Sicherheit ist kein Zustand, Sicherheit ist ein Prozess
Die öffentliche Meinung hat das Privileg, sich aufgrund aktueller Ereignisse in die eine oder andere Richtung bewegen zu dürfen. Im Zeitalter von Social Media bezeichnet man die kollektive Meinungsbildung auch als Schwarmverhalten.
Wir alle sind rund um die Uhr bei jedem Ereignis live dabei, egal wo auch immer dieses stattfindet. Weil wir auf dem Laufenden gehalten werden, erwartet man von uns, dass wir uns zu allem und jedem eine Meinung bilden. Sofort. Und werden damit Teil des Schwarms.
So war es auch beim Kernkraftwerksunfall von Fukushima vom 11. März: Wir sahen wie die Erde bebte, wir sahen, wie die Menschen Schutz unter Schreibtischen suchten, wir sahen, wie die Flutwelle das Festland überschwemmte, wir sahen die Explosionen, wir sahen den Rauch aufsteigen. Live.
Wir waren fassungslos und erschüttert. Und wir empfanden tiefes Mitgefühl mit den betroffenen Menschen.
Dieses schreckliche Erdbeben und dieser verheerende Tsunami haben bei uns allen tiefe Spuren hinterlassen, nämlich in der Frage, wie denn nun unser Verhältnis zur Kernkraft sei, nach dem Kernkraftwerksunfall von Fukushima.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) tragen in einer solch emotional aufgeladenen Stimmung eine besondere Verantwortung. Unsere Aufgabe ist nicht, die öffentliche Meinung in irgendeine Richtung zu beeinflussen.
Vielmehr besteht unsere Aufgabe darin, der interessierten Öffentlichkeit die Grundlagen, die Daten und das Wissen zur Verfügung zu stellen, damit der Einzelne in der Lage ist, die komplexen Zusammenhänge zu verstehen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Wir kommen dieser Aufgabe in aller Offenheit und Transparenz nach.
Unmittelbar nach den ersten Nachrichtenmeldungen aus Japan haben wir mit der Auswertung der Informationen begonnen. Wir haben diese Informationen aus allen erdenklichen Quellen zusammengesucht und auf ihre Plausibilität überprüft. Das ENSI ist aber auch Teil des internationalen Netzwerkes. Damit hat die Schweiz, gleich wie jedes andere Land, Zugang zu den für die Lagebeurteilung wichtigen Informationen.
Und nachdem der Bundesrat drei Tage nach dem Erdbeben in Japan das Bewilligungsverfahren für neue Kernkraftwerke gestoppt hat, hat die damit beauftragte Arbeitsgruppe eine neue Aufgabe zugewiesen bekommen: die Aufarbeitung von Fukushima.
Sicherheit ist kein Zustand, Sicherheit ist ein Prozess.
Aufgrund der frühen Erkenntnisse des Unfallverlaufs hat das ENSI als erste konkrete Massnahme am 18. März angeordnet, dass die Kraftwerksbetreiber ein zentrales Lager mit Dieselgeneratoren, Pumpen und mit weiteren Notfallausrüstungen anlegen müssen, um bei schweren Unfällen genügend Material aus einem sicheren Ort herbeischaffen zu können.
Als zweite Massnahmen haben wir die Schweizer Kernkraftwerksbetreiber aufgefordert, gestaffelt drei Nachweise einzureichen: Nachweis der Beherrschung des 10’000-jährlichen Hochwassers, Nachweis der Beherrschung des 10’000-jährlichen Erdbebens, Nachweis der Beherrschung der Kombination von Erdbeben und erdbebenbedingtem Versagen der Stauanlagen im Einflussbereich des KKW.
Dies sind keine Alibiübungen zur Beruhigung der öffentlichen Meinung. Sollten die Betreiber in den gesetzten Fristen nicht nachweisen können, dass bei diesen Naturkatastrophen ein Schadensfall mit einer Strahlenbelastung über dem Grenzwert ausgeschlossen werden kann, muss er seine Anlage vom Netz nehmen. Allfällige Nachrüstmassnahmen wären umzusetzen, während das Kernkraftwerk abgeschaltet ist.
Um es klar und deutlich zu sagen: Es besteht kein Ermessensspielraum noch werden Kompromisse gemacht. Weder die Politik noch irgendwelche Lobbyinggruppen können das ENSI in seinen Entscheiden beeinflussen. Es kann nicht genug betont werden, dass wir eine unabhängige Aufsichtsbehörde sind.
Als solche sind wir uns auch bewusst, dass die Sicherheit der Kernanlagen keine nur nationale Angelegenheit ist. Die Sicherheit der Kernanlagen ist ein internationales Thema und deshalb bringen wir uns in den einschlägigen internationalen Gremien ein. Wir stehen erst am Beginn eines aufwendigen Analyseprozesses.
Alle Länder müssen ein vitales Interesse daran haben, dass die IAEA Safety Standards, die den Regeln der Best Practice und dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik folgen, weltweite Gültigkeit haben und von den nationalen Aufsichtsbehörden durchgesetzt werden.
Ich habe deshalb anfangs Juni an einer OECD-Konferenz in Paris vorgeschlagen, das globale System für die nukleare Sicherheit zu stärken. Eine Massnahme wäre, die Tätigkeit der nationalen Aufsichtsbehörden durch einen Peer Review-Prozess zu kontrollieren.
Ab heute findet am Sitz der IAEA in Wien ein weiteres Ministertreffen statt, an dem auch die Schweiz teilnimmt. Wir werden unseren Standpunkt in aller Deutlichkeit vertreten.
Hans Wanner, Direktor ENSI