Zehn Jahre nach Fukushima (5/6): So positioniert sich die Schweiz international
Nach dem Unfall in Fukushima wurde die Forderung nach internationalen Sicherheitsstandards und deren unabhängiger Kontrolle laut. Die Schweiz und insbesondere das ENSI setzte sich für eine Nachrüstpflicht weltweit ein. Auch wenn die Sicherheitsprinzipien rechtlich nach wie vor nicht bindend sind: Der Reaktorunfall wurde zum Booster für ein neues Sicherheitsbewusstsein der internationalen Gemeinschaft.
Praktisch alle Länder haben die Sicherheit ihrer Kernanlagen und ihre nukleare Aufsicht mit dem Unfall in Fukushima-Daiichi im Hinterkopf neu unter die Lupe genommen und teilweise eine energiepolitische Kehrtwende beschlossen. Auch die Schweiz besiegelte den Ausstieg aus der Kernenergie – die bestehenden Kernkraftwerke (KKW) können aber weiterbetrieben werden, solange sie sicher sind. Doch nukleare Sicherheit ist keine rein nationale Angelegenheit. Aufsichtsbehörden und Politikerinnen wie Politiker weltweit fragten sich, wie der Unfall in Fukushima hätte verhindert werden können. Die internationale Zusammenarbeit gewann mit der Aufarbeitung des Reaktorunfalls 2011 an Bedeutung.
Ministerkonferenz: Sicherheitsüberprüfung durch internationale Aufsicht
Eine erste Ministerkonferenz fand am 7. und 8. Juni 2011 in Paris statt. Die damalige Bundesrätin Doris Leuthard forderte an der Konferenz im Namen der Schweiz, dass erstens die Ereignisse in Japan durch Experten der Kernenergieagentur NEA (Nuclear Energy Agency) in Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) analysiert werden und zweitens künftig auch internationale externe Experten die Sicherheit der KKW überprüfen.
Die 30 Vertragsstaaten sprachen sich in Paris für den Check der gesetzlichen Grundlagen in den einzelnen Ländern, vor allem bezüglich Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden, der Sicherheit des KKW-Betriebs und der Auslegung der KKW auf extreme Naturgefahren, insbesondere auf Erdbeben und Überflutung, aus.
IAEA-Sicherheitsstandards: Taktgeber für nationale Vorgaben
Die IAEA berief eine Ministerkonferenz Ende Juni ein. An der Konferenz wurden die Ereignisse in Fukushima diskutiert: Was kann die internationale Gemeinschaft daraus lernen und wie lässt sich das internationale Regelwerk für die nukleare Sicherheit verbessern?
Wiederholt hatte die Schweiz nach Fukushima ein Obligatorium für systematische internationale Sicherheitsüberprüfungen, wie es bereits in der Schweiz existierte, weltweit gefordert – sogenannte Peer Reviews. Der Gouverneursrat der IAEA in Wien hat sich aber nur für internationale Expertenmissionen auf freiwilliger Basis ausgesprochen. Die Schweiz kritisierte diese Zögerlichkeit angesichts der zwei folgenschweren Reaktorunfälle in Tschernobyl und in Fukushima. Sowohl der Reaktorunfall in Tschernobyl im Jahr 1986 als auch derjenige in Fukushima wurden auf der internationalen Ereignisskala auf der höchsten Stufe 7 und damit als schwerwiegender Unfall bewertet.
Das Engagement des ENSI in der WENRA: Die Reaktion auf das Reaktorunglück
Im November 2011 haben die Mitglieder der Western European Nuclear Regulators Association (WENRA) den damaligen ENSI-Direktor Hans Wanner zu ihrem neuen Präsidenten ernannt. Als Fachgremium für Direktoren der Kernenergie-Aufsichtsbehörden ist die WENRA eine der wegweisenden internationalen Organisationen für die nukleare Sicherheit. Sie hat unter anderem die Standards für den EU-Stresstest mitgeprägt, siehe auch «Zehn Jahre nach Fukushima (3/6): Der EU-Stresstest». Die Hauptaufgabe der WENRA ist die Harmonisierung und Verbesserung der Sicherheitsstandards in den Bereichen Reaktorsicherheit sowie Stilllegung und Entsorgung. Die Schweiz ist in der WENRA durch das ENSI vertreten.
