Technisches Forum Kernkraftwerke

Frage 38: Sicherheits- und Fehlerkultur in Schweizer AKW

Sachverhalt

Im AKW Leibstadt sind gemäss ENSI in den letzten Jahren «eine Reihe von Vorfällen aufgrund menschlichen Fehlverhaltens» aufgetreten. Die Vorkommnisse wurden schrittweise kommuniziert, nicht alle sind jedoch gleichermassen bekannt. Gemäss Medienberichte handelte es sich zumindest bei einem Vorkommnis um ein Versäumnis eines Mitarbeiters einer Drittfirma, die vom KKL beauftragt wurde. Das ENSI hat als Massnahmen angekündigt, die eigenen Inspektionen im KKL zu intensivieren und bestellt ausserdem das Axpo-Management und die Kraftwerksleitung ein, um die Sicherheits- und Fehlerkultur im Werk zu diskutieren.

Fragen

1. Um wie viele Fälle handelt es sich im KKL? Um welche Vorkommnisse handelte es sich und wann passierten sie?
2. Wie viele Vorkommnisse aufgrund menschlichen Fehlverhaltens waren in den letzten Jahren in den anderen Schweizer AKW zu verzeichnen? Welche Qualität attestiert das ENSI den anderen Schweizer AKW in Sachen Sicherheits- und Fehlerkultur?
3. Die Sicherheits- und Fehlerkultur im KKL ist bereits seit vielen Jahren in der Kritik. Welche Konsequenzen sieht das ENSI vor, falls sich die Defizite auch mit den jüngsten Massnahmen nicht verbessern? Welche Frist sieht das ENSI vor, bis die Verbesserungen sichtbar werden müssen bzw. wo liegt die Toleranzschwelle gegenüber weiteren Vorkommnissen?
4. Welche Massnahmen werden von den Schweizer AKW ergriffen, um die Schnittstellen gegenüber Drittfirmen optimal zu gestalten und beispielsweise auch die Sicherheits- und Fehlerkultur in den Drittfirmen ausreichen zu implementieren?
5. Wie hat sich der Personalbestand aller Schweizer AKW in den letzten 10 Jahren entwickelt? Wie hat sich das Verhältnis von Aufträgen an Drittfirmen gegenüber Aufträgen, die durch eigene MitarbeiterInnen abgedeckt werden können in allen Schweizer AKW in den letzten 10 Jahren entwickelt? Und wie haben sich die Personalkosten an den gesamten Betriebskosten aller Schweizer AKW absolut und relativ zu den weiteren Betriebskosten in den letzten 10 Jahren entwickelt?
6. Wie wird das Risiko menschlichen Fehlverhaltens in die technische Störfallanalyse integriert und simuliert?

Thema Bereich
Eingegangen am 13. Februar 2019 Fragende Instanz Energiestiftung
Status beantwortet
Beantwortet am 13. September 2019 Beantwortet von ,

Beantwortet von ENSI

1. Um wie viele Fälle handelt es sich im KKL? Um welche Vorkommnisse handelte es sich und wann passierten sie?

Die nachfolgende Liste enthält die meldepflichtigen Vorkommnisse mit relevanten Aspekten im Bereich Mensch und Organisation aus den Jahren 2017 bis 2019. Die Analyse der Vorkommnisse durch das KKL hat für jedes Vorkommnis mehrere beitragende Faktoren im Bereich Mensch und Organisation ergeben.

Jahr Vorkommnistitel (stammt aus Erstmeldung des KKL)
2017 Reaktorschnellabschaltung (SCRAM) wegen Niveau 3 tief
2018 Abweichung bei der Konditionierung von radioaktiven Abfällen
2018 Eingeschränkte Funktionstüchtigkeit der SEHR-Hauptpumpe A (INES-1)
2018 Unerwarteter Dosisleistungsanstieg bei der Lagerung des Wasserabscheiders (INES-1)
2018 Kleinstleckage an Schweissnaht vor Entleerungsarmatur TJ10S120
2018 Abweichung beim Batteriezellen-Auffüllmaterial der Batterie 11FS02G020 (24VDC)
2019 Verwendung von nicht den Prüfvorgaben entsprechenden Neutronen­dosis­leistungs­mess­geräten

 

2. Wie viele Vorkommnisse aufgrund menschlichen Fehlverhaltens waren in den letzten Jahren in den anderen Schweizer AKW zu verzeichnen? Welche Qualität attestiert das ENSI den anderen Schweizer AKW in Sachen Sicherheits‐ und Fehlerkultur (1)?

