Technisches Forum Entsorgungsnachweis

Frage 45: Einfluss der Geologie des Südschwarzwaldes auf die Nordschweiz

Tektonisches Inventar (Bruchstrukturen) und seismische Prozesse (II): Die Nagra hat im geologischen Modell die auf einer relativ einfachen Zerrungstektonik beruhende Horst-Graben-Struktur des zentralen Südschwarzwaldes auf das Untersuchungsgebiet übertragen. Im südlichen Südschwarzwald ist ein komplexeres tektonisches Muster mit zusätzlichen Elementen wie Blattverschiebungen (Vorwald-Störung) zu beobachten.

Welche Bedeutung kommt der komplexen Tektonik im südlichen Südschwarzwald auf das durch Sockeltektonik bestimmte Bruchmuster im Deckgebirge des Untersuchungsgebietes zu? Wie wurde im geodynamischen Konzept berücksichtigt, dass sich der kinematische Charakter von regionalen Bruchstrukturen im Lauf der tektonischen Entwicklung verändern kann?

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Eingegangen am 23. Dezember 2005 Fragende Instanz Vertreter des Kantons Schaffhausen
Status beantwortet
Beantwortet am 23. Dezember 2005 Beantwortet von

Beantwortet von Nagra

Kurzfassung

Das im Kristallin des Südschwarzwalds erkannte Strukturmuster ist Ausdruck der paläozoischen Geodynamik und wurde später, v.a. im Tertiär, teilweise reaktiviert. Welche Strukturen in welcher Weise reaktiviert wurden und neotektonisch noch reaktiviert werden, lässt sich im Wesentlichen nur dort erkennen, wo das über dem Basement liegende, jüngere Deckgebirge entsprechend deformiert wurde, nämlich im Tafeljura und am Molassenordrand. Weil gerade in den mesozoischen Schichten des angrenzenden östlichen Tafeljuras, abgesehen vielleicht von Teilen des Hegau– Bodensee-Grabens, kein entsprechend komplexes Strukturmuster nachgewiesen werden kann, ist entweder dessen Bedeutung gering oder es ist im Untergrund des Tafeljuras und damit auch des Untersuchungsgebietes nicht vorhanden. Die heutigen Kenntnisse lassen vermuten, dass wohl ein reiches Strukturinventar vorhanden ist, dieses aber für die rezente Geodynamik nur eine sehr beschränkte Bedeutung hat, das heisst nicht remobilisiert wurde. Wie bereits in der Antwort auf TFE-Frage 6 ausführlich erläutert, wird die Neuhauser Störung konservativerweise als (neo-)tektonisch aktives Element betrachtet. Aus diesem Grunde würde der Abstand eines Lagers zu dieser Struktur mindestens 200 m betragen. Innerhalb des Untersuchungsgebiets Zürcher Weinland wurde im Rahmen der bau- und sicherheitstechnischen Betrachtungen für den Entsorgungsnachweis ein Areal erster Priorität für die Platzierung eines Tiefenlagers bezeichnet, das sämtliche 3D-seismisch kartierbaren kleinen Störungen meidet (NTB 02-03, Fig. 9.3-1). Eine solche Optimierung ist aber keineswegs zwingend, weil an diesen Kleinstörungen seit dem Mesozoikum keine Bewegungen mehr erfolgt sind; deshalb ist es auch unwahrscheinlich, dass eine oder mehrere dieser Kleinstrukturen innerhalb der nächsten Jahrmillion reaktiviert werden.

Ausführliche Antwort

Das geologische Modell der Nordschweiz wurde nicht von der auf relativ einfacher Zerrungstektonik beruhenden Horst-Graben- Struktur des zentralen Südschwarzwaldes abgeleitet (s. Kap. 3.8 in NTB 99-08).

Das geodynamische Konzept Nordschweiz stützt sich vielmehr auf eine umfassende Analyse (s. Kap. 2 NTB 99-08) der regionalgeologischen Daten, welche im Zusammenhang mit den Explorationsarbeiten der Nagra, der Kohlenwasserstoff- und Rohstoffindustrie, der Wasserwirtschaft und den Hochschulen erhoben wurden. Die Beilagen 2.1 bis 2.3 im NTB 99-08 zeigen die daraus abgeleitete tektonische Situation mit den wichtigsten Strukturen der Region zwischen Alpennordrand und dem mesoeuropäischen Vorland. Diese an sich statische Momentaufnahme wurde darauf mit dem neotektonischen Konzept aus dem Kap. 3 gekoppelt, um die rezent aktiven und für die Langzeitszenarien wichtigen Strukturen und deren Bewegungssinn aufzeigen zu können. Dabei zeigte sich, dass die aktuelle endogene Dynamik der Nordschweiz und ihrer Umgebung von den folgenden zwei Faktoren bestimmt wird:

  • dem Nordschub der Alpen im Südosten, dessen frontale Kompression sich sowohl auf das Deckgebirge (Abscherung, Fernschub) wie auch auf das kristalline Grundgebirge (Blattverschiebungen und Abschiebungen, aber keine Überschiebungen) auswirkt, und
  • einer weiteren Zerblockung, Zerscherung und differenzierten Heraushebung des Schwarzwalds im Nordwesten, die sich in Form einer zumeist extensiven Horst- und Grabentektonik sowie ± konzentrisch angeordneter Randflexuren äussert.

Daraus ergibt sich das in Fig. 3.14 des NTB 99-08 skizzierte geodynamische Konzept für die Nordschweiz, das die rezenten Bewegungen in dieser Interferenzzone zwischen dem aktiven alpinen Zusammenschub und dem tektonisch weitgehend inaktiven mesoeuropäischen Vorland erklärt. Diese Darstellung ist eine Synthese des neotektonischen Datensatzes aus Kap. 3; sie zeigt schematisch auf, wie sich die tektonischen Haupt-Elemente unter den herrschenden Spannungsbedingungen weiterverhalten könnten.

Ausserhalb des Nordrands der Fernschubbedingten Kompressionszone verlaufen dabei die Bewegungen des Sockels (Abschiebungen sowie transtensive und transpressive Blattverschiebungen) weitgehend kongruent mit denjenigen des Deckgebirges, d.h. sie können mit oberflächengeologischen Methoden direkt beobachtet und gemessen werden. Innerhalb des vom alpinen Fernschub beeinflussten Gebiets findet aber eine zunehmende Entkopplung der Bewegungen des Sockels von denjenigen des abgescherten Deckgebirges statt; hier sind die rezenten Bewegungen des Sockels nur konzeptionell oder indirekt aus Messungen der Seismotektonik (Beil. 3.4 NTB 99- 08) ableitbar. Im geodynamischen Konzept wurde mithin auch berücksichtigt, dass sich der kinematische Charakter von regionalen Bruchstrukturen im Lauf der tektonischen Entwicklung verändern kann. So enthält z.B. die Neuhauser Störung (s. Fig. 3.14) neben der Abschiebungs- auch eine rezente dextrale Blattverschiebungskomponente, ähnlich wie dies von Hofmann et al. (2000) auch an der Randen- Störung nachgewiesen wurde (s. auch TFE-Frage/ Antwort 6).

Referenzen:

Hofmann, F., Schlatter, R. & Weh, M. (2000): Erläuterungen zu Blatt 97: Beggingen (LK 1011) des Geologischen Atlas der Schweiz 1:25’000. Bundesamt für Wasser und Geologie, Bern.

Müller, W.H., Naef, H. & Graf, H.R. (2002): Geologische Entwicklung der Nordschweiz, Neotektonik und Langzeitszenarien Zürcher Weinland. Nagra Tech. Ber. NTB 99-08.