a) Geodynamik
Ausgangslage
Die Standortgebiete Jura-Südfuss, Jura Ost sowie Nördlich Lägern werden von Störungen begrenzt, welche WSW-ENE oder auch SW-NE streichen. Es sind dies die Lägern, die Stadel-Irchel-Antiklinale sowie das Baden-Irchel-Herdern-Lineament. Einige dieser Strukturen, insbesondere das Lineament zwischen Baden und Herdern, haben ihren Ursprung vermutlich in invertierten Sockelsprüngen, welche in das kristalline Grundgebirge unterhalb der mesozoischen Deckschichten reichen. Die Abscherhorizonte der Lägern sowie der Faltenzüge des Jura-Südfusses liegen dagegen in der Trias. Ein östlicher Fortläufer dieser Strukturen findet sich ebenfalls im Zürcher Weinland in Form einer Flexur. Die Standortgebiete Südranden und Zürich Nordost dagegen werden im Osten durch die SE-NW streichende Neuhauser Störung begrenzt. Diese Struktur reicht ebenfalls bis in das kristalline Grundgebirge.
Neotektonisches Spannungsfeld
Spannungszustände in der Nordschweiz
Eine mögliche Reaktivierung dieser Strukturen hängt davon ab, wie regionale und lokale Spannungszustände auf die lokalen Bruchstrukturen wirken. Die tektonische Reaktion dieser lokalen Strukturen ist dabei primär eine Funktion der Scherfestigkeit und Lage der tektonischen Strukturen in Bezug auf das Spannungsfeld. Dabei können je nach der geometrischen Lage der Störungen sowie der Scherfestigkeit unterschiedliche Versatzrichtungen beobachtet werden. Eine Analyse der heutigen Kenntnisse der lokalen Spannungsfelder in der Nordschweiz findet sich im Expertenbericht der ETH zur Abklärung der Notwendigkeit ergänzender geologischer Untersuchungen in SGT Etappe 2 (Amann & Löw 2011, ENSI 33/127). Insbesondere für das Standortgebiet Jura-Südfuss bestehen heute beträchtliche Unsicherheiten in der Charakterisierung der lokalen In-situ-Spannungen. Grundsätzlich ist von grossen vertikalen und horizontalen Variationen der Spannungsverhältnisse, insbesondere in der Sedimentbedeckung des Faltenjuras, auszugehen.
Ursachen des überregionalen Spannungsfeldes
Quantitative Daten über die überregionalen Spannungszustände für den alpinen Raum und das angrenzende Vorland im Norden stehen dank GPS-Messungen (z.B. Calais et al., 2002) und Herdflächenlösungen von Erdbeben (z.B. Pavoni, 1980, 1984 in Diebold und Müller, 1985) zur Verfügung. Diese Daten wurden während der letzten 15 Jahre kontinuierlich erhoben, und Calais publizierte im Jahre 2002 eine erste Synthese. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Resultate und Interpretationen findet sich im Aufsatz von D. Champagnac und Mitautoren, publiziert in der Fachzeitschrift Tectonophysics im Jahre 2009. Gemäss diesen Studien führt die apulische Mikroplatte eine Rotationsbewegung im Gegenuhrzeigersinn aus. Das Rotationszentrum liegt in der Region von Turin, und die Rotation erreicht je nach Autor eine Geschwindigkeit zwischen 0.3° und 0.2° pro Million Jahre. Für die Schweiz resultiert aus dieser Rotationsbewegung eine nach NW gerichtete Konvergenz zwischen der apulischen Platte und dem nordalpinen Bereich. Mit dieser Konvergenz liessen sich das Muster der Herdflächenlösungen von Erdbeben in der Schweiz sowie die Orientierung des heutigen Spannungsfeldes erklären. Allerdings liegen die aus GPS-Messungen ermittelten Konvergenzraten im Bereich von einem Millimeter pro Jahr und damit innerhalb des analytischen Fehlers. Einige Autoren haben deshalb auch von nicht messbarer Konvergenz zwischen apulischer Platte und Schweizer Mittelland gesprochen. Dies impliziert, dass die Konvergenzraten entweder zu gering sind, um überhaupt mit GPS-Methoden erfasst werden zu können, oder der Betrachtungszeitraum noch nicht lang genug ist. Ein zweiter wichtiger Prozess ist die E-W gerichtete Spreizungsbewegung im zentraleuropäischen Raum. Dieser Prozess führte zur Bildung des Rhein- und des Rhonegrabens. Diebold und Müller (1985) kommen in ihrer Synthese zum Schluss, dass diese E-W gerichtete Dehnung des Rheintalgrabens im Laufe des Jungpleistozäns abgeklungen ist. Allerdings zeigen Ablagerungszentren im Bereich des Sierentzer Grabens und bei Heidelberg, dass noch weiterhin lokal Absenkung auftritt. Eine weitere Reaktivierung kann daher nicht ausgeschlossen werden. Des Weiteren führen das Abschmelzen der Eiskörper während des Spätglazials und holozäne Erosionsprozesse zu Veränderungen des tektonischen Spannungsfeldes und damit zu möglichen Versätzen entlang tektonischer Strukturen (Champagnac et al., 2009).
