„Die Daten reichen nicht für eine Einengung auf zwei Standorte“
Das ENSI hat den Vorschlag der Nagra zur Standortwahl für die Lagerung radioaktiver Abfälle abschliessend beurteilt und hält weiterhin an Nördlich Lägern fest. Auch die Expertengruppe Geologische Tiefenlagerung (EGT) hat die Dokumentation der Nagra zuhanden des ENSI geprüft. Simon Löw, Professor für Ingenieurgeologie am Geologischen Institut der ETH Zürich und Präsident der EGT, erläutert die Hintergründe der EGT-Stellungnahme.
Herr Löw, welche Aufgaben hat die EGT im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager (SGT)?
Simon Löw: Die Aufgaben der EGT sind im Konzeptteil des Sachplanverfahrens definiert und umfassen die Unterstützung des ENSI bei erdwissenschaftlichen und bautechnischen Fragen zur geologischen Tiefenlagerung. Die EGT verfasst Stellungnahmen zur geologischen Beurteilung der Standortgebiete, zur bautechnischen Machbarkeit von geologischen Tiefenlagern sowie zu Gesuchen für erdwissenschaftliche Untersuchungen. Sie arbeitet zudem im Technischen Forum Sicherheit mit.
Und wie hat die EGT die Beurteilungsarbeiten des ENSI unterstützt?
Die gesamte EGT hat sich im Rahmen von elf Zwischenhaltfachsitzungen, eines Fachsymposiums an der ETH Zürich, von drei Sitzungen zur Grobprüfung und zwölf Sitzungen zur Hauptprüfung intensiv mit den von der Nagra vorgelegten Unterlagen befasst. Zudem haben einzelne Mitglieder in verschiedenen Fachgruppen des ENSI zu spezifischen Themen der Etappe 2 mitgewirkt, unter anderem in einer Fachgruppe Bautechnik und einer Fachgruppe Seismik. Die unabhängige Stellungnahme der EGT ist eine wichtige Referenz für den Prüfbericht des ENSI.
Wie schätzt die EGT die Qualität der eingereichten Unterlagen der Nagra ein?
Die EGT erachtet den fachlichen Tiefgang und die fachliche Breite der von der Nagra für die Etappe 2 des SGT durchgeführten Untersuchungen als sehr gut. Die wissenschaftlichen Arbeiten der Nagra nehmen im weltweiten internationalen Vergleich mit anderen Standortauswahlverfahren und Entsorgungsprogrammen eine Topstellung ein. Die für die Etappe 2 neu erhobenen geologischen und hydrogeologischen Daten sind durchwegs von sehr hoher Qualität und für die Standorteinengung in der Etappe 2 des SGT geeignet. Wichtige Defizite erkennt die EGT in den für die Etappe 2 des SGT zur Verfügung stehenden felsmechanischen Datensätzen und der Überinterpretation der 2D-Seismik.
Worauf achtete die EGT bei ihrer Überprüfung am meisten?
Eine echte Überprüfung der Vorschläge der Nagra zu den einzelnen Etappen des Sachplanverfahrens bedarf einer Auseinandersetzung mit den Primärdaten und deren entsprechender Interpretation. Es genügt nicht, die Hauptberichte der Nagra, die für die Etappe 2 alleine schon 1700 Seiten umfassen, auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Zudem ist die Interaktion innerhalb der Expertengruppe zentral für die Qualität der Überprüfung, da die Materie des Sachplanverfahrens extrem komplex und interdisziplinär ist. Nur die intensive Diskussion innerhalb dieses Gremiums führt schliesslich dazu, dass die Schlüsselkriterien des jeweiligen Einengungsschrittes herausgearbeitet und abschliessend bewertet werden können.
Sind die vorliegenden Daten für die Standorteinengung in der Etappe 2 ausreichend?
Ja. Für eine Einengung auf drei Standortgebiete genügen die vorhandenen Daten, nicht aber für eine Einengung auf zwei Standortgebiete. Diese Beziehung konnte aber von uns erst im Laufe der Prüfarbeiten herausgearbeitet werden und war uns vorgängig nicht bewusst.
Fragen zu Erosion und zur Bautechnik wurden von der EGT besonders intensiv geprüft. Welche Schlussfolgerungen zieht die EGT?
