme abgedeckt werden können.

 

Teilfrage 3

Der Betrieb der Schweizer Kernkraftwerke muss nach wie vor innerhalb der festgelegten Sicherheitsgrenzen erfolgen (stabiler Kernzustand). Das heisst, dass es z. B. eine ausreichende Abschaltreserve und einen ausreichenden Abstand zur maximal zulässigen Leistungsdichte geben muss.

Es müssen (weitgehend) automatisch wirkende Begrenzungseinrichtungen vorhanden sein, die bei unzulässigen Regelabweichungen die Anlage in den Regelbereich zurückführen. Entsprechend dem gestaffelten Sicherheitskonzept (siehe Darstellung) wird damit verhindert, dass bei unzulässigen Laständerungen Sicherheits- oder Notstandsysteme angefordert werden.

Je genauer und zuverlässiger die Begrenzungseinrichtungen im Zusammenspiel mit einer sicheren und genauen Kerninstrumentierung sind, desto grösser sind die Spielräume für einen Lastwechselbetrieb.

 

 

 

Unterschiede zwischen Siedewasser- und Druckwasserreaktoren

Bezüglich der genannten Voraussetzungen gibt es keine Unterschiede zwischen Druckwasserreaktoren (DWR) und Siedewasserreaktoren (SWR). Beide Reaktortypen verfügen über unterschiedliche Regelungsmöglichkeiten für den Lastwechselbetrieb.

Bei einem DWR wird die Leistung hauptsächlich durch Verfahren der Steuerstäbe geregelt. Im Fall eines SWR spielt insbesondere die Variation des Kerndurchsatzes mittels Umwälzregelung eine Rolle. Ein SWR kann mit der Umwälzregelung die Leistung im oberen Lastbereich (60% – 100%) noch schneller und mit geringerer Beeinflussung der Leistungsverteilung ändern.

 

Teilfrage 4

Die genannten Voraussetzungen sind bei den Kernkraftwerken Beznau und Mühleberg nur bedingt erfüllt. Diese Anlagen sind primär nicht für einen flexiblen Betrieb ausgelegt. Die genannten Voraussetzungen sind hingegen bei den Kernkraftwerken Gösgen und Leibstadt erfüllt.

Die Schweizer Kernkraftwerke liefern keinen Beitrag zur Primär- und Sekundärregelung, die schnelle Leistungsänderungen verursachen. Sie werden in der Regel nur mit maximaler Leistung (Nennleistung) betrieben.

Bei Bedarf können die Schweizer Kernkraftwerke zur „negativen“ Tertiärregelung beitragen. Sie können die Leistung zur wirtschaftlichen Optimierung des Netzbetriebes absenken. Dies erfordert keine schnellen Leistungsänderungen und keinen direkten Zugriff des Lastverteilers auf die Anlage.

In den Kernkraftwerken Beznau und Mühleberg sind keine Anpassungen im Hinblick auf einen Lastfolgebetrieb geplant.

Der vom Kernkraftwerk Gösgen eingereichte Konzeptantrag (H1) zur Optimierung der Reaktorregelung wurde freigegeben. Die bestehende Systemarchitektur der Regel- und Begrenzungssysteme wird dabei nicht geändert. Die Regelung soll an das zyklusspezifische Reaktivitätsverhalten des Reaktorkerns angepasst werden. Die Einführung eines automatischen Lastfolgebetriebes war aber nicht Gegenstand des Antrags.

Das Kernkraftwerk Leibstadt hat bisher keinen diesbezüglichen Antrag eingereicht.

 

Teilfrage 5

Zyklische Belastungen von Komponenten können insbesondere dann auftreten, wenn grössere Temperaturtransienten im Werkstoff auftreten. In der Auslegung der Kernkraftwerke ist eine hohe Anzahl von Lastwechseln berücksichtigt (spezifisch für jeden Anlagenhersteller). Lastwechsel im oberen Leistungsbereich sind im Allgemeinen nur mit geringeren Änderungen von Anlageparametern wie Druck und Temperatur im Reaktorkühlsystem verbunden. Die Auswirkung der Lastwechsel auf den Ausnutzungsgrad der Ermüdung der Komponenten ist nach bisherigen Erfahrungen gering. Durch die kontinuierliche Ermüdungsüberwachung in den Kernkraftwerken kann zudem frühzeitig und gezielt reagiert werden.

Die Brennstäbe (BS) können durch unterschiedliche thermische Ausdehnung von den Brennstoffpellets und vom umgebenden Hüllrohr bei einem Leistungshub beansprucht werden. Brennstäbe und Brennelemente sind aber grundsätzlich für die Beanspruchungen durch Lastwechselbetrieb ausgelegt. Es sind nach bisherigen Erfahrungen keine BS-Defekte zu erwarten.

Aktive Komponenten (insbesondere Betriebssysteme) können stärkerem Verschleiss ausgesetzt sein. Diesem Einfluss kann aber in den bestehenden Wartungs-und Instandhaltungsprogrammen der Kernkraftwerke begegnet werden.

Lastwechsel beeinflussen verschiedene Parameter (z. B. Reaktorleistung, Leistungsverteilung, Kühlmitteltemperatur und -durchsatz), die in die bestehenden Störfallanalysen als Randbedingungen eingehen. Diese Parameter müssen durch die Regel- und Begrenzungssysteme in so engen Grenzen gehalten werden, dass die den Störfallnachweisen zugrunde liegenden Randbedingungen eingehalten werden.