Seit 2017 zeigen die in den Vorkommnisanalysen identifizierten beitragenden Faktoren im M&O-Bereich in den anderen Kernkraftwerken eine geringere Relevanz als im KKL. Genauere Informationen zu den Vorkommnissen aller Kernkraftwerke, die aufgrund ihrer Sicherheitsrelevanz die ENSI‐Kriterien für eine Veröffentlichung erfüllen, befinden sich auf der ENSI‐Website. Das ENSI attestiert den Schweizer Kernkraftwerken in seinem Aufsichtsbericht 2018 die folgende Bewertung für den «Zustand und Verhalten von Mensch und Organisation»:

  • KKB1&2: hoch
  • KKG: gut
  • KKM: gut
  • KKL: ausreichend

Hierbei ist festzuhalten, dass die Statistik der Anzahl meldepflichtiger Vorkommnisse keine belastbare Aussage zur Sicherheitskultur der Organisation eines Kernkraftwerks liefert. Das ENSI betrachtet daher in diesem Zusammenhang nicht die reine Anzahl der Vorkommnisse, sondern ihre Relevanz für den M&O ‐ Bereich. Die Analysen der Vorkommnisse im KKL zeigen, dass die zugrundeliegenden Ursachen gehäuft im M&O‐Bereich liegen. Die Bewertung für den «Zustand und Verhalten von Mensch und Organisation» im Aufsichtsbericht resultiert also nicht allein aus den (meldepflichtigen) Vorkommnissen, sondern ergibt sich aus den Resultaten der integrierten Aufsicht des ENSI.

(1) Das ENSI betrachtet den Umgang mit Fehlern als Teil der Sicherheitskultur.

3. Die Sicherheits‐ und Fehlerkultur im KKL ist bereits seit vielen Jahren in der Kritik. Welche Konsequenzen sieht das ENSI vor, falls sich die Defizite auch mit den jüngsten Massnahmen nicht verbessern? Welche Frist sieht das ENSI vor, bis die Verbesserungen sichtbar werden müssen bzw. wo liegt die Toleranzschwelle gegenüber weiteren Vorkommnissen?

Das ENSI verweist grundsätzlich darauf, dass der Betreiber eines Kernkraftwerks für die Gewährleistung der nuklearen Sicherheit verantwortlich ist. Dazu hat die Betriebsorganisation ein wirksames Managementsystem zu betreiben, das sicherstellt, dass sich auch auf Basis des Managementsystem‐Kreislaufs die Performance der Organisation kontinuierlich verbessert. Dieses kontinuierliche organisationale Lernen hat sowohl auf vorkommnisspezifischer als auch auf gesamtorganisationaler Ebene stattzufinden.

Da sich im KKL in den letzten Jahren durch die Häufung der Feststellungen im Bereich Mensch und Organisation Schwächen auf der gesamtorganisationalen Ebene gezeigt haben, hat das ENSI als Konsequenz seine Aufsicht in dem Bereich intensiviert. Sollte sich trotz des im KKL gestarteten Sicherheitskultur‐Programms hier dauerhaft keine Verbesserung zeigen bzw. sogar eine weitere Verschlechterung ergeben, sieht das ENSI weitere Eskalationsstufen vor. Wie bereits unter Frage 2 beschrieben, richtet sich die Toleranzschwelle des ENSI, deren Unterschreitung weitere Eskalationsstufen auslöst, nicht nach der reinen Anzahl der Vorkommnisse mit Aspekten im Bereich Mensch und Organisation, sondern nach dem Gesamtbild(2), das sich das ENSI von der Performance der Organisation im Rahmen der integrierten Aufsicht macht.