Nachweisbare Deformation als Folge des Spannungsfeldes
Reaktivierung von Brüchen und Falten
Im Norden der Schweiz sind Hebungen von Faltenzügen im Juragebirge, Hebungen des gesamten alpinen Raums – bezogen auf die Referenzstation in Aarburg – und Erdbeben als neotektonische Signale nachgewiesen worden. Detaillierte Datierungen von alten Mäanderbögen des Doubs im Juragebirge, welche auf dem SW-NE streichenden Scharnier der Citadelle-Falte liegen, ergaben eine Hebung von <0.15 mm pro Jahr während der letzten ca. 30’000 Jahre (Madritsch et al., 2010). Seismische und stratigraphische Untersuchungen am nördlichen Rand der Ajoie führten zur Erkenntnis, dass die Faltenzüge am nördlichen Rand des Juragebirges während der letzten 2 bis 3 Millionen Jahre tektonisch deformiert wurden (Giamboni et al., 2004). Diese nach NW gerichtete Verfaltung wurde als Folge der Konvergenzbewegung zwischen der apulischen Platte und Kontinentaleuropa interpretiert. Da in diesem Bereich die Erdbebenherde im kristallinen Sockel liegen und damit unterhalb des Abscherhorizontes des Juragebirges, wurde die Hebung auf eine mögliche Inversion paläozoischer Strukturen zurückgeführt. Hinweise auf differentielle Bewegungen entlang des Ostrandes des Rheingrabens bei Basel ergeben sich aus Nivellementdaten, welche während der letzten 100 Jahre erhoben wurden, sowie aus Verstellungen der Niederterrassenschotter und der Verteilung von Erdbeben-Hypozentren (Loew et al. 1989).
Die tektonischen Strukturen zwischen Lägern, Jura Ost und Zürich Nordost streichen entweder parallel zur Verkürzungsrichtung oder senkrecht dazu. Dies könnte, analog zur Situation der Citadelle-Falte (Faltenjura entlang des Doubs), zu Reaktivierungen von Störungen und zur Inversion von Brüchen führen, welche bis in den kristallinen Sockel hineinreichen. Epizentren von Erdbeben liegen in der Tat in der entsprechenden Tiefe. In der Nordostschweiz sind allerdings Hebungen und Versätze, welche auf diese NW-gerichtete Einengung zurückzuführen wären, bis jetzt nicht nachgewiesen worden. Entweder wären mögliche Deformationsraten zu gering, um mit heute verfügbaren Methoden gemessen werden zu können, oder der Zeitraum der Messkampagnen ist zu kurz. Des Weiteren sind aufgrund der geometrischen Lage der Faltenzüge und Abschiebungen, bezogen auf die NW-gerichtete Einengung, keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich Hebungen und Reaktivierungen zu erwarten.
Grossräumige Hebung
Die geodätischen Daten liefern messbare Unterschiede in der Hebung zwischen dem alpinen Vorland (Hebungsraten zwischen 0.1-0.6 mm pro Jahr bezogen auf die Referenzstation in Aarburg) und den Zentralalpen, wo die Hebungsraten zurzeit maximal etwa 1.5 mm pro Jahr betragen (Kahle et al., 1997). Die Dichte der Messstationen lässt keine Rückschlüsse darüber zu, ob zwischen den Standortgebieten Jura Ost, Nördlich Lägern sowie Zürich Nordost Hebungen unterschiedlich schnell ablaufen. Die Ursache dieser Hebung könnte in der Konvergenzbewegung zwischen der apulischen und europäischen Platte liegen. Allerdings zeigen Berechnungen, dass die Konvergenzgeschwindigkeit 6 mm pro Jahr übersteigen müsste (Champagnac et al., 2009), was nicht der Fall ist. Andere in der Literatur beschriebene Mechanismen umfassen (s. Zusammenstellung in Champagnac et al., 2009): (i) geodynamische Prozesse, welche zur Abtrennung zwischen Mantel und Kruste und damit zur grossräumigen Hebung der Alpen führen (Delamination), (ii) Entlastung durch Erosion, welche vor allem in den Alpen wirksam wäre, sowie (iii) Resthebung als Folge des Abschmelzens der Eiskörper vor ca. 17’000-14’000 Jahren. Da vermutlich der grösste Anteil dieser Hebung durch elastisches Verhalten der Kruste erklärt werden kann (Champagnac et al., 2009), würden diese drei Mechanismen nicht zu differentiellen Hebungen im Raum zwischen den Standortgebieten Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost führen.