Nach dem Reaktorunglück in Fukushima hat die WENRA die Lehren analysiert und die Sicherheitsanforderungen überarbeitet. Dabei wurden auch die Empfehlungen der European Nuclear Safety Regulators Group ENSREG berücksichtigt – sie reichten von der Ausarbeitung europäischer Richtlinien zur Bewertung von Naturgefahren über Nachrüstungen der Notstandsysteme bis hin zur Aktualisierung von Alarm- und Messsystemen. Die Schweiz hat sich in der Reactor Harmonisation Working Group RHWG aktiv an der Überarbeitung der Anforderungen an KKW beteiligt.
Die Änderungen der WENRA-Sicherheitsanforderungen betrafen insbesondere die Themenbereiche «Schutz gegen auslegungsüberschreitende Störfälle» und «Extreme Naturereignisse». Unter anderem wurde mit den sogenannten Design Extension Conditions der vorsorgliche Auslegungsbereich auf sehr unwahrscheinliche, sogenannte auslegungsüberschreitende Störfälle ausgedehnt.
«Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht, etwa die überarbeiteten Sicherheitsrichtlinien nach dem Unfall in Fukushima», sagte der damalige ENSI-Direktor und WENRA-Vorsitzende Hans Wanner. «So konnte, den Zielen der WENRA gemäss, die nukleare Sicherheit in Europa weiter harmonisiert und gestärkt werden.»
Nachrüstphilosophie: «Kein einfacher Weg» zum internationalen Bekenntnis
Im Hinblick auf die ausserordentliche Überprüfungskonferenz zur Convention on Nuclear Safety CNS im August 2012 hat die Schweiz Verbesserungen des internationalen Übereinkommens und seiner Prozesse vorgeschlagen. Die schweizerischen Änderungsvorschläge fanden in der damaligen Form keinen Konsens und wurden daher nicht angenommen. Stattdessen wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, um Vorschläge zur Stärkung des Übereinkommens und seiner Prozesse zu erarbeiten. Die Vorschläge der Arbeitsgruppe umfassten zahlreiche Massnahmen zur Verbesserung der Transparenz, insbesondere in Bezug auf die zu erstellenden Berichte sowie einen Vorschlag zur Erweiterung der CNS.
Dieser Änderungsvorschlag wurde von der Schweiz bei der CNS eingereicht: Neue KKW sollten nach den neuesten Sicherheitsstandards und Technologien gebaut sein. Die Sicherheit der bestehenden KKW sollte sich an diesen Massstäben orientieren und laufend verbessert werden. Der Änderungsvorschlag wurde im Rahmen der Überprüfungskonferenz 2014 in Wien beraten. In der Schlussabstimmung erhielt der schweizerische Änderungsvorschlag die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Einberufung einer diplomatischen Konferenz.
«Die Schweiz musste viel Überzeugungsarbeit leisten. Gleichzeitig war allen Ländern klar, dass man nach dem Reaktorunglück in Fukushima nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte, ohne eine gemeinsame starke internationale Reaktion darauf zu zeigen.»
Rolf Stalder, damaliger ständige Vertreter der Schweiz bei der IAEA in Wien
«Es war kein einfacher Weg hin zur diplomatischen Konferenz», erinnert sich Rolf Stalder, der damalige ständige Vertreter der Schweiz bei der IAEA in Wien. «Wir mussten viel Überzeugungsarbeit leisten. Gleichzeitig war allen Ländern klar, dass man nach dem Reaktorunglück in Fukushima nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte, ohne Lehren aus dem Ereignis zu ziehen und eine gemeinsame starke internationale Reaktion darauf zu zeigen.»
Die diplomatische Konferenz fand im Februar 2015 in Wien statt und wurde vom heutigen IAEA-Direktor Rafael Mariano Grossi, damals argentinischer Botschafter in Wien, geleitet. Alle teilnehmenden Länder einigten sich auf eine gemeinsame Erklärung: die sogenannte Wiener Erklärung über nukleare Sicherheit. Diese enthält Sicherheitsprinzipien, die aus dem ursprünglichen Schweizer Vorschlag zur Abänderung der CNS hervorgingen. Die neuen Vorgaben wurden in der Überprüfungsprozess der CNS aufgenommen und über deren Umsetzung wurde an den CNS-Überprüfungskonferenzen berichtet.
«Die verschiedenen sicherheitstechnischen Nachrüstungen im KKW Beznau spiegeln die langjährige Schweizer Sicherheitskultur wider.»