Dies sind für uns die Schlüsselkriterien zur Bewertung der vorgeschlagenen Standorteinengung in der Etappe 2. Die Abgrenzung der Lagerperimeter der Nagra basierend auf Erosionskriterien ist für die EGT nachvollziehbar. Diese basieren auf plausiblen zukünftigen Hebungs- und Erosionsszenarien und allen während der Publikation der Nagra-Berichte zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Unterlagen. Auf der anderen Seite ist die Abgrenzung der Lagerperimeter basierend auf der maximalen Tiefenlage des SMA- und HAA-Lagers aus bautechnischer Sicht auch nach den Nachlieferungen der Nagra für die EGT nicht vollumfänglich nachvollziehbar. Die Auswirkungen grösserer Tiefenlagen ̶ grösser als 600 Meter für ein SMA- und grösser als 700 Meter für ein HAA-Lager ̶ auf das Gebirgsverhalten und die Langzeitsicherheit sind heute ungewiss. Dies lässt sich primär darauf zurückführen, dass heute nur sehr wenige belastbare Laborversuche zur Festigkeit des Opalinustons in den relevanten Tiefenlagen vorliegen.
Welche Schlussfolgerungen lassen die neuen seismischen Daten zu?
Die Akquisition der neuen seismischen Daten in den Jahren 2011/2012 erfolgte sehr sorgfältig und mit der notwendigen Qualitätskontrolle. Die Datenverarbeitung der alten und neuen seismischen Linien wurde mit Methoden durchgeführt, welche die Industriestandards deutlich übertreffen und dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen. Die Identifizierung tektonisch zu meidender Zonen und die Quantifizierung der Platzangebote in den verschiedenen Standortgebieten sind für die EGT aber wegen der relativ grossen seismischen Profilabstände nur eingeschränkt nachvollziehbar.
Die Nagra hat Nördlich Lägern unter anderem wegen der maximalen Tiefenlage zurückgestellt. Ist denn der Bau eines Lagers in einer grösseren Tiefe als 700 m unter Tage sicher machbar? Welche Herausforderungen ergeben sich aus bautechnischer Sicht?
Während die bautechnische Machbarkeit eines Tunnels in tonreichen Gesteinen wie dem Opalinuston selbst bei stark druckhaften Verhältnissen in tektonisch gestörten Zonen bis in Tiefenlagen von über 1000 Metern gegeben ist, müssen insbesondere die HAA-Lagerstollen unter viel anspruchsvolleren Anforderungen für viel längere Zeiträume erstellt werden. Die speziellen bautechnischen Herausforderungen liegen darin, mit Einschränkungen an Stützmitteln die grossen Strecken eines HAA Lagers effizient aufzufahren und gleichzeitig das Gebirge langfristig in seinen vorzüglichen Barriere-Eigenschaften nicht zu schädigen. Der Entwurf und Bau von sogenannten Zwischensiegeln und die Verfüllung der Hohlräume sind zudem heute im Detail noch ungeklärt.
Wo sieht die EGT Forschungsbedarf für die Arbeiten in der Etappe 3 des Sachplans?
Die Standortauswahl in der Etappe 3 beruht primär auf erdwissenschaftlichen Untersuchungen im weiteren Sinne, deren Methoden heute erprobt und bekannt sind. Der heute noch anstehende Vertiefungsbedarf betrifft in meinen Augen die Sicherheitsnachweise und die weitere Entwicklung der Lager- und Barrierenkonzepte.
Warum sind Fragen zu den lagerbedingten Einflüssen und zu den gekoppelten Prozessen im Nahfeld inklusive des von der Nagra vorgeschlagenen Gastransportsystems EGTS wichtig für die EGT?
Diese Fragen sind meist standortabhängig. Hier besteht noch Forschungsbedarf. Dies betrifft unter anderem ein Nachweis der Machbarkeit und Funktionstüchtigkeit des Gastransportsystems EGTS, Untersuchungen zum gekoppelten thermisch-hydraulisch-mechanischen Verhalten des Opalinustons inklusive den langfristigen Selbstabdichtungsprozessen, Untersuchungen zur Korrosion der technischen Barrieren, der Gasentwicklung und der geochemischen Entwicklung des Nahfeldes.
Welches sind aus der Sicht der EGT die grössten Herausforderungen in der Etappe 3 des SGT?
Ich denke, dass wir als EGT mit einer sehr grossen Menge neuer erdwissenschaftlicher Daten konfrontiert werden und uns gleichzeitig mit methodischen Fragen des Bewertungsverfahrens, der Lagerkonzepte und der Nahfeldprozesse auseinander setzen müssen.