Fazit der KNE
Da die Alpen neotektonische Bewegungen zwischen der apulischen und europäischen Platte erfahren und Hebungen während der letzten 30’000 Jahre im Juragebirge nachgewiesen und auf diese Bewegungen zurückgeführt wurden, ist auch im Bereich zwischen den Standortgebieten Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost mit tektonischen Bewegungen oder Versätzen zu rechnen. Diese stehen aber nur bedingt in Beziehung zu den geodätisch gemessenen Hebungsraten in den Alpen und im angrenzenden Vorland. Die möglichen neotektonischen Versatzraten entlang dieser Strukturen sind im Gebiet zwischen Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost so gering, dass sie mit den bisher verfügbaren Methoden und Messreihen nicht zuverlässig gemessen werden konnten. Möglicherweise ergeben neue hochauflösende LIDAR-Geländemodelle und GPS-Langzeitmessungen neue Hinweise auf neotektonische Bewegungen. Die Möglichkeit, dass die Standortgebiete Jura Ost, Nördlich Lägern sowie Zürich Nordost eine unterschiedliche Deformation und Hebung erfahren könnten, stellt aus Sicht der KNE zur Zeit kein relevantes Kriterium dar, um die Standortgebiete im Rahmen von Etappe 2 unterschiedlich zu bewerten.
b) Tektonik
Prinzipielles zur Seismik
Die 2D-Seismik liefert Informationen längs einzelner Profilschnitte. Die Unsicherheiten wachsen dabei mit zunehmendem Profilabstand, insbesondere was die Verknüpfung von Störungen von Profil zu Profil betrifft. Die 3D-Seismik dagegen liefert Informationen über einen Volumenbereich des Untergrundes, d.h. die einzelnen Strukturelemente werden zusammenhängend und dreidimensional abgebildet. Dies bedeutet eine höhere Sicherheit bei der strukturellen Interpretation.
Dennoch hat auch die 3D-Seismik Grenzen. Nicht fassbar sind z.B.:
- Sprunghöhen von weniger als 10 m,
- Schichten ohne grössere Impedanzkontraste (z.B. Kalkbänke innerhalb der Effinger Schichten),
- kleinräumige Inhomogenitäten (z.B. Kalk- und Sandsteinlagen innerhalb des Braunen Doggers),
- kompliziert gebaute, alpine Gebiete (z.B. der Wellenberg) sowie
- horizontale Störungen/Überschiebungen (z.B. flache Überschiebungen nördlich des Faltenjuras).
Der 3D-Seismik sind insbesondere in hügeligem Terrain und in dicht besiedelten oder stark bewaldeten Gebieten praktische Grenzen gesetzt, da die Geophon- und Schusslinien-Abstände für die vorliegende Problemstellung weniger als 200 m betragen sollten.
Stellungnahme der KNE zu den von der Nagra geplanten zusätzlichen Seismikuntersuchungen
Das HAA- und SMA-Standortgebiet Zürich Nordost ist für Etappe 2 SGT ausreichend untersucht (komplett abgedeckt mit 3D-Seismik).
Die für die HAA- und SMA-Standortgebiete Nördlich Lägern und Jura Ost geplante Verdichtung und Reprozessierung des bestehenden 2D-Netzes zur Einengung der mit 3D-Seismik anschliessend detailliert zu untersuchenden Gebiete ist sinnvoll und stufengerecht. Der Zeitpunkt der ergänzenden 3D-Seismik muss noch vereinbart werden (Ausführung in Etappe 2 oder 3?).
