Erfahrungs- und Forschungsbericht 2023: Verantwortung im nuklearen Sektor

Ob ethische Fragen zur Entscheidungsfindung, der bauliche Schutz bei einem Flugzeugabsturz oder die Sicherheit von Transport- und Lagerbehältern: Die Forschung des ENSI dient der Aufsicht über die Kernanlagen der Schweiz. In seinem Erfahrungs- und Forschungsbericht 2023 erläutert das ENSI aktuelle Forschungsfragen im Detail und zeigt die wichtigsten Erkenntnisse aus dem internationalen Erfahrungsaustausch.

Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI verfolgt in seinem Forschungsprogramm Fragen, die für die nukleare Aufsicht zentral sind. Soeben hat das ENSI seinen Erfahrungs- und Forschungsbericht 2023 vorgelegt. Darin sind alle Projekte dargestellt, mit denen sich das ENSI im Berichtsjahr in der Forschung beschäftigte, und zwar in folgenden Bereichen:

  • Brennstoffe und Materialien,
  • Interne Ereignisse und Schäden,
  • Externe Ereignisse,
  • Menschliche Faktoren,
  • Systemverhalten und Störfallabläufe,
  • Strahlenschutz und
  • Entsorgung.

ENSI nimmt neu auch ethische Fragen in den Blick

Im Bereich menschliche Faktoren unter­stützt das ENSI ein seit September 2023 an der Universität Luzern laufendes Doktorat zur Verantwortungsethik. Die Doktorarbeit untersucht die Entscheidungsfindung in Situationen, in denen sich Mitarbeitende nicht ausschliesslich auf Vorgaben zur Sicherheit, beispielsweise auf Richtlinienanforderungen oder Prozessbeschreibungen, stützen können, sondern eigenverantwortlich handeln müssen.

Dazu werden sowohl beim ENSI als auch bei den Beaufsichtigten folgende Fragen erhoben und analysiert:

  • Welche spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften qualifizieren die Mitarbeiten­den in diesen Situationen für die Erfüllung der ihnen zuge­wiesenen Verantwortung?
  • Wie handhaben sie den Umgang mit Verantwor­tungskonflikten in diesen Situationen?
  • Welche konkreten Orientierungshilfen gibt es für Mitarbeitende in dynamischen und sich verändernden Situationen, in denen Entscheidungen für die nukleare Sicherheit getroffen werden?

Dass das ENSI im Forschungsprogramm auch ethische Fragen berücksichtigt, ist neu: Bislang nahm die Forschung zu den menschlichen Faktoren vor allem den Einfluss von Operateurhandlungen auf Störfälle und deren Modellierung in der probabilistischen Sicherheitsanalyse in den Blick.

Bauliche Sicherheit bei Flugzeugabsturz: Verbesserte Analyse

Das ENSI unterstützt ein Projekt des finnischen Forschungsinstituts VTT: Mit «IMPACT IV – NEREID» kann das ENSI auf eine neue Versuchseinrichtung zurückgreifen, mit der es den Absturz von Flugzeugen auf Kernanlagen in einem grösseren Massstab als bisher analysieren kann. Im Berichtsjahr wurde damit der Aufprall von Projektilen auf Stahlbetonplatten bereits getestet.

Flugzeugabstürze gehören zu den externen Ereignissen, gegen die eine Kernanlage gewappnet sein muss. Mit der Beteiligung an dem Forschungsprojekt stehen dem ENSI der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik bezüglich Versuchsdaten und Berechnungsmethoden für die Einwirkung eines Flugzeugabsturzes zur Verfügung. Damit kann das ENSI Versagensgrenzen und vorhandene Tragreserven realistisch abschätzen und somit die bauliche Sicherheit von Kernanlagen bei Stossbelastungen wie einem Flugzeugabsturz besser beurteilen.

Neue Software für die Beurteilung der Behälter für radioaktive Abfälle

Der Forschungsbereich Entsorgung umfasst sowohl die geologische Tiefenlagerung als auch die Transporte und die Zwischenlagerung von radioaktiven Abfällen. Die Universität Bayreuth hat mit «Z88ENSI» eine Software weiterentwickelt, mit der das ENSI die Temperaturen an allen wichti­gen Komponenten von Transport- und Lagerbehältern noch genauer berechnen kann, namentlich an Dichtungen, Aussen­oberfläche und Tragkorb. Das Simu­lationsprogramm wurde im Berichtsjahr so erweitert, dass nun auch die Temperaturen an den Schacht­wänden des Tragkorbs und den Hüll­rohren der darin befindlichen Brennele­mente kalkuliert werden können.

Das ENSI setzt die Software Z88ENSI ein, um Behälter-Bauarten und Beladungen, die Schweizer Kernkraftwerke beantragen, zu beurteilen.

Internationaler Erfahrungsaustausch im Berichtsjahr

Neben den vielfach international aufgestellten Forschungsprojekten arbeitet das ENSI intensiv mit ausländischen Aufsichtsbehörden und Or­ganisationen weltweit zusammen, um die nukleare Sicherheit und Sicherung zu verbessern und die Aufsicht in der Schweiz zu stärken. Die wichtigsten Ereignisse für das ENSI im Berichtsjahr:

  • Die im März 2023 in Wien durchgeführte Überprü­fungskonferenz zur «Convention on Nuclear Safety» (CNS) bestätigte, dass die Schweiz die Bestimmungen der Konvention erfüllt. Die Art und Weise, wie die regulatorische Sicherheitsforschung durch den Bund gefördert wird, wurde positiv hervorgehoben. Der künftige Kompetenzerhalt im Bereich der nuklearen Sicherheit und Sicherung stelle in der Schweiz aber eine ernst zu neh­mende Herausforderung dar.
  • Am Rande der Generalkonferenz der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA im September 2023 ernannte Generaldirektor Rafael M. Grossi ENSI-Direktor Marc Kenzelmann zum Präsidenten der «IAEA Commission on Safety Standards» (CSS) für die kommenden vier Jahre. Das Gremium diskutiert Themen der Nuklear-, Strahlen-, Transport- und Ab­fallsicherheit sowie des Notfallschutzes und verabschiedet die Safety-Standards der IAEA.
  • Im Herbst 2023 stand mit einer Folgemission des «Integrated Physical Protection Advisory Service» (IPPAS) aus dem Jah­re 2018 die Sicherung von Kern­anlagen und Kernmaterialien, also der Schutz vor unbefugten Eingriffen, erneut auf dem Prüfstand. Die Schweiz verfüge über ein starkes nukleares Siche­rungsregime, so die IAEA-Expertinnen und -Experten, bekam aber auch Empfehlungen für weitere Verbesserungen.