Strahlenbiologie (1/5): Der ionisierenden Strahlung auf der Spur

Nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen kam es zu einem regelrechten Hype. Die Euphorie wurde jedoch gedämpft, als immer mehr über die Nebenwirkungen bekannt wurde. Die Strahlenbiologie untersucht, wie sich die Strahlung auf Zellen und Gewebe auswirkt.

Radioaktive Stoffe, von denen ionisierende Strahlung ausgeht, umgeben die Menschen überall. Sie kommen in Böden, Baustoffen und der Atemluft natürlich vor. Sogar beim Essen und Trinken nehmen wir radioaktive Stoffe auf – etwa in Form von Kalium, in dem das radioaktive Kalium-40 enthalten ist. Ferner trägt künstlich erzeugte ionisierende Strahlung – diese findet beispielsweise in der Forschung, der Industrie und der Medizin Anwendung – zur Strahlenbelastung bei. Somit steht der Mensch immer unter dem Einfluss von ionisierender Strahlung.

Historische Röntgenaufnahme einer Hand mit Ring (1896)

Die Interaktion der ionisierenden Strahlung mit der Materie (dem menschlichen Körper) kann zu Schädigungen im Organismus führen – ganz gleich, ob die Strahlen natürlichen oder künstlichen Ursprungs sind. Massgeblich ist die von den Zellen absorbierte Energiemenge und die Dauer der Bestrahlung.

Die Geburtsstunde der Strahlenbiologie

Die Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895 zog eine immense Euphorie nach sich. Die Möglichkeit, in den menschlichen Körper hineinschauen zu können, ohne ihn öffnen zu müssen, revolutionierte die Medizin. Doch schon bald beklagte sich das Personal, das die Röntgengeräte bediente, über Nebenwirkungen wie Geschwüre. In der Folge wurde mithilfe medizinischer und biologischer Experimente versucht, die Ursachen für diese Prozesse zu finden – die Geburtsstunde der Strahlenbiologie.

Heute weiss man, dass es sich bei den Röntgenstrahlen – wie auch bei Strahlung aus radioaktiven Stoffen – um sogenannte ionisierende Strahlung handelt. Das bedeutet, dass diese Strahlung Energie in Gewebe oder Zellen transportieren kann, wobei in der Folge biologisch wichtige Moleküle ionisiert werden können. Unter Umständen funktionieren die Moleküle dann nicht mehr richtig – oder gar nicht mehr. Die verschiedenen Strahlenarten verfügen über unterschiedlich grosses Potenzial, biologische Prozesse zu beeinflussen. Zudem ist die Strahlungsempfindlichkeit von Gewebeart zu Gewebeart verschieden. Beim Menschen wird zwischen Deckgewebe, Binde- und Stützgewebe, Muskelgewebe und Nervengewebe unterschieden.

Die ersten strahlenbiologischen Experimente wurden an Tieren durchgeführt. Die Erkenntnisse, die damals daraus gezogen wurden, gelten im Grundsatz noch heute. Zum Beispiel, dass die «Menge der Strahlung» – heute sagen wir dazu Dosis – massgebend bestimmt, welche Auswirkungen zu erwarten sind.

Die Dosis als Mass der Strahlenbelastung für den Menschen

Wird eine Person einem Strahlenfeld ausgesetzt, wirkt diese Strahlung auf den Körper, indem sie ihre Energie auf den Körper abgibt: Man sagt, die Person hat eine Dosis akkumuliert (angesammelt). Dosen werden in den Einheiten Gray oder Sievert angegeben. Die absorbierte Energiedosis wird in Gray, respektive Milligray angegeben und entspricht der aufgenommenen Energie pro Kilogramm Körpergewebe. Die effektive Dosis in Sievert hingegen bezeichnet die Summe der aufgenommenen Energiebeiträge pro Kilogramm Körpergewebe, multipliziert mit Wichtungsfaktoren, welche die biologische Wirkung der verschiedenen Strahlenarten sowie die unterschiedliche Strahlensensibilität der einzelnen Organe und des Gewebes berücksichtigen. Da eine Dosis von einem Sievert ein sehr grosser Wert ist, werden die üblicherweise vorkommenden Dosen häufig in Millisievert (ein Tausendstel von Sievert, auch mSv geschrieben) oder Mikrosievert (ein Millionstel von Sievert, auch μSv geschrieben) angegeben.

Eine weitere wichtige Erkenntnis der Strahlenbiologie betraf den Einfluss ionisierender Strahlung auf somatische Körperzellen und Zellen aus der Keimbahn. Sie unterscheiden sich dadurch, dass aus einer Zelle der Keimbahn eine Geschlechtszelle hervorgehen kann, aus der somatischen Zelle nicht.

Diese Unterscheidung ist vor allem für die Zeugungsfähigkeit wichtig, wie sich in Bestrahlungsexperimenten mit Tieren zeigte.

Wenn die Geschlechtsorgane bei der Bestrahlung ausgenommen wurden, beschränkte sich die Strahlenwirkung auf das entsprechende Tier, der Nachwuchs war nicht tangiert. Im umgekehrten Fall, wenn einzig die Geschlechtsorgane bestrahlt wurden, überstanden die Tiere den Versuch im besten Fall sogar ganz ohne Strahleneffekte. Dafür wurde ihre Zeugungsfähigkeit eingeschränkt: Sie hatten zahlenmässig weniger Nachkommen, zudem zeigten die Nachkommen gesundheitliche Einschränkungen.

Strahlenbiologie im Dienst des Strahlenschutzes

Das Ziel des Strahlenschutzes besteht darin, Menschen und Umwelt möglichst gut vor den negativen Auswirkungen ionisierender Strahlung zu schützen und Schäden zu vermeiden. Das geht jedoch nur, wenn die biologischen Prozesse, die in bestrahlten und unbestrahlten Zellen ablaufen, bekannt sind.

In diesem Sinne dient die Strahlenbiologie dem Strahlenschutz: Sie liefert die wissenschaftlichen Grundlagen, damit der Strahlenschutz seine Aufgaben in der Praxis möglichst gut wahrnehmen kann.

Dies ist der erste von fünf Artikeln zum Thema Strahlenbiologie. Im zweiten Teil werden die Auswirkungen von hohen Dosen auf den Körper erklärt.