«Wir tragen eine grosse Verantwortung»
Im August 2019 vom ENSI-Rat gewählt, amtiert er seit dem 1. Juli 2020 als neuer Direktor des ENSI: Marc Kenzelmann. Im Interview spricht der 50-Jährige über seine neue Aufgabe bei der Aufsichtsbehörde.
Herr Kenzelmann, warum hat Sie die Stelle als neuer ENSI-Direktor gereizt?
Für jemand mit meinem beruflichen Werdegang und meinen Interessen schien mir das eine äusserst spannende Chance und auch eine logische Fortführung meiner beruflichen Laufbahn. Ich habe mich während der letzten Jahre stets mit Sicherheitsthemen und Risikomanagement beschäftigt – ob beim Labor Spiez oder beim Bundesamt für Energie BFE. Beim BFE fiel etwa die Aufsicht über Talsperren, Rohrleitungen für Gas und Erdöl, Safeguards oder über den Stilllegungs- und Entsorgungsfonds in meinen Bereich. Für das BFE vertrat ich die Schweizer Kernenergiepolitik international. Es gab also bereits im Vorfeld Berührungspunkte mit dem ENSI und den ENSI-Themen.
Die Schweiz hat den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Warum hat Sie das nicht abgeschreckt?
Die nukleare Aufsicht stellt gerade in dieser Situation des schrittweisen Ausstiegs aus der Kernenergie eine besonders spannende Herausforderung dar, welche ich mit viel Respekt und dem Bewusstsein einer grossen Verantwortung angegangen bin. Es wird noch viele Jahre eine Aufsicht über die Kernkraftwerke brauchen.
Wenn Leibstadt 2034 vom Netz geht, wovon zum Beispiel der Stilllegungs- und Entsorgungsfonds heute ausgeht, stehe ich kurz vor meiner Pensionierung. Und vielleicht laufen die Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt auch länger als 60 Jahre, vorausgesetzt die nötigen Investitionen werden gemacht, welche wir zum Erhalt und weiteren Ausbau der Sicherheit verlangen werden. Das heisst, es steht dem ENSI eine ganze Generation Aufsicht über den Betrieb der Kernkraftwerke bevor. Wir tragen damit eine grosse Verantwortung: Die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke muss bis zum letzten Betriebstag, unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, voll gewährleistet sein.
Das ENSI steht immer wieder in der Kritik. Haben Sie ein dickes Fell?
Das ENSI hat einen grossen Einfluss im Kernenergiebereich.
In der Praxis entscheidet das ENSI, wie lange Kernkraftwerke in der Schweiz
betrieben werden können. In einer solchen Situation ist Kritik, von welcher
Seite sie auch kommen mag, nicht ungewöhnlich. Um dieser Kritik zu begegnen ist
kein dickes Fell nötig, sondern Professionalität und Offenheit. Die
Sicherheitsbeurteilungen des ENSI sind komplex. Wir müssen die Sachverhalte so
darstellen, dass sie für die Öffentlichkeit und die Politik nachvollziehbar und
technisch dennoch korrekt sind.
Das ENSI hat einen klaren Gesetzesauftrag,
den wir mit Unabhängigkeit und Selbstständigkeit erfüllen.
Sie sind nun vier Monate ENSI-Direktor. Wie haben Sie das ENSI erlebt?
Ich kannte das ENSI ja bereits aus meiner früheren Tätigkeit und meine Erwartungen wurden voll bestätigt. Das ENSI ist eine hochprofessionelle Institution mit derzeit 153 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die auf die verschiedensten Gebiete spezialisiert sind. Mit ihrer Unterstützung habe ich mich in diesen ersten Monaten in die Fachthemen des ENSI eingearbeitet und die betrieblichen Prozesse kennengelernt. Es war eine intensive Zeit für mich. Aber jetzt kann ich sagen: Ich bin angekommen und ich bin am richtigen Ort.
Wie sehen Sie Ihre neue Rolle?
Als Direktor ist es nicht meine Aufgabe, den Fachexpertinnen und -experten zu erklären, wie sie beispielsweise Rohrleitungsberechnungen durchführen sollen. Der Direktor muss insbesondere die Rahmenbedingungen schaffen, damit die Spezialistinnen und Spezialisten ihre Fachaufgaben erfüllen können.
Ist das ENSI gerüstet für die kommenden Herausforderungen?
Ja. Das ENSI verfügt über die nötige Fachkompetenz, die Sicherheit der Schweizer Kernanlagen zu überwachen, die Stilllegung und den Rückbau zu beaufsichtigen und die Standortsuche nach einem geologischen Tiefenlager sicherheitstechnisch zu begleiten. Der Erhalt dieser Kompetenzen bei der Aufsichtsbehörde, aber auch in den Kernanlagen, ist eine wichtige Herausforderung. Es ist aber auch nötig, dass der nuklearen Thematik in der Forschung und universitären Bildung der Schweiz weiterhin die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Welche Themen stehen in naher Zukunft für Sie im Mittelpunkt?
Hauptfokus bleibt die Aufsicht über den Betrieb der Kernkraftwerke. Zunehmend wichtiger wird der Bereich Stilllegung und Rückbau. In Mühleberg sind diese Arbeiten ja bereits im Gang. Das ENSI steht aber auch schon mit der Axpo bezüglich der Vorbereitungen auf die Stilllegung des KKW Beznau im Gespräch.
Ein weiteres Zukunftsthema ist der Notfallschutz und die damit verbundenen Ängste der Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung. Hier braucht es viel Aufklärungsarbeit, wie die Aufarbeitung des Reaktorunfalls in Fukushima gezeigt hat. Und das ENSI ist gewillt, seinen Anteil dazu beizutragen.
Die Schweizer Bevölkerung kann auch in Zukunft darauf vertrauen, dass das ENSI seine Aufsichtsarbeit nicht nur vorschriftsgemäss, sondern auch mit Offenheit und Engagement ausführt. Dafür brauchen wir aber umgekehrt auch weiterhin das Vertrauen der Bevölkerung sowie die Unterstützung aus der Politik, der Bundesverwaltung und den kantonalen Behörden.