Rafael M. Grossi, IAEA-Generealdirektor
Die Sicherheitsprinzipien ähnelten den schon bestehenden Regelungen in der EU und der Schweiz. Sie sind jedoch rechtlich nicht verbindlich. «Natürlich hätten wir uns ein rechtlich bindendes Ergebnis und eine internationale Nachrüstpflicht, so wie es in der Schweiz und in der EU schon lange besteht, gewünscht» sagt Georg Schwarz, stellvertretender ENSI-Direktor und Leiter des Aufsichtsbereichs Kernkraftwerke. Ohne die Zustimmung der grossen Kernenergieländer wie Russland, USA, China und Indien hätten die verschärften Vorschriften jedoch für einen grossen Teil der Reaktoren weltweit nicht gegolten. «Die Wiener Erklärung wurde von allen Vertragsstaaten unterstützt. Dies hat bestätigt, dass deren Sicherheitsziele wichtig sind, und dass sie Teil des CNS-Überprüfungsprozesses sein sollen», so Schwarz.
Für kontinuierliche Sicherheitsverbesserungen
IAEA-Direktor Grossi, der sich im Oktober 2020 bei einem Arbeitsbesuch in der Schweiz ein Bild von der hiesigen Nachrüstphilosophie machte, lobte die Sicherheitspraxis und das internationale Engagement der Schweiz im Nachgang von Fukushima: «Die verschiedenen sicherheitstechnischen Nachrüstungen im KKW Beznau spiegeln die langjährige Schweizer Sicherheitskultur wider, die im Grundsatz in der kontinuierlichen Verbesserung der nuklearen Sicherheit verankert ist». Dass die Schweiz diese wichtige Erfahrung weiterhin mit ihren internationalen Partnern und insbesondere innerhalb der IAEA teile, sei bedeutend.
«Die nukleare Sicherheit hat für die Schweiz weiterhin höchste Priorität, auch sechs Jahre nach der Verabschiedung der Wiener Erklärung.»
Benno Laggner, ständiger Vertreter der Schweiz bei der IAEA in Wien
Die verstärkte internationale Zusammenarbeit nach Fukushima hat auch in einem längerfristigen Schweizer Engagement Ausdruck gefunden. «Die Wiener Erklärung zur nuklearen Sicherheit geht auf eine Initiative der Schweiz zurück. Sie ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der globalen nuklearen Sicherheit, da sie die einzige internationale Vereinbarung ist, welche das Konzept der kontinuierlichen Verbesserung enthält», sagt Botschafter Benno Laggner, seit August 2018 ständiger Vertreter der Schweiz bei der IAEA in Wien. «Die nukleare Sicherheit hat für die Schweiz weiterhin höchste Priorität, auch sechs Jahre nach der Verabschiedung der Wiener Erklärung.»
Verantwortung über Landesgrenzen hinaus
«Was wir aus früheren nuklearen Unfällen gelernt haben, ist, dass sie keine staatlichen Grenzen kennen. Umso bedeutender ist die internationale Zusammenarbeit für die gemeinsame Verbesserung der nuklearen Sicherheit», sagt ENSI-Direktor Marc Kenzelmann. «Wir alle müssen sicherstellen, dass überall die höchsten Sicherheitsanforderungen angestrebt werden.»
«Was wir aus früheren nuklearen Unfällen gelernt haben, ist, dass sie keine staatlichen Grenzen kennen. Umso bedeutender ist die internationale Zusammenarbeit für die gemeinsame Verbesserung der nuklearen Sicherheit.»
Marc Kenzelmann, ENSI-Direktor
Obwohl die Schweiz kein EU-Mitglied ist, hat sie an sämtlichen EU-Massnahmen nach dem Unfall in Fukushima-Daiichi teilgenommen, sei es am EU-Stresstest (siehe auch «Zehn Jahre nach Fukushima (3/6): Der EU-Stresstest») oder an den Topical Peer Reviews zur Alterungsüberwachung von 2017.
Internationale Überprüfungsmissionen alle zehn Jahre sind zudem in der Schweizer Gesetzgebung verankert. Im Oktober 2021 wird eine IRRS-Mission der IAEA in der Schweiz stattfinden. Sie wird zwei Wochen dauern. Zehn bis zwanzig Experten werden die Arbeit des ENSI überprüfen. Etwa drei Jahre nach einer Mission findet eine sogenannte Follow-up-Mission statt. Dabei wird die Umsetzung der Verbesserungsmöglichkeiten, die während der vorgängigen Mission empfohlen wurden, überprüft.
Dies ist der fünfte Teil der ENSI-Serie anlässlich des zehnten Jahrestages der Katastrophe in Fukushima-Daiichi. Im letzten Teil, der am 11. März 2021 erscheint, erläutert ENSI-Direktor Marc Kenzelmann, was das ENSI im Lichte der Reaktorkatastrophe noch heute beschäftigt. Auch der ENSI-Rat kommt in diesem Zuge zu Wort.