(2) Die Sicherheitskultur der Betriebsorganisation eines Kernkraftwerks betrachtet das ENSI differenziert. Im Rahmen der integrierten Aufsicht verschafft sich das ENSI fortlaufend ein möglichst realistisches Bild von Zustand, Verhalten und Entwicklung der Organisation. Aufsichtsbereiche hierzu sind u.a. Abläufe (Managementsystem), Ausbildung und Qualifikation der Mitarbeitenden und Sicherheitsbewusstsein des Personals

Beantwortet von Kernkraftwerk Leibstadt

Einführung: Sicherheitskultur im KKL

  • Das KKL hat ein integriertes Verständnis von Sicherheit und damit von Sicherheitskultur
  • Barrierenprinzip in der Technik und in der Organisation gestaffelt nach Wichtigkeit
  • Ausfall einer Barriere führt ggf. zur Meldung an das ENSI (z. B. Redundanz, Diversität, Kontrolle)

Sicherheitskultur ist im Unternehmensleitbild festgeschrieben

Werte:

  • Sicherheit
  • Professionalität
  • Identifikation
  • Offenheit und Respekt
  • Zusammenarbeit

Methoden (beispielhaft)

  • Standards für Fehlervermeidungstechniken
  • Drei-Weg-Kommunikation
  • Arbeitsvor- und Nachbesprechungen
  • Situationsbewusstsein
  • Manager-in-the-field-Programm
  • strukturierte Entscheidungsfindung
  • Self Checking, STAR, Vier-Augenprinzip
  • Rückmeldekultur für kleine Arbeitsfehler
  • Wirksamkeit von eingeleiteten Massnahmen
  • Führungskurse, Kommunikationskurs
  • Methodentraining (Field-Simulator, Simulator)
  • Aufarbeitung externer Vorkommnisse

SIKU-2.0-Commitment: Grundsätzliches Vorgehen 2019 – 2022

Das KKL hat einen Mehrjahresplan entwickelt, um diese Methoden kontinuierlich anzuwenden und systematisch weiterzuentwickeln:

4. Welche Massnahmen werden von den Schweizer AKW ergriffen, um die Schnittstellen gegenüber Drittfirmen optimal zu gestalten und beispielsweise auch die Sicherheits- und Fehlerkultur in den Drittfirmen ausreichen zu implementieren?

Schulung von Drittpersonal

  • Einführungsschulung inklusive Strahlenschutzbelehrung
  • Abgabe einer Wegleitung mit den KKL-Standards und Informationen für externes Personal
  • Nominierung von Aufsichtsführenden vor Ort (AVO), wiederkehrend geschult in Betriebskunde, Strahlenschutz, Brandschutz und Arbeitssicherheit
  • Durchgängig anwesendes Drittpersonal besucht das Grundmodul zu den KKL-Fehlervermeidungstechniken im Field-Simulator und nimmt alle drei bis vier Jahre an den KKL-internen Wiederholungskursen teil.
  • Je nach Einsatzgebiet (Strahlenschutz, Elektriker, Leittechnik etc.) erfolgen weitere Zusatzqualifikationen und fachspezifische Schulungen vor dem Einsatz (z. B. in den Bereichen Starkstrom, Kalibrierungen etc.).

Qualitätssicherung der Arbeitssicherheit bei Drittfirmen

  • Bei Unfällen unterscheidet das KKL nicht zwischen Eigen- und Fremdpersonal. Unfälle werden gemeinsam gezählt.
  • Das KKL bietet für externe Mitarbeitende Arbeitssicherheitskurse an, beispielsweise
  • Sachkunde für Lastaufnahmemittel,
  • Bedienung von Stapler, Hebebühne, Kran,
  • Spezialtransporte,
  • Umgang mit Behältern und Verhalten in engen Räumen,
  • PSAgA (PSA = Persönliche Sicherheitsausrüstung, gA = gegen Absturz),
  • Behälterbegehung, Gasfreimessung.