Im SMA-Standortgebiet Südranden wird die geplante Reprozessierung, zusammen mit ergänzenden strukturellen Felduntersuchungen, voraussichtlich für die Etappe 2 ausreichend adäquate Resultate liefern. Im generell tektonisch einfach gebauten Gebiet könnten aber durchaus, wie in der Region Siblingen nachgewiesen, Hinweise auf lokale, bisher nicht bekannte Querbrüche zum Vorschein kommen. Dies würde gegebenenfalls die Aufnahme zusätzlicher 2D-Linien bedingen. Zudem besteht noch eine erhebliche Unsicherheit bezüglich der effektiven Mächtigkeit des Opalinustons in diesem Gebiet.
Im SMA-Standortgebiet Jura-Südfuss fehlt es an seismischen Daten in der östlichen Fortsetzung der stark zerbrochenen Born-Engelberg-Antiklinale. Eine belastbare Aussage über die Fortsetzung und Ausgestaltung dieser Struktur ist deshalb nicht möglich. Hier ist eine zusätzliche 2D-Seismiklinie zwingend. Im Westteil sind zusätzliche regionale Störungen aufgrund der heute vorhandenen Daten nicht völlig ausschliessbar. Hier muss sich zeigen, ob die Reprozessierung der bestehenden Linien zu einer genügend belastbaren Aussage führt.
Beim Standortgebiet Wellenberg ist die Seismik erwiesenermassen nicht zielführend. Die Exploration muss hier neben Bohrungen auch auf Sondierstollen abgestützt werden. Bei den bereits abgeteuften 7 Sondierbohrungen gilt es zu beachten, dass lediglich die Bohrungen SB1 und SB3 einen grösseren, unterhalb der Auflockerungszone gelegenen Bereich des Wirtgesteins (Palfris-Formation/Viznau-Mergel) erfasst haben. Die KNE erachtet es bereits heute als offensichtlich, dass das Standortgebiet Wellenberg trotz einiger sehr positiver Eigenschaften deutlich weniger geeignet ist als die bevorzugten Standortgebiete in der Nordschweiz. Aufwändige tektonische Zusatzuntersuchungen scheinen deshalb wenig sinnvoll.
Stellungnahme der KNE zu weiteren, die Tektonik betreffenden Untersuchungen
Die Nagra plant neben den Seismikkampagnen noch weitere zusätzliche Feld- und Bürorecherchen, nämlich
- den Einbezug neuer Bohrdaten (z.B. Bohrung Schlattingen),
- die Bestimmung der Bruchhäufigkeit und -richtung mit den neusten Fernerkundungsmethoden (inkl. Beurteilung der Neotektonik),
- die Analyse der Gebirgsspannungsverhältnisse,
- kinematische Bilanzierungen sowie
- systematische strukturgeologische Detailaufnahmen in allen Standortgebieten.
Die KNE beurteilt diese neben der Seismik geplanten Zusatzuntersuchungen zur Tektonik als zielführend für Etappe 2, unter dem Vorbehalt, dass die noch bestehenden Wissenslücken damit auch tatsächlich ausreichend belastbar geschlossen werden können.
Referenzen
Amann F., Löw S. (2011): Stellungnahme zur Abklärung der Notwendigkeit ergänzender geologischer Untersuchungen in SGT Etappe 2 für die Beurteilung der Standsicherheit und Erschliessung der Lagerkammern (NTB 10-01: Bautechnische Aspekte), Expertenbericht ENSI 33/127, ETH Zürich, Ingenieurgeologie, Zürich
Diebold, P., Müller, W.H. (1985) Szenarien der geologischen Langzeitsicherheit: Risikoanalyse für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle in der Nordschweiz. Nagra, Wettingen. Nagra Technischer Bericht 84-26, 110 pp.
Calais, E. Nocquet, J.-M., Jouanne, F., Tardy, M. (2002) Current strain regime in the Western Alps from continous Global Positioning System measurements, 1996-2001. Geology 30, 651-654.
Champagnac, J-D., Schlunegger, F., Norton, K., von Blanckenburg, F., Abbühl, L.M., Schwab, M., (2009) Erosion-driven uplift of the modern Central Alps. Tectonophysics 474, 236-249.
Expertenbericht ENSI 33/127, ETH Zürich, Ingenieurgeologie, Zürich
Giamboni, M., Ustaszweski, K., Schmid, S.M., Schumacher, M.E., Wetzel, A. (2004) Plio-Pleistocene transpressional reactivation of Paleozoic and Paleogene structure in the Rhine-Bresse transform zone (northern Switzerland and eastern France). International Journal of Earth Sciences 93, 207-223.
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