Qualitätssicherung vor Ausführung

Planungssitzungen/Pre-Job-Briefings

  • Vor jeder Revision finden Planungssitzungen mit Schlüssellieferanten statt (Vorgaben der Arbeitssicherheit und Sicherheitsstandards).
  • Speziell für die Jahresrevision 2019 wurden die Pre-Job-Briefings weiterentwickelt und inspiziert.
  • Im Anschluss an die Revision gibt es eine gemeinsame Auswertung und Massnahmen zur Verbesserung.

Sicherheitskonzepte bei Arbeiten mit hohem Gefährdungspotenzial

  • Die Arbeitssicherheitsverantwortlichen erstellen Sicherheitskonzepte bei Arbeiten mit hohem Gefährdungspotenzial, erfassen jeden Unfall und rapportieren an die Kraftwerksleitung.
  • Unfallabklärungen werden mit der betroffenen Firma gemeinsam durchgeführt.

5.a Wie hat sich der Personalbestand aller Schweizer KKW in den letzten zehn Jahren entwickelt?

Schwankungen ergeben sich u. a. durch:

  • Doppelbesetzungen im Rahmen von Pensionierungen,
  • schwankende Auslastung durch Projekte,
  • Outsourcing nicht sicherheitsrelevanter Stellen,
  • gezielter Aufbau an sicherheitsrelevanten Schlüsselstellen.

5.b Wie hat sich das Verhältnis von Aufträgen an Drittfirmen gegenüber Aufträgen, die durch eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgedeckt werden können, in allen Schweizer KKW in den letzten zehn Jahren entwickelt?

Der Anteil von primär im KKL beschäftigten Fremdpersonal im Verhältnis zu Vollzeitstellen KKL ist in den letzten Jahren relativ stabil bei 13 bis 14%.

5.c Wie haben sich die Personalkosten an den gesamten Betriebskosten aller Schweizer KKW absolut und relativ zu den weiteren Betriebskosten in den letzten zehn Jahren entwickelt?

Die Personalkosten sind aufgrund der geringen Veränderung der Anzahl an Vollstellen weitgehend stabil. Die übrigen Kosten schwanken stark aufgrund von Modernisierungsprojekten und seit 2015 vor allem durch die unterschiedliche Marktbewertung des Stilllegungs- und Entsorgungsfonds. Dementsprechend verändert sich auch der relative Anteil an den Personalkosten.

Die diesbezüglichen Daten der Kernkraftwerke Mühleberg, Gösgen und Beznau können in den angefügten Dokumenten nachgelesen werden.

  1. Wie wird das Risiko menschlichen Fehlverhaltens in die technische Störfallanalyse integriert und simuliert?

Deterministische Störfallanalyse (Richtlinie ENSI-A01)

  • Die deterministische Störfallanalyse beantwortet die Frage, wie sich die Anlage bei unterstellten Störfällen verhält (welche Systeme werden wann und wie benötigt).
  • Berücksichtigung von menschlichen Handlungen erst nach 30 Minuten,
  • Das Ausbleiben einer vom Betriebspersonal durchzuführenden und zur Störfallbeherrschung angeforderten Handlung wird in der technischen Sicherheitsanalyse unterstellt.

Probabilistische Störfallanalyse (Richtlinie ENSI-A05)

  • Die probabilistische Störfallanalyse beantwortet die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit technische Systeme versagen (Ergebnis = Versagenswahrscheinlichkeit /Jahr).
  • Die Wirkung der Personalhandlungen auf die Systemverfügbarkeit wird untersucht und fliesst ins Modell ein (Verwendung von etablierten Verfahren gemäss ENSI-A05).
  • Fehlerhafte Personalhandlungen werden berücksichtigt als Versagenswahrscheinlichkeit.

 

Diesbezügliche nachgeforderte Informationen zum Kernkraftwerk Mühleberg: Präsentation_Antwort_KKM_Nachfrage_ENSI_Frage_38

Diesbezügliche nachgeforderte Informationen zum Kernkraftwerk Gösgen: Präsentation_Antwort_KKG_Nachfrage_ENSI_Frage_38

Diesbezügliche nachgeforderte Informationen zum Kernkraftwerk Beznau: Präsentation_Antwort_KKB_Nachfrage_ENSI_